UK 2012, Buch: Alice Lowe, Steve Oram, Kamera: Laurie Rose, Schnitt: Robin Hill, Amy Jump, Ben Wheatley, Musik: Jim Williams, mit Alice Lowe (Tina), Steve Oram (Chris), Eileen Davis (Carol), Richard Glover (Martin), Monica Dolan (Janice), Jonathan Aris (Ian), Richard Lumsden (Rambler), Rachel Austin (Bride-To-Be), Tony Way (Crich Tourist), Smurf (Banjo), Ged (Poppy), 88 Min., Kinostart: 28. Februar 2013
Unter den drei großen Vorteilen des Filmkritikers gibt es einen, den man nicht mit Geld aufwiegen kann. Sich an Freigetränken zu laben und den Kinoeintritt in Zeilen zu begleichen (für die man im günstigeren Falle auch noch von anderer Stelle vergütet wird) ist angenehm. Aber Filme zu sehen, bevor man unnötig viel über sie weiß, dieses Glück wird normalen Zuschauern nur selten zuteil.
Im aktuellen Fall wird dem potentiellen Kinogänger bereits auf dem Plakat die vermeintlich wichtigste Information entgegengeschleudert: Mit den Synchronstimmen von Anke Engelke und Bjarne Mädel! Was zum Lachen also. Die eigentlichen Darsteller (die übrigens auch das Drehbuch schrieben und dafür mehrfach ausgezeichnet wurden) sind momentan noch recht unbekannt, ihre Namen sind somit für das auf Synchronfassungen gebürstete deutsche Breitenpublikum kaum erwähnenswert. Selten wurden Filmemacher so mit Füßen getreten, der einzig vergleichbare Fall, der mir einfällt, ist Senkichi Taniguchis Kokusai himitsu keisatsu: Kagi no kagi (1965), der als Woody Allens What's up, Tiger Lily? (1966) quasi komplett durch die Waschmaschine gejagt wurde – und die Expertenmeinungen sind hier eher auf der Seite der »Synchronfassung«.
Doch zurück zum Film und meiner eigentümlichen Erfahrung, ihn ohne Vorwissen zu rezipieren. Und an dieser Stelle der Hinweis, dass der Spoilergehalt des Textes langsam aber stetig ansteigen wird. Zunächst geht es um eine 34jährige Tochter und ihre Mutter, einen Pflegefall. Wie der Film mit einem autistisch anmutenden Geheule beginnt, da könnte man durchaus annehmen, dass es sich um ein Sozialdrama handelt – Großbritannien ist darin ja bewandert. Auch der Vorspann, bei dem – wie man erst nach und nach herausbekommt – eine Route zusammengestellt wird, die passend zum Titel Sehenswürdigkeiten aneinanderbindet, könnte lebensbejahender wirken, wenn die Stationen der Reise nicht Museen für Straßenbahnen und Bleistifte (!) wären. Die Mutter-Tochter-Beziehung steht unter keinem guten Stern (»You're not a friend, you're just a relative«), und das Humorpotential arbeitet sich langsam aber stetig in den Vordergrund.
Die 34jährige Tina (Alice Lowe) ist kein Mauerblümchen, sondern eher eine graue Maus. Zeit ihres Lebens lebte sie bei ihrer Mutter, pflegte diese in den letzten Jahren, und plötzlich sieht einen Hoffnungsschimmer am Horizont: Sie hat einen Freund, der sie zuhause besucht (»I always wanted someone in this bed«) und – noch besser – sie zu einem Wohnwagenurlaub einlädt, der Flucht aus ihrem schwer zu ertragenden Alltag. Nach anfänglichem Machtkampf mit der Mutter, die sich verlassen und hintergangen fühlt, ihrer Tochter gar Mordabsichten unterstellt, bricht Tina mit ihrem Chris (Steve Oram), auch keinem Hauptgewinn oder der Traum sämtlicher Schwiegermütter, auf. Und wenn im Straßenbahn-Museum ein ungehobelter Besucher achtlos die Verpackung seines Cornetto im fahrtüchtigen Exponat liegen lässt, hätten bei mir eigentlich alle Alarmglocken läuten müssen. Doch ich bildete mir ein, dass die Vorliebe für das auch in Deutschland zu erwerbende Waffeleis eine britische Marotte sei. Dass mir diese Eissorte vor allem in Filmen von Edgar Wright (Shaun of the Dead, Hot Fuzz) aufgefallen ist, realisierte ich erst, als dieser als Co-Produzent am Ende des Films genannt wurde.
Die Kombination einer sehr britischen Komödie mit nicht eben zurückhaltenden Splatter-Effekten findet in Sightseers eine weitere Instanz. Beim Umweltschwein, das mit Müll um sich wirft, gibt es noch eine Szene, die man als »Unfall« deuten könnte, doch der Film dreht die Schraube weiter und weiter.
Wenn Neid auf Urlaubsnachbarn zur Mordmotivation wird, dann löst der Film das mit einer Schnittkante zu aufgeschlagenen Eiern auf. Da muss man an Hanekes Funny Games denken, wo die Intensität der Gewalt ähnlich anstieg, aber vielleicht nicht jeder Zuschauer von einer Komödie als Genre gesprochen hätte. Der andere offensichtliche Vergleichsfilm ist Falling Down, wo man zunächst noch auf der Seite des Aggressors Michael Douglas steht (wir wollten ja alle mal »einfach nur Kleingeld« oder sind eine Winzigkeit zu spät zum Frühstücksangebot gekommen), aber zunehmend an der Verhältnismäßigkeit seiner Aktionen (bzw. schlichtweg seinem Geisteszustand) zweifelt. Durch die Paardynamik kommt hier auch noch ein Element des Misstrauens auf: »Did you screw Ian?« Gegenfrage: »Did you kill Ian?«
Dennoch leben die beiden (insbesondere Tina) richtig auf, und man gönnt es ihr auch, selbst, wenn sie sich wohl irgendwann zwischen der jungen Liebe und der drohenden Gefängnisstrafe entscheiden muss. Zunächst findet man auch Rechtfertigungen für die Missetaten (»He's not a person, Tina, he's a Daily Mail reader!«), die zwischen zynisch und ökologisch wertvoll schwanken (Mord ist »grün«, denn er reduziert Emissionen und ist somit für den »carbon foot print« von Vorteil), doch die Vorwürfe summieren sich und man fragt sich, ob ein Happy-End machbar ist (»I've killed more people in the last three days than in the six months of unemployment«)
Sightseers wird sicher nicht jedermanns Sache sein, aber mich sprach nicht nur der grobschlächtige Humor an, ich habe auch echte Momente von Romantik in dem Film gesehen – und wenn sie sich nur in der auch auf dem Soundtrack allgegenwärtigen Entscheidung zwischen Frankie goes to Hollywoods The Power of Love (»make love your goal«) oder Soft Cells Tainted Love ausdrückt. Ein zum Schreien komischer Film, bei dem es mich nicht wundern würde, wenn es demnächst ein US-Remake mit Amy Adams und Paul Giamatti geben sollte.
Ach ja: wenn möglich, im Original schauen. Wer Anke Engelke ach zu toll findet, kann sich den Film bei Gefallen danach ja noch mal in der Synchro anschauen und entscheiden, ob diese zur Güte des Films beiträgt. Allerdings dürfte man beim zweiten Mal wahrscheinlich auch lachen, falls der Ton ausfallen würde …