Kanada / Spanien / Japan 2011, Buch: Sarah Polley, Kamera: Luc Montpellier, Schnitt: Christopher Donaldson, Musik: Jonathan Goldsmith, Production Design: Matthew Davies, Art Direction: Aleks Marinkovich, mit Michelle Williams (Margot), Luke Kirby (Daniel), Seth Rogen (Lou), Sarah Silverman (Geraldine), Jennifer Podemski (Karen), Diane D'Aquila (Harriet), Vanessa Coelho (Tony), Graham Abbey (James), Damien Atkins (Aquafit Instructor), Aaron Abrams (Aaron), Dyan Bell (Dyan), Danielle Miller (Danielle), 116 Min., Kinostart: 7. März 2013
Als Schauspielerin hatte Sarah Polley bereits mit Mitte 20 mehr erreicht als viele Kolleginnen zehn Jahre später (insbesondere auch, wenn man die Verbundenheit mit ihrer kanadischen Heimat in Betracht zieht). Und dann lieferte sie 2006 ihr sehenswertes Regiedebüt Away from her ab, dem sie fünf Jahre später das thematisch (aber nicht atmosphärisch) verwandte Take this Waltz folgen ließ (dank Koolfilm jetzt auch außerhalb des Filmfest Hamburg auf deutschen Leinwänden).
In Away from her ging es um die Krise einer Ehe im Winter des Lebens, diesmal geht es eher um die Zeit nach dem Frühling. Die Flitterwochen sind lange vorbei, der fünfte Jahrestag steht bevor, da trifft Margot (Michelle Williams) auf einer Reise Daniel (Luke Kirby), mehr als ein kleiner Flirt wäre nie daraus geworden … wenn … die beiden nicht erfahren hätte, dass er seit neuestem ein Nachbar ist. Hinterhalt des Drehbuchs! Der Abschied nach der gemeinsamen Taxifahrt verläuft so:
Sie: »I'm married.«
Er: »That's too bad.«
Der Rest des Films dreht sich dann um speziell Margots Problem, denn die Ehe, die sie mit Lou (Seth Rogen) führt, ist durchaus liebevoll, aber dieses brandneue Knistern ist nach fünf Jahren natürlich verschwunden. Es gibt einige Zuschauer, die Probleme mit diesem Film haben, ihm sogar vorwerfen, er verherrliche Ehebruch, doch offensichtlich sind das Menschen, die in ihren Urteilen sehr festgefahren sind und nicht einmal mehr in der Lage, die Ambivalenz des Films als solches zu erkennen. Denn Ambivalenz und Metapher, das sind die zwei Worte, die für diesen Film stehen wie keine zwei anderen.
Sarah Polley dazu:
»There's a tremendous amount of ambiguity in the film. For people who left a stagnant relationship and it was the right decision for them, I hope they'll feel this film supports this. For those who have turned away from temptation, and stayed in a relationship, I hope this film will act as a confirmation that this was the right choice as well.«
»Trapped between the real and the possible«, so fasst Kritiker Andrew O'Hehir Margots Situation (und die des Films) zusammen, und auch wenn die Hoffnungen der Regisseurin nicht von allen Zuschauern erfüllt wurden, so bietet sie einem unvoreingenommenem Publikum wirklich das Nonplusultra an Ambivalenz, das jedem Betrachter selbst die Möglichkeit gibt, die Filmstory auf seine oder ihre eigene gegenwärtige, frühere oder zukünftige Situation abzubilden.
Hierbei unterstützt Sarah Polley ein Mittel, das sie mit solch traumwandlerischer Perfektion benutzt, dass der Film eigentlich immer besser wird, je länger man darüber nachdenkt: die Metapher (oder auch mal Analogie, wir wollen nicht kleinlich werden). Wenn man als Kritiker wie zu Beginn dieses Textes mal vom »Winter des Lebens« oder anderen gefällig übertragbaren Jahreszeiten schwafelt, denn wirkt das schnell klischeehaft. Sarah Polley beherrscht dies auf einer meisterlichen Ebene, und der Film wirkt dabei keinesfalls überladen (an dieser Stelle muss ich zugeben, dass die Lektüre dieser Kritik vor der Sichtung des Films wahrscheinlich subtile Metaphern in den Brennpunkt setzen wird, die viele Zuschauer sonst gar nicht beachtet oder reflektiert hätten. Anders gesagt: Dieser Text spoilert nicht, aber er könnte den Spaß am Film schmälern. Andererseits könnte es aber auch sein, dass jemand, der sich ohne »Gebrauchsanweisung« über den Film geärgert hat oder hätte, durch meine ausführliche Analyse sein Urteil noch mal revidiert hätte. Das ist so eine ähnliche Entscheidung wie im Zentrum des Films: Lese ich weiter oder schaue ich erst den Film? Hinterher weiß man mehr, kann die Entscheidung aber nicht zurücknehmen ...
Der Dreh- und Angelpunkt meiner ganz persönlichen Analyse des Films ist der Song Video killed the Radio Star von den Buggles, der in einer Schlüsselszene gespielt wird, und an dessen schmissigen Beat man sich einfach erfreuen kann, ohne darüber nachzudenken. Doch das Phänomen, dass etwas neues verlockender wirken kann als etwas vertrautes, bewährtes, begleitet die Menschheit seit langer Zeit. Als Trevor Horn diesen Song mit Unterstützung der damals gerade in Mode kommenden Promo-Möglichkeit »Videoclip« zum Hit machte, als MTV und Konsorten für ca. ein halbes Jahrzehnt die komplette Musikwirtschaft revolutionierten, da befürchtete man in der Tat, dass das Radio als Massenmedium bald obsolet sein könnte. Heutzutage besteht das Gnadenbrot von Musiksendern im Fernsehen von Reklamen für Klingeltöne und Apps, die Zukunft des Fernsehens selbst ist fraglich - und die Technologie »Video« im Sinne von VHS-Cassetten etc. ist ungleich »toter« als beispielsweise das Medium Radio, das durch Webradio und Podcast sogar neue Perspektiven für sich gewinnen konnte. Anhand dieser Metaphern könnte man bereits stundenlang über Beziehungen sprechen. Damals mit Rita, das war wie Betamax, da hätte man ahnen müssen, dass sich das nicht halten kann. Bernd ist wie Blu-Ray oder 3D. Oder ähnliches.
In Take this Waltz gibt es solche Diskussionen zu keinem Zeitpunkt. Der Song ist nur eines der Beispiele für einen möglichen Ansatz, jeder Zuschauer kann seinen oder ihren eigenen finden.
Aus der Sicht von Lou, so sein Darsteller Seth Rogen, ist Take this Waltz ein Film über einen Typen, der ein Hühnchen-Kochbuch schreibt, ehe er dann herausfindet, dass seine Frau ihn betrügt. Auch das Hühnchen in all seinen Variationen ist eine Metapher. »It's good, but it's not the most exciting thing in the world.« Im Presseheft (von der Textzusammenstellung her das großartigste Presseheft, das ich je gesehen habe) umschreibt man diese Situation auch mit einem Zitat von Blanche DuBois aus Endstation Sehnsucht / A Streetcar named Desire: »I don't want realism... I want magic!«. Diesen Vorsatz nimmt sich der Film auch bei seiner visuellen Umsetzung, die wieder zur Jahreszeiten-Metapher zurückführt. Sarah Polley verherrlicht nicht den Ehebruch, sie romantisiert aber ihre Heimatstadt Toronto, die hier im Sommer mit einer herrlichen Farbenpracht aufwartet. Sonnenlicht durchflutet Fenster, es öffnen sich Fluchtwege in Räume, die wie Gefängnisse wirken können. Sarah Polley: »From Margot and Daniel's point of view, it's very very hard to turn away from falling in love and very few people can do it.«
Das Hinterhältige (und ambivalente) des Films ist es, dass die Treue als Möglichkeit nie verworfen wird, dass Margots Entscheidung zwischen Lou aka Radio und Daniel aka Video nicht bewertet wird, der Film dreht sich mehr um die Möglichkeiten, die »Formate«. Eine der Szenen, die für viele Zuschauer verwirrend wirken mag, kann man auch als Ansatzpunkt dieser Diskussion werten. Nach dem Aquafit-Training sieht man diverse Frauen unterschiedlichster Ausprägung in der Dusche / Umkleide, inkl. full frontal nudity, deren Notwendigkeit sich nicht sofort erschließen muss. Auch diese Szene zeigt Möglichkeiten, Frauenkörper, die sich in Würde zeigen. Die Gepflogenheit mancher Personen, den Partner wie ein Auto zu betrachten, wobei man sich alle paar Jahre ein neues »Modell« organisieren muss (oder kann oder will), ist nur eine weitere Art, sich tendentiell wieder mit dem selben Thema zu beschäftigen. Und wie bei der Vinylscheibe gibt es auch bei Autos »Golden Oldies«, an die man sich noch erinnern wird, wenn das Modell von 2011 bereits im Folgejahr vergessen war.
Eine weitere sperrig wirkende Facette des Films ist Sarah Silverman als Lous Schwester Geraldine, die ein komplett anderes Problem hat, nämlich Alkoholismus. Doch auch dies kann man als Analogie zu Liebesbeziehungen sehen. Silverman: »The state of needing, wanting and won't survive unless you have it is something that an addict is very familiar with.« In diesem Fall wirkt es natürlich ganz so, als würde die Verlockung negativ gewertet, doch sein Leben lang trocken oder clean bleiben und immer darunter leiden kann für manchen auch wie die falsche Wahl wirken. Michelle Williams hat hierzu noch einen schönen Spruch parat: »Contentment can be as deceptive as desire«.
Ich könnte noch ewig über diesen Film schwärmen. Die Szene zu Beginn, wo Margot spielerisch einen Ehebrecher »auspeitschen« soll (vielleicht der gröbste Pinselstrich in Polleys filigranem Drehbuch), die Taxifahrt im Vergleich zu den Szenen im Ehebett, Lous Langzeit-Witz, die fast fassbare Hitze des Films, wobei die ehelichen Küchenszenen hier gegen den Strom der Interpretationsansätze schwimmen, die Art und Weise wie Daniels Tätigkeit als Maler eingebaut wird, die Rickshaw-Fahrten, die Martini-Szene, die Leuchtturm-Idee (mit Polley'scher Zurückhaltung), die kleinen Probleme zwischen Lou und Margot, die Montagesequenz, die in die Zukunft blickt, das Ende der Karusselfahrt und die Melonenlöffel, mit denen man sich die Augen ausstechen möchte.