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25. April 2012
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Totem (Jessica Krummacher)
Totem (Jessica Krummacher)
Totem (Jessica Krummacher)
Totem (Jessica Krummacher)
Totem (Jessica Krummacher)
Totem (Jessica Krummacher)


Totem
(Jessica Krummacher)

Deutschland 2011, Buch, Schnitt: Jessica Krummacher, Kamera: Moritz Schultheiß, Björn Siepmann, mit Marina Frenk (Fiona Berlitz), Natja Brunckhorst (Claudia Bauer), Benno Ifland (Wolfgang Bauer), Alissa Wilms (Nicole), Cedric Koch (Jürgen), Fritz Fenne (Ulli), Dominik Buch (Schwimmlehrer), 86 Min., Kinostart: 26. April 2012

Totem - ein Film wie leichte Körperverletzung. Man stelle sich vor, man warte auf die U-Bahn, und irgend so ein Jeck in Trainingshose schubst einen an. Wahrscheinlich grummelt man sich je nach Größenverhältnis zwischen Anrempler und Gerempelten noch mehr oder weniger etwas in den Bart, doch was passiert, wenn danach noch eine Person - vielleicht eine alkoholkranke Baglady - einen anschubst, und fünf Minuten später vielleicht ein leicht zurückgebliebener 12jähriger? Irgendwann motzt man auf oder verlässt die U-Bahn. Und genau so fühlte ich mich im Kinosessel. Ich brachte einfach nicht die Energie auf, das Kino zu verlassen, dachte immer, dass es ja nicht mehr lange dauern kann, sich womöglich noch ein tieferer Sinn einstellt oder sich die Regisseurin irgendetwas dabei gedacht haben muss. Letzteres wird wahrscheinlich auch stimmen, aber ich bereue immer noch, dass ich nicht auf meine Instinkte gehört habe und das Weite gesucht habe, denn dass ich beim vierten und fünften Anrempler kein Nasenbluten bekommen habe, war nur ein glücklicher Zufall.

Dabei reicht schon die erste Szene des Films, um so manchen (insbesondere, wenn man nicht dafür bezahlt hat oder draußen das Wetter ganz angenehm war) aus dem Saal zu scheuchen ... eine dreckige Spüle mit vielen Fruchtfliegen!

In den größtenteils positiven Kritiken zum Film wird als besonders positiv herausgestellt: Die Einstellung der Regisseurin zur deutschen Filmförderung und ihre Entscheidung, sich nicht in ihr Werk hineinreden zu lassen und es auf Fernsehtauglichkeit zu trimmen - sondern es stattdessen im Alleingang zu finanzieren. Das ist natürlich bewundernswert, und Totem ist auch ein außergewöhnlicher Film, ein Film, den man so noch nicht zu sehen bekam. Aber ich weigere mich in diesem Fall, »Fernsehtauglichkeit« als das ultimativ Böse zu akzeptieren, und die Rebellion dagegen als heroisch und die Kunstform vorantreibend abzufeiern.

Denn auch, wenn ich bei Totem durchaus inszenatorisches Talent sehe - und einen nicht zu leugnenden Mut der Regisseurin: Ich kann einfach nicht unterschlagen, dass dieser Film eine Tortur war - und im Gegensatz zu anderen Kritikern finde ich es nicht per se begrüßenswert, »wie schön wirkungsvoll hässliches Kino sein kann«. Ich bin nicht sprachlos »im positiven Sinn«, sondern, wie eingangs beschrieben, fühle ich mich wie ein »Opfer« dieses Films, eine »Geisel«, ich habe das Kinoerlebnis wie eine Haftstrafe »abgesessen«. Das passiert auch bei vielen »fernsehtauglichen« Filmen (siehe etwa The Lucky One diese Woche), und oftmals ist das auch eine Form von Körperverletzung, aber Totem war einfach besonders schlimm. Schlimmer als ein Familienbesuch, schlimmer als ein Zahnarztbesuch, schlimmer als ein Besuch bei einer Familie, die aus Zahnärzten besteht. Und die sich ausschließlich von »Curry-King« ernährt und den ganzen Tag auf voller Lautstärke immer wieder dasselbe Lied von Modern Talking hört.

Und dadurch, dass man zwischendurch immer wieder die positiven Bemühungen der Regisseurin sieht, wird es fast noch schlimmer. Der Skorpion als allumfassendes Symbol, eingebracht in einer mysteriösen »Vision«. Die Wohnzimmerhölle mit Schäferhundskulptur, Kartoffelsalat und Beinahe-Vergewaltigung. Die hilflosen Bemühungen der Schauspieler, das menschliche Elend darzustellen. Die Babys, die, »wenn man sie bewegt«, fast so aussehen, als »würden sie sich selber bewegen«. Ratlosigkeit im Ehebett. »Junge Liebe« wie zwei Finger in der Speiseröhre. Die Mutter am anderen Ende des Handys und die unausweichliche Entsorgung dieses Handys. Eisenbahnbrücke und Autobahn als besonders deutsche Bilder für die Todessehnsucht, die zum deutschen Kino gehört wie die Verführung zum französischen. Leise Stimmen, die »Drecksschlampe« rufen. Eine Nachbarin, die draußen herumstolpert und spioniert. Streit um das Ferrari-T-Shirt. Der Schatten des Kamerateams auf dem Kinderwagen, später dann die Polizeikontrolle, die trotz allen Pfeifens auf »Fernsehtauglichkeit« aussieht wie aus einer Reality-TV-Doku.

Ich fühle mich außerstande, dieses Kinoerlebnis in Worte zu fassen. Was ich bisher so geschrieben habe, wirkt auf mich wie das Ergebnis einer Zwangsernährung mit Eierlikör. Seltsame Brocken in seltsamer Farbe und Konsistenz, die ich minutenlang ausspucke - doch der schlechte Geschmack will nicht verschwinden. Wer den Impuls dazu als große Filmkunst versteht, der sei herzlich eingeladen in diesen Film. Für mich war es der schlechteste Film des Jahres. Und auch wenn davon noch nicht einmal ein Drittel vorbei ist, hoffe ich inständig, dass Totem in dieser Hinsicht keine Konkurrenz mehr bekommen wird.