Kolumbien 2011, Intern. Titel: Karen cries on a bus, Buch: Gabriel Rojas Vera, Kamera: Manuel Castaneda, Schnitt: Carlos Fernando Cordero, Musik: Rafael Escandón, mit ngela Carrizosa Aparizio (Karen), Maria Angélica Sánchez (Patricia), Juan Manuel Díaz (Eduardo), 98 Min., Kinostart: 26. Juli 2012
Mein lieber Kollege Jochen Werner spöttelt immer, wenn ich mühsam versuche, etwas über einen Film zu schreiben, ohne dabei zu viel zu spoilern. Und in diesem Fall werde ich auch fast den ganzen Film nacherzählen, anders kann ich meine Begeisterung nicht in Worte fassen. Also: Wer den Film noch nicht gesehen hat, sollte sich auf mein Urteil verlassen, sofort ins Kino gehen (nicht über Los!), und dann danach weiterlesen.
»Karen weint in einem Bus«. Ein so simpler wie gelungener Titel. Und der Film beginnt auch mit einer Frau, die in einem Bus weint, wir nehmen (richtigerweise) an, dass es sich dabei um Karen handelt, und befinden uns bereits mitten in der Geschichte (die sich nicht immer in der Reihenfolge erschließt, wie ich sie nacherzähle).
Karen hat nach zehn Jahren Ehe ihren Mann verlassen. Es gab keinen richtigen Knackpunkt, eigentlich haben sie nie richtig zusammengepasst, und irgendwann hat sie dann ihren Mut zusammengenommen und ist gegangen. Die Geschichte ist universell, könnte ebenso im Ruhrgebiet oder in Australien spielen, in diesem Fall ist aber Kolumbien der Ort des Geschehens.
Mit dem wenigen Geld, das sie bei sich hat (womöglich hatte sie schon gespart, der Film ergeht sich nicht in Erklärungen und Flashbacks, sondern funktioniert wie beim Sozialrealismus der Dardenne-Brüdern, der Zuschauer ist der unmittelbare Begleiter des Protagonisten), klopft sie spätabends an ein heruntergekommenes Mietshaus, sie hat Angst vor einem Penner, der ganz in der Nähe den Müll durchsucht, die Vermieterin lässt sie erst hinein, als Karen anbietet, die ersten drei Monate im voraus zu bezahlen.
Nebenan wohnt Patricia, eine jüngere Friseuse, die ledig ist, es aber so angelegt hat, dass einige »Freunde« sie finanziell unterstützen – es wirkt also nach außen nicht so, aber im Grunde ist sie genauso abhängig von Männern, wie Karen es zehn Jahre in ihrer Ehe war. Karen hat nur das zusätzliche Problem, dass sie fast ohne Mittel neu anfangen will, sie auf Männerbekanntschaften weder aus ist noch sich im Dating-Business so auskennt wie Patricia. Zunächst sieht das Verhältnis zwischen den beiden Frauen nicht unbedingt wie der »Beginn einer wunderbaren Freundschaft« aus, aber die ähnliche Situation bringt Solidarität mit sich.
Anfänglich schildert der Film ziemlich nüchtern den fortschreitenden Abstieg Karens. Die neue, eigene Wohnung ist kalt, das Wasser im (geteilten) Bad ebenso (Gespräch mit der Vermieterin: »Es gibt kein warmes Wasser!« --- »Na, sowas.« --- »Und jetzt?!?« --- »Musst Du kalt duschen!«), aber nach einer Eingewöhnungsphase weiß sie sich sogar mit gelegentlichen Kakerlaken zu »arrangieren«. Die Jobsuche ist eine hoffnungslose Tortur (»Verkäuferin gesucht, zwischen 18 und 25«), nach und nach verschwinden die letzten Geldreserven, zum bloßen Überleben werden zuvor ausgeschlossen wirkende Lösungsansätze (Pfandleihe, klauen, betteln) plötzlich immer »attraktiver«.
Nebenbei erzählt der Film aber auch von den Telefonaten Karens mit ihrer Mutter (die aus einer anderen Generation stammende Frau kann nicht nachvollziehen, warum Karen ihre Ehe aufgibt, obwohl ihr Mann sie »nicht einmal« geschlagen hat), vom Versöhnungsversuch mit dem Gatten (er: »Ich bin ein Idiot, ich sage Sachen, die ich nicht meine, ich will mich entschuldigen«, Blumen und ein Abendessen, das ganze Programm, und am Frühstückstisch denkt er dann hinter seiner Zeitung sitzend offensichtlich, es sei alles wieder beim alten), vom Lernprozess beim gemeinsamen Ausgehen mit Patricia – und schließlich lernt Karen, die gerne liest und am liebsten in einer Buchhandlung oder Bibliothek arbeiten würde, einen Theaterautoren kennen. Dieser hat zwar eine leichte Gehbehinderung (sozusagen ein paar Kratzer im Lack), aber er ist aufmerksam, bedrängt Karen nicht, kurzum: er ist ein Hoffnungsschimmer, ein Ausweg aus den Problemen, die ihr über den Kopf wachsen – und verglichen mit dem Gatten durchaus eine Verbesserung, sowohl was die gemeinsame Liebe zur Literatur, als auch, was den Sex angeht (in einigen Szenen zu Beginn des Films wirkt Karen so, als gäbe es irgendein dunkles sexuelles Problem in ihrer Vergangenheit, aber nach der scheuen ersten Nacht mit dem Literaten scheint ihre Sexualität zu erwachen – nach zehn Jahren Eheroutine ist wahrscheinlich jeder sexuelle Neubeginn eine Offenbarung).
Unaufdringlich und wie nebenbei erzählt Karen llora en un bus noch einige kleine Geschichten. Von Sandra, einer »Kollegin« von Karens Gatten, einer aufgebrezelten Geschäftsfrau (hier gibt es ein sehr schönes Gespräch über Karens aktuelle Lektüre – die Bücher sind nicht immer subtil ausgewählt, aber sie vertiefen die Geschichte), von einem Job, den Karen »ergattern« kann, von Patricia und ihren Problemen, die trotz dauerhaft gutgelaunter Fassade auch immer mal wieder zum Vorschein kommen, vom Altern, von der Scham (bei der Begegnung mit einer alten Schulfreundin) und ein bisschen auch vom Alkohol.
Wer sich nicht für die Probleme des Films interessiert (wie Neil Young im Hollywood Reporter), dem fällt es nicht schwer, ihn in der Luft zu zerreißen, denn natürlich trifft man auf viele altbekannte Klischees. Doch wer mittendrin in den Versatzstücken das wahrlich meisterhafte Drehbuch entdeckt, den kann es mitreißen, wie es mir persönlich im Kino (bei 150-200 Filmen im Jahr) nur noch zwei, drei Mal im Jahr passiert.
Für jedes kleine Detail, an dem auch ich mich vielleicht festknabbern könnte, liefert der Film mindestens vier andere Details, die einfach verzücken. Am Ende steht Karen vor einer Entscheidung, und der ausschlaggebende kleine Moment, weshalb sie sich so und nicht anders entscheidet, mag aufgesetzt wirken. Er zeugt aber auch von – wie man es so schön nennt – »poetic justice«. Manchmal erinnerte mich der Film gar an den Neorealismus-Klassiker Ladri di biciclette, und die letzte Szene des Films gefiel mir genauso gut wie die erste – und das meiste zwischendrin.
Für mich bisher der beste Film des Jahres. Trotz Take Shelter, der auch schon kolossal war.