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Bildmaterial: AV Visionen
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Blancanieves
Ein Märchen von Schwarz und Weiss
(Pablo Berger)
Originaltitel: Blancanieves, Spanien / Frankreich / Belgien 2012, Buch: Pablo Berger, Kamera: Kiko de la Rica, Schnitt: Fernando Franco, Musik: Alfonso de Villalonga, Kostüme: Paco Delgado, Production Design: Alain Bainée, mit Daniel Giménez Cacho (Antonio Villalta), Macarena García (Carmen / Blancanieves), Maribel Verdú (Encarna), Emilio Gavira (Jesusín), Inma Cuesta (Carmen de Triana), Ramón Barea (Don Martin), ngela Molina (Doña Concha), Sofía Oria (Carmencita), Pere Ponce (Genaro, Chauffeur), Sergio Dorado (Rafita), Alberto Martínez (Josefa), Jinson Añazco (Juanín), Michal Lagosz (Manolín), Jimmy Muñoz (Victorino), José María Pou (Don Carlos), 104 Min., Kinostart: 28. November 2013
Soviel Märchen und filmhistorischen Retro-Look wie zum Starttermin 28. November 2013 gab es lange nicht im deutschen Kino. Während die Kinder das Disney-Märchen um die Eiskönigin bestaunen und dabei wie beim Gimmick im Happy-Meal im Vorfilm noch einen Einblick in die Anfänge der seinerzeit gezeichneten Animation bekommen, bekommen die Erwachsenen gleich einen abendfüllenden Stummfilm, ebenfalls in Schwarzweiß (wie bei Get a Horse! werden die Farblosigkeit wie das historische Format aber durch einen roten Vorhang, hinter dem die Leinwand des »Hauptfilms« erscheint, noch akzentuiert), wobei das winterlich klingende Grimm-Märchen Schneewittchen hier ins klimatisch angenehmere Spanien verlegt wird.
Was auf den ersten Blick wie ein Trittbrettfahrer zu The Artist klingt, war aber schon vor dem phänomenalen Erfolg des unübersehbaren Vergleichsfilms im Planungsstadium und startet hierzulande nur mit einem guten Jahr Verspätung (ob die Adventszeit als traditionelle Märchenzeit hier tatsächlich ausschlaggebend für den Starttermin war?).
Statt um eine Prinzessin geht es hier um die unter einer umtriebigen Stiefmutter leidende Tochter eines Stierkämpfers, dessen Unfall in der Arena ihn nicht nur in den Rollstuhl versetzte, sondern auch die hochschwanger im Publikum sitzende Carmen (Inma Cuesta) so traumatisiert, dass sie die Geburt nicht überlebt. Die Krankenschwester Encarna (Maribel Verdú) wittert ihre Chance, und der reiche, aber seiner Männlichkeitsattribute beraubte Antonio Villalta (Daniel Giménez Cacho) begibt sich in die eheliche Obhut der intriganten, heimtückischen und sadistischen Dominatrix, die den Schwesternkittel schnell hinter sich lässt und stattdessen die Haushaltsführung des herrschaftlichen Palastes übernimmt. Die nach der Mutter benannte kleine Carmencita hat noch Glück, dass sich größtenteils die Großmutter um das Kind kümmert, den Umgang zwischen Vater und Tochter verbietet die perfide Stiefmutter (das kann ihre Machtposition nur schwächen), der ehemalige Matador vegetiert im verbotenen Obergeschoss vor sich hin, und als er dann mit einigen Jahren Verspätung gewahr wird, dass seine Tochter seinem Leben wieder einen Sinn geben könnte, interferriert das Weibsbild erneut, ein Chauffeur spielt hier die Rolle, die in der Märchenvorlage der Jäger innehat.
Es ist keine Überraschung, dass die mittlerweile erwachsene Quasi-Prinzessin sich als große Schönheit offenbart, was wie eh und je die Eifersucht der Stiefmutter nur noch verschärfte. Und als Carmen dann, mit Gedächtnisverlust, Unterschlupf bei einigen kleinwüchsigen Stierkämpfern findet, nennen diese sie – Zufälle gibt's! – Blancanieves, also Schneewittchen in der spanischen Version. An dieser Stelle setzen dann die eindeutigen Veränderungen zum Ursprungsstoff (mit einem Schuss Aschenputtel) ein, denn Blancanieves (Macarena García) mag ihren Namen vergessen haben, die Stierkampf-Trainingseinheiten, die sie in der verspäteten und heimlichen Wiedervereinigung mit ihrem Vater erfuhr, sind ihr ins Blut übergegangen, und als sich der Unfall ihres Vaters beinahe mit einem der Zwergmatadoren wiederholt, springt sie instinktiv ein und wird schnell zur eigentlichen Zugnummer der zuvor eher komödiantisch auftretenden Kerlchen, die, wie sich mit Verspätung herausstellt, auch nur gegen harmlose Kälber antreten, die neben ihnen aber proportional wie richtige Stiere wirken.
Man entfernt sich immer weiter vom eigentlichen Märchen. Der Hübscheste der Zwerge malt sich tatsächlich Chancen aus, die Rolle des »Prince Charming« auszufüllen, ein anderer Zwerg entwickelt andere Motivationen, und dann taucht auch noch, wie der Stromboli aus Pinocchio, ein vollbärtiger »Manager« auf, der den Zuschauermagneten Blanca zu einem Exklusivvertrag auf Lebenszeit übertölpelt.
Wie das Märchen ausgeht, wird hier natürlich nicht verraten, man darf aber davon ausgehen, dass sich der Film eine gewisse Individualität bewahrt, die auch zu seinen Stärken gehört. Das Mischmasch aus Stilen, vom disneymäßigen Sidekick-Gockel über die kinky Sado-Maso-Schiene, der subtilen Kritik an der Politik des 1920er-Spaniens bis hin zu den Verweisen auf Tod Brownings Freaks und eine Verankerung in spanischen Nationaltraditionen wie Tanz und Stierkampf schafft ein ganz eigenständiges Kunstwerk, das sich von The Artist ohne Probleme emanzipieren kann. Die historische Akkuratesse ist jedoch nur ansatzweise gewährleistet, aber dass es ohne CGI heutzutage nicht mehr geht, mag man ebenso akzeptieren wie das angezogene Erzähltempo und den in manchen Stakkatosequenzen anachronistisch wirkenden Schnittrhythmus.
Was mich persönlich aber wirklich gestört hat, ist eine gewisse verlogene »political correctness«, die zu einem Großteil der Aussagen des Films nicht passt. Die gesamte Geschichte ist komplett um das Thema Stierkampf drapiert, aber während man sich einerseits stillschweigend (und zeitgemäß) von dieser Brutalität distanziert, indem man den Schaumord am Tier elliptisch ausspart, wird dennoch der Matador heroisiert, was einen verdeckten Widerspruch darstellt. Der Film stellt beispielsweise die Kaninchenjagd als verwerflich dar und ein zünftiges Hähnchenmahl wird als geradezu barbarisch verurteilt, während der Matador das Ideal des heldenhaften Ehrenmanns (oder auch mal Ehrenfrau) verkörpert, und die Stiere (die im Film nie, aber wirklich nie zu Schaden kommen) teilweise als gehörnte Schatten mit Namen wie Luzifer und Satanas auftreten und in zumindest einem Fall wie ein vierbeiniger Scharfrichter implizit für eine leicht infernalische Gerechtigkeit sorgen. Das sind mir ein paar zu viele gegensätzliche Signale, die der Film aussendet. Bei all der Intrige, der Bösartigkeit, dem Mord und der leicht abgründigen Sexualität hätte man doch auch mal einen Stierkampf bis zum »normalen« Ende durchexerzieren können, entweder filmisch verklärt (als Schattenspiel) oder durch einen Kommentar versehen, der dieses Spektakel in einen modernen Kontext setzt (kurzer Zwischenschnitt auf eine Zuschauerin, die das Abschlachten nicht mit ansehen will). Doch ähnlich wie bei der Fernsehserie The A-Team, wo immer alle mit Handgranaten und Panzerfäusten rumhantierten, aber nie jemand zu Schaden kam, ist die willentliche Aussparung der unvermeidbaren Konsequenzen in meinen Augen das Verwerflichste und Verlogenste, was man in solch einer Situation machen kann. Dieses winzige kleine Detail gibt dem ganzen Film leider einen sehr bitteren Beigeschmack. Auch wenn das abgesehen von den PETA-Sympathisanten nur ca. jedem hundertsten Zuschauer überhaupt auffallen wird.