Anzeige:
Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




Februar 2007
 

Cinemania 39:
Dire (A)ctors [Berlinale 2007, Teil I]

Alfred Hitchcock wurde immer nachgesagt, er hätte behauptet, daß Schauspieler Vieh seien, aber er meinte nur, daß man sie so behandeln solle. Auf der Berlinale 2007 laufen auffallend viele Filme, bei denen Personen Regie führen, die man eigentlich als Schauspieler kennt, beispielsweise im Wettbewerb die neuen Regiearbeiten von Clint Eastwood oder Robert De Niro. “Gräßlich” (die deutsche Übersetzung von “Dire”) sind davon die wenigsten (in welcher Funktion auch immer), aber das Wortspiel gefiel mir so gut. Man beachte auch Nachmittag von Angela Schanelec in Cinemania 41! …


Cinemania-Logo
Cinemania 39:
Dire (A)ctors
[Berlinale 2007 Teil I]

[Rezensionen von Thomas Vorwerk,
bis auf Summer Rain (Kathi Hetzinger)]

Berlinale 2007

An ihrer Seite / Away from Her
(Sarah Polley, Panorama)

Kanada 2006, Buch: Sarah Polley, Lit. Vorlage: Alice Munro, Kamera: Luc Montpellier, Schnitt: David Wharnsby, Musik: Jonathan Goldsmith, mit Gordon Pinsent (Grant), Julie Christie (Fiona), Olympia Dukakis (Marian), Michael Murphy (Aubrey), Kristen Thomson (Nurse Kristy), Wendy Crewson (Madeleine), Alberta Watson (Dr. Fischer), Thomas Hauff (William Hart), 110 Min.

Nach mehreren immer länger werdenden Kurzfilmen hat sich Sarah Polley (The Sweet Hereafter, Dawn of the Dead, The Secret Life of Words) nun an ihr Langfilmregiedebüt gewagt, zu dem sie das Drehbuch nach Alice Munros Kurzgeschichte The Bear came over the Mountain ebenfalls eigenhändig verfasste.
“I never wanted to be away from her. She had a spark of life.” So fasst Grant (Gordon Pinsent) die Liebe zu seiner Frau Fiona (Julie Christie) zusammen. In zwei parallel geschnittenen Handlungsträngen, die ähnlich wie in Memento (wenn hier auch aus anderen Gründen) die Spannung erhöhen, beobachten wir, wie Grant nach “Paris, Ontario” (wahrscheinlich gibt es in der Uckermark auch ein Paris) fährt, um Marian (Olympia Dukakis) zu treffen, von der er nur die Adresse hat. Inwieweit diese etwas mit seiner Ehe zu tun hat, werde ich an dieser Stelle nicht ausplaudern, wir erleben Grant und Fiona in einer glücklichsten Phasen ihrer Ehe. Nach 43 Jahren sind die anfänglichen Turbulenzen (die anhand der sandalengekleideten Füsse von Grants ehemaligen Studentinnen und einer gewissen Veronica nur mal angedeutet werden) inzwischen vergeben, die beiden verleben ihre Zeit in einem Haus inmitten eines Skilanglaufsgebiet voller menschlicher Wärme, nicht versiegendem Intellekt und Humor. Hin und wieder hat Fiona allerdings kleine Aussetzer. Sie verstaut die Bratpfanne im Kühlschrank, kann sich bei einem Abendessen mit Freunden nicht an das Wort Wein erinnern oder muß nach einem Skiausflug irgendwo eingesammelt werden. Gegen Grants Einwände wird entschieden, Fiona in ein darauf spezialisiertes Institut einzuweisen, bevor die Symptome ihrer Alzheimer-Erkrankung zu stark werden. Hierbei muss noch darauf hingewiesen werden, daß Fiona trotz allem extrem helle bleibt. Als sie etwa bei einem Arztbesuch einen Fragenkatalog bearbeiten soll, antwortet sie auf das Szenario, was sie machen würde, wenn in einem Lichtspielhaus ein Feuer ausbrechen würde: “We don’t go to movies much anymore. All those multiplexes playing American garbage.”
Nach einer Führung durch “Meadowlake” ist Grant noch entschiedener dagegen, seine Frau dort “abzustellen”, zur unumgänglichen Praxis des Hauses gehört es nämlich, daß die Patienten in den ersten 30 Tagen keinerlei Besuch empfangen dürfen. Danach haben sie sich eingelebt und seien “happy as clams” (clams sind kleine Muscheln, die Doppeldeutigkeit dieser Phrase lässt sich nur schwer ins Deutsche übertragen).
Während wir langsam einen Begriff dafür bekommen, was Marian mit der ganzen Geschichte zu tun hat, bewegt sich alles auf den Moment hin, an dem Grant nach 30 Tagen erstmals seine Frau wiedersehen darf. Und was danach passiert, zeichnet diesen unvorhersehbaren Film aus, stellt ihn teilweise auf eine Stufe von Scorseses The Age of Innocence - mit Julie Christie in der Rolle von Winona Ryder.
“There’s something delicious about oblivion”. Die vor kurzem 28 gewordene Regisseurin Polley scheint eine Faszination mit der Schönheit des Alters, mit Falten und “Aufenthaltsräumen” zu haben. Und diese überträgt sich auch auf den Zuschauer. Als Flashbacks eingeschobene grobkörnige Reminiszenzen an Grant und Fionas Jugend (ich gebrauche diesen Begriff in einem weiteren Sinne) oder eine (großartige!) Begegnung Grants mit einer jungen Meadowlake-Besucherin betonen nur die Serenity (wie war noch das deutsche Wort dafür? Man wird auch nicht jünger …) der Auden-Passagen, die Grant Fiona vorliest, der eingespielten Handgriffe, der kleinen Streitereien, die Grant jetzt vermissen wird.
Als true Canadian spielt Polley bei einem zentralen Tanz zwischen Grant und Fiona Neil Youngs Harvest Moon (ein “Alterswerk”, das inzwischen auch schon 15 Jahre auf dem Buckel hat) und beim Abspann singt k. d. lang einen weiteren Song von Young, Helpless. Dieses Detail reißt sogar wieder raus, daß im ersten Sechstel des Films eindeutig zuviel “Hintergrundmusik” eingespielt wird, doch aus inszenatorischer Sicht macht sogar dies Sinn.
Away from Her ist voller kleiner Details, die geradezu genial sind. Da gibt es etwa zum Auden-Zitat “Let me push away the images of history” Fernsehbilder von Kriegsschauplätzen und Fiona sagt dazu “How could they forget Vietnam?”. Dann das fast asthmatische Atmen der alten Leute, das mit seinem unüberhörbaren Rhythmus sozusagen den Platz der Filmmusik einnimmt. Dann die Szene mit dem Meadowlake-Patienten, der früher mal Sportkommentator war, und als er an Grant vorbeigeht, zeilsicher feststellt: “And there’s a man with a broken heart. Broken into a thousand pieces.” Der Gefühlsausbruch einer anderen Patientin: “She’s not here, she’s sick [usw.]”. Schwester Kristy (“Just between us - I think it’s easier on the staff.”) undsoweiter undsoweiter.
Ich liebe es, Sarah Polley auf der Leinwand zu sehen. Aber wenn sie als Regisseurin mit ihren nächsten Arbeiten ein so hohes Niveau halten kann, verzichte ich gerne darauf und weiß sie lieber hinter der Kamera.

Interview (Steve Buscemi, Panorama)

USA 2007, Buch: Steve Buscemi, David Schechter, Vorlage: Theodor Holman, Kamera: Thomas Kist, Schnitt: Kate Williams, mit Steve Buscemi (Pierre Peders), Sienna Miller (Katya), David Schechter (Donald, Maitre'd), Tara Elders (Maggie), Jackson Loo (Theo, Fan in Restaurant), Katja Schuurmann (Frau in Limousine), James Franco (Freund am Telefon), 83 Min.

Interview ist das Remakes eines Films von Theo van Gogh, eines Ururgroßenkels des bekannten Malers, der 2004 von einem muslemischen Extremisten ermordet wurde. Inwiefern Theo irgendein Märtyrer war, oder das Ganze nur ein tragisches Missgeschick, ist für diesen Film eigentlich ohne Tragweite, für seine Biographie ist es aber definitiv eindrucksvoll, und wahrscheinlich wird es sich kein Journalist nehmen lassen, dieses “juicy” Detail zu erwähnen.
Der ganze Film ist eine Art Katz- und Mausspiel zwischen dem politischen Journalisten Pierre Peders (Steve Buscemi) und dem jungen Starlet Katya (Sienna Miller), mit der er ein Interview halten soll. Peders ist ziemlich angepisst, weil in Washington gerade irgendein Skandal abläuft, und er abgeordert wurde, sich mit einem talentlosen Blondchen abzugeben, das in irgendwelchen Slasher-Movies mitspielte, und ihren Bekanntheitsgrad eher ihrer varierenden Brustgröße und dem jeweiligen boyfriend zu verdanken hat. Angesichts der Unwichtigkeit dieses Auftrags verschwendet er nicht einmal seine Zeit mit irgendwelchen Recherchen zur Person, hätte aber sicher die gute Stunde, die er auf das verzogene Gör in irgendeinem hippen Restaurant warten muss, darauf verwenden können. Aufgrund der gegenseitigen Geringschätzung endet das Interview recht schnell: “It’s been very nice wasting time with you, Peter Peters” - “You too, Cuntya.” Da der Film zu diesem Zeitpunkt aber erst eine gute Viertelstunde alt ist, landen die beiden unter widrigen Umständen in Katyas geräumigen Loft und das Interview geht weiter.
Vor vier Jahren, im selben Jahr, als das Original von Interview entstand, gab es im Panorama-Programm auch ein Kammerspiel um eine Frau und einen Mann in einem Loft, doch obwohl “Devot” als Psycho-Thriller deklariert war, in dem es um Leben und Tod ging, ist Interview zu jedem Zeitpunkt etwa viermal spannender, siebenmal interessanter, und nicht selten tausendmal witziger. Die beiden Figuren schenken sich lange Zeit nichts (“What would be the point in telling me I’m beautiful if you don’t want to fuck me?” --- “I don’t fuck celebrities.” --- “I don’t fuck nobodies”), stellen aber mit der Zeit fest, daß es mehr Verbindungen zwischen ihnen gibt, als ihnen wahrscheinlich lieb wäre. Kleine Details wie Katyas Handy-Klingelton oder die mit journalistischem Spürsinn (und fehlendem Ethikverständnis) auf ihrem Computer entdeckten Tagebucheinträge halten sowohl die Spannung als auch den Humor auf einem hohen Niveau, doch irgendwann stellt sich beim Betrachter auch eine Verbundenheit mit den Figuren her, die einen gelungenen Film auszeichnet.
Steve Buscemi, von dem ich als Regisseur immerhin seinen ersten Film Trees Lounge kenne (und es kann ja nun auch wirklich niemand von mir verlangen, daß ich für irgendsoeine Filmkritik extra ins Videodrom renne und mir alle seine früheren Filme plus das holländische Original anschaue) und schätze, hat den Film nicht nur mit einer Widmung “For Theo” abgeschlossen, sondern auch einen Autogrammjäger namens Theo eingebaut, auf einem Truck (der im Original wohl nicht vorkommt, aber aus einem damaligen Drehereignis entstand) fett die Aufschrift “van Gogh” untergebracht, und der ursprünglichen Katja sogar eine kleine Rolle im Film verschafft. Co-Autor David Schechter hat sich ebenfalls nicht lumpen lassen, spielt einen angenehm klischeebeladenen Kellner und hat sich als “Danny Schechter” sogar noch einen filmischen Platzhalter eingebaut. Diese Liebe zum Detail durchdringt den Film, und ungeachtet meiner nachlässigen Arbeitsethik werde ich mir das Original vielleicht doch mal anschauen. Und wenn ich das nächste Mal über einen Film mit Sienna Miller (mir fällt nur Casanova ein, den ich aber nicht gesehen habe) stolpere, gebe ich der vielleicht auch eine Chance. Man weiß ja nie, welche Abgründe sich hinter solchen Hollywood-Flittchen auftun …

2 Days in Paris (Julie Delpy, Panorama)

Originaltitel: Deux jours à Paris, Frankreich / Deutschland 2007, Buch, Schnitt: Julie Delpy, Kamera: Lubomir Bakchev, mit Julie Delpy (Marion), Adam Goldberg (Jack), Albert Delpy (Jeannot), Aleksia Landeau (Rose), Adan Jodorowsky (Mathieu), Alexandre Nahon (Manu), Daniel Brühl (Lukas), Ludovic Berthillot (rassistischer Taxifahrer), 90 Min.

Wenn man sich daran erinnert, daß Julie Delpy auch am Drehbuch von Before Sunset beteiligt war, könnte man schnell darauf kommen, daß diese Geschichte eines Paares, das für zwei Tage in Paris ist, nochmal dieselbe Vorgabe abarbeitet, aber schon nach wenigen Minuten merkt man, daß die junge Regisseurin ganz andere Ziele verfolgt. Zum einen merkt man insbesondere dem Vorspann, der mit einem Off-Kommentar der Regisseurin (in character) unterlegt ist, an, daß Julie Delpy auch den Schnitt bei diesem Film übernommen hat. Passend zu irgendwelchen Kommentaren wird ein passendes Bild eingeschnitten, was nicht gerade innovativ ist, aber trotzdem irgendwie erfrischend (und glücklicherweise reizt sie dieses Stilmittel auch nicht solange aus, bis es völlig langweilig geworden ist).
Meine zweite Einsicht beim Schauen des Films war es, daß Julie Delpy vielleicht Woody Allen nacheifern will. Dieser Eindruck kam vor allem durch ihre Hornbrille und den männlichen Hauptdarsteller. Adam Goldberg steht einerseits für jüdischen Witz (The Hebrew Hammer), agiert aber im Film wie ein Doppelgänger von Tony Roberts, der in der zweiten Hälfte der 1970er immer der Mann an der Seite von Woody war (Etwa jener Managertyp, der in Play it again, Sam überall seine aktuelle Telefonnummer durchgeben musste, oder Woodys bester Freund in Annie Hall, mit dem er sich über versteckten Antisemitismus von Plattenverkäufern unterhalten konnte).
Teilweise ist der Witz von Deux jours à Paris durchaus eines Woody Allen würdig, und die Eifersucht des nebenbei auch noch hypochondrisch veranlagten Jack (Adam Goldberg) wirkt genuaso neurotisch wie die kleinen Ticks von Woody, doch in der Wahl ihrer inszenatorischen Mittel fehlt Julie Delpy noch jene Subtilität, die Woody auszeichnet. So wird etwa der nächste Eifersuchtsanfall (bzw. der nächste Eifersuchtsgrund) immer wieder durch dasselbe musikalische Thema angekündigt, was zunächst als running gag auch sehr witzig wirkt, irgendwann aber auch ermüdet.
Genug zu Lachen gibt es in dem Film allemal. Die Vorstellung von Jack bei Marions Eltern wird durch die Sprachbarriere zu einer Meet the Parents-Variation, die anstößig und politisch unkorrekt (also witzig) ist. Es gibt hier sogar auch eine Familienkatze, die in vielen Szenen wie unter Drogen stehend erscheint (schon für diese Katze lohnt es sich, den Film anzuschauen).
Irgendwann stellt Jack fest “I’m not in Paris, I’m in hell”, und der Zuschauer kann dies gut nachvollziehen, denn der Schwiegervater ist ein notgeiler Hobbysachbeschädiger, der ihn auf irgendwelche Ausstellungseröffnungen zerrt, die einem den Anschein geben, in Frankreich müsse man mehrere Jahre als Gynäkologe gearbeitet haben, um auf der Kunstszene ernstgenommen zu werden. Während Jack und Marions Liebesleben durch winzige Kondome oder die immer mal wieder unangekündigte Schwiegermutter auf eine Probe gestellt wird, scheint jedes zweite zufällige Treffen auf der Strasse einen früheren Sexualpartner seines Flittchen von einer Freundin zu offenbaren, und spätestens, wenn Jack mithilfe eines Lexikons einige von Marions aktuell empfangenen SMS “entschlüsselt”, lässt sich der Eindruck kaum vermeiden, daß da immer noch einiges läuft. “In France having a little anal sex on the side is like going fishing or playing scrabble.”
Deux jours à Paris ist sicher kein Meisterwerk, aber wahrscheinlich einer der unterhaltsamsten und witzigsten Filme der Berlinale, und gerade für Zuschauer, die auch mal drei Filme am Tag schauen, ist dies ein extrem wichtiges Auswahlkriterium.

Ichijiku no kao (Kaori Momoi, Forum)

Int. Titel: Faces of a Fig Tree, Buch: Kaori Momoi, Kamera: Shinji Kugimiya, Schnitt: Tomoyo Oshima, Musik: Gilad Benamram, mit Kaori Momoi (Maasa, die Mutter), Hanako Yamada (Yume, die Tochter), Saburo Ishikura (Vater), Katsumi Takahashi (zweiter Mann), Hiroyuki (Oto, der Sohn), Ryo Iwamatsu, Ken Mitsuishi, Makiko Watanabe, 94 Min.

Kaori Momoi spielte schon für Kurosawa (Kagemusha) und Miike (Izo), aber in den letzten Jahren wurde sie auch in internationalen Produktionen wie Alexander Sukorovs Solntse oder Rob Marshalls Memoirs of a Geisha gecastet - und im Rahmen der Berlinale (Panorama Special) kann man sie in Yoji Yamadas dritten Teil seiner Samurai-Trilogie, Love and Honour, sehen.
In den Pressematerialien wird besonders herausgestellt, wie preisgekrönt der Kameramann, Ausleuchter, und Productiondesigner des Films sind, und man muß dem Film auch attestieren, daß er nicht nur in den Bauten und anderen Details (grüne Flaschen) auffallend bunt und das Auge in Bewegung haltend ist, sondern insbesondere die Kameraführung teilweise abenteuerlich ist. So sieht man etwa ein Fondueessen der vierköpfigen Familie zunächst von oben, ehe die Kamera immer direkt vor einen der Protagonisten plaziert wurde, was weniger ein Gefühl der Intimität, des “Nahe-dabei-seins” vermittelt als vor allem surreal zu wirken.
Auch wenn in diesem Film viel gegessen (süßer Tintenfisch mit Kartoffeln) und getrunken (Bier) wird, erinnert diese Familiengeschichte weniger an Altmeister Ozu als an die Klimbim-Familie. Oder deren japanisches Äquivalent. Die Geschichte wirkt wohl deshalb so episodisch und uneinheitlich, weil als Vorlage ein Fortsetzungsroman und vier Kurzgeschichten verarbeitet wurden, für den uneingeweihten Betrachter wirkt vieles aber wie die Auftritte von Gastdarstellern, die dann plötzlich auch wieder verschwinden. So glänzt der Sohn der Familie vor allem durch Abwesenheit, während der Vater zunächst des Nachts einen seltsam halblegalen Job ausführt (die Reparatur eines früheren Baupfuschs seiner Firma, wobei das Röhrenlabyrinth, an dem der Alte sich abrackert, eher an eine Skulptur oder Installation gemahnt als eine Warmwasserleitung oder was auch immer), wofür er in einer leeren Wohnung schläft, der gegenüber eine junge Frau bevorzugt leichtbekleidet auf dem Balkon sitzt (keine Angst, keine Ingrid Steeger-Rolle, alles sehr diskret). Bevor sich daraus aber irgendeine Romanze o. ä. entwickeln kann, kehrt der Vater nach Hause zurück - und ist plötzlich tot.
Plötzlich ist hier das Stichwort. Plötzlich lebt die Mutter bei der Tochter. Plötzlich haben beide neue Männer. Plötzlich hat die Tochter ein Kind. Es wirkt halt alles irgendwie so, als wenn jemand aus drei Jahren Klimbim einen anderthalbstündigen Film zusammengeschnitten hat, und beispielsweise Peer Augustinski auch noch die Rechte an seinen Aufnahmen verweigert hat. Man ist ja von japanischen Filmen seltsame Andeutungen und Symbolismen gewohnt, aber nach der durchaus vielversprechenden ersten Hälfte des Films bricht hier plötzlich alles auseinander und auch die interessanteren Inszenierungsideen haben es schwer, den Betrachter bei der Stange zu halten.
Eine der absurdesten ist etwa ein Streitgespräch zwischen zwei CGI-animierten Ameisen über den Gebrauch von Schimpfwörtern, aber von wohl größerer Bedeutung ist der immer wieder prominent ins Bild gebachte Feigenbaum im Garten, der teilweise wie das fünfte Familienmitglied wirkt.
Viele Ansätze des Films sind durchaus vielversprechend, etwa die Momente, wo die Darstellerin der Tochter von einem kleinen Mädchen abgelöst wird und man sich plötzlich in einer Kindheitserinnerung wiederfindet (das wird bis zum Nachspann durchgezogen, wo die kleine Tochter dann plötzlich mit beiden Männern ihrer Mutter am Mittagstisch sitzt und zu guter Letzt sogar noch die ganze Inszenierungsebene durchbrochen wird). Ebenso rätselhaft, aber dennoch vielversprechend: bei der zuvor geschilderten Fondueszene sieht man den Vater, hinter ihm einen dauerlaufenden Fernseher, in dem plötzlich in einer Nachrichten-Sendung eine 911-ähnliche Wolkenkratzer-Explosion stattfindet. Der Vater erbittet sich, daß die anderen Familienmitglieder kurz verschweigen mögen, damit er diese wichtige Nachricht sehen mag - so, wie man es hier aus unzähligen Wohnzimmern kennen mag - doch der Haken an der Sache ist, daß durch die Kameraeinstellung mehr als eindeutig ist, daß der Vater den Fernseher gar nicht sehen kann. Nun ist es ohne reaction shot natürlich fast unmöglich, gleichzeitig einen Fernseher mit dem ausgestrahlten Bild, und die Reaktion des Zuschauers detailiert zu zeigen, aber wie so vieles in diesem Film ist die inszenatorische Lösung zunächst einmal verwirrend. Und in diesem Film verwirrt so vieles, daß das Verstehen jener Dinge, die nicht verwirren, sehr erschwert wird. Halt ein Forumsfilm, wie er im Buche steht …

El Camino de los Ingleses
(Antonio Banderas, Panorama)

Int. Titel: Summer Rain, Spanien / Großbritannien 2006, Buch: Antonio Soler, Kamera: Xavi Giménez, Musik: Antonio Melived, mit Alberto Amarillo (Miguelito), María Ruiz (Luli), Félix Gómez (Paco Frontón), Raúl Arévalo (Babirusa), Marta Nieto (The Body), Mario Casas (Moratalla), Fran Perea (The Throat), Antonio Garrido (Cardona), Antonio Zafra (The Dwarf), Victor Pérez (González Cortés), Cuca Escribano (Fina), Lucio Romero (Grandfather), Ronky Rodríguez (Rafi), Pepa Aniorte (Fonseca), 118 Min.

[Rezension von Kathi Hetzinger]


Antonio Banderas zweite Regiearbeit (nach Crazy in Alabama, 1999) erzählt von den Problemen einer Gruppe Jugendlicher in einem Sommer Ende der 1970er Jahre in Malaga. Der Film beginnt fast surrealistisch: aus einer weißen Leinwand erscheint plastisch das Gesicht der Hauptfigur Miguelito; er liegt gerade in einem Operationssaal – ihm wird eine Niere herausgenommen. Eine Balletttänzerin in knallrotem Tutu tanzt durch den OP-grünen Raum; Miguelito fliegt über rote Lava; seine Ärzte stehen auf einem Sprungturm. Als er wieder erwacht schenkt ihm sein älterer, sterbender Bettnachbar eine Ausgabe von Dantes „Göttlicher Komödie“. Nach all diesen Erfahrungen steht für Miguelito fest, dass er ein Dichter sein will, sein muss. An diesem Wunsch richtet sich offenbar auch der Stil des Films aus, beispielsweise die tiefe, männliche Erzählerstimme, die nicht einfach nur kommentiert – sie rezitiert. Es scheint, der Film versteht sich selbst als langes, komplexes Gedicht.
Abgesehen von einigen Schwächen in der Dramaturgie, ist das Hauptproblem des Films, dass diese angestrebte Poetik der Erzählweise in keinerlei Hinsicht von der Handlung gerechtfertigt wird (einmal abgesehen von der Einbeziehung Dantes, die jedoch noch nicht einmal an der Oberfläche des Klassikers kratzt). Mehr noch, sie stehen sogar in krassem Missverhältnis zueinander. Dem Alter der Protagonisten und der Zeit entsprechend, dreht es sich bei den Erlebnissen des Sommers vor allem um Sex, Gewalt und Drogen; mit schwulen- und frauenfeindlichen Witzen wird dabei nicht gerade gespart. Jegliches Durchscheinen von Sensibilität oder Verstand wird von den stets an die Grenzen gehenden Erfahrungen der Kids – die Freundinnen und Mütter sind Prostituierte, die Väter Kriminelle, die Lehrerinnen immer zu einer Affäre bereit – im Keim erstickt. Doch der Film kann sich nicht dazu entschließen, dies in ein kritisches Licht oder wenigstens in irgendeine Form von Relation zu stellen; er hält fest an seiner (am Ende nur noch) pseudo-poetischen, nostalgischen Schönmalerei in vielen bunten Farben mit Musik aus dem Leierkasten.
Im Laufe des Sommers muss Miguelito Erfahrungen machen, die aus dem Träumer schließlich einen Realisten machen (ohne dass dabei der Stil des Films die Entwicklung im Geringsten aufgreifen oder den Zuschauer gar darauf vorbereiten würde). Ein wahrer Lern- bzw. Denkprozess wird dabei kaum erkennbar und ist höchstens, mit etwas Phantasie, irgendwo in den Tiefen des verschnipselten Drehbuchs zu erahnen. Anstatt sich um ein Verständnis oder gar Sympathie für die Figuren zu bemühen, begnügt sich Summer Rain jedoch mit einer aufgebauschten Postulierung von Schicksalhaftigkeit. So fragt sich der Zuschauer bis zuletzt eigentlich nur, was das Ganze überhaupt soll; der Film gibt sich die größte Mühe, die Antwort darauf zu verschleiern. Man kann getrost sagen, dass dieser Ausflug von Antonio Banderas ins Regiefach sein Ziel verfehlt; das Model sollte das Singen vielleicht doch besser sein lassen.

Coming soon in Cinemania 40 (Lee & Kim im Park):
Rezensionen zu koreanischen Berlinale-Filmen [Berlinale 2007, Teil II]: Aju teukbyeolhan sonnim (Ad Lib Night), Cheonhajangsa Madonna (Like a Virgin), Dasepo Sonyeo (Dasepo Naughty Girls), Huhwaehaji Anah (No Regret) & Ice Keh-ki (Eis! / Ice Bar) …