Die Eiskönigin
Völlig unverfroren
(Jennifer Lee, Chris Buck)
Originaltitel: Frozen, USA 2013, Buch: Jennifer Lee, Lit. Vorlage: Hans Christian Andersen, Schnitt: Jeff Draheim, Musik: Christophe Beck, Songs: Kompositionen von Robert Lopez & Kristen Anderson-Lopez, gesungen vom Cast und Demi Lovato, mit den Original- / deutschen Stimmen von: Kristen Bell / Yvonne Greitzke / Gesang: Pia Allgaier (Anna); Idina Menzel / Dina Kürten / Gesang: Willemijn Verkaik (Elsa); Jonathan Groff / Leonhard Mahlich (Kristoff); Josh Gad / Hape Kerkeling (Olaf); Santino Fontana / Robin Kahnmeyer / Gesang: Manuel Straube (Hans); Alan Tudyk / Robert Palfrader (Duke of Weselton / Herzog von Pitzbühl); Livvy Stubenrauch / ? (Young Anna); Eva Bella / ? (Young Elsa); Chris Williams / Nik Hartmann (Oaken); Ciarán Hinds / ? (Pebbie / Grandpa); 102 Min., Kinostart: 28. November 2013
House Style
Frozen knüpft eindeutig an den Erfolg von Tangled an. Im House Disney hat man je eine lange Tradition, was Märchenadaptionen mit Prinzessinnen angeht (Snow White and the Seven Dwarves, Sleeping Beauty, Cinderella, The Little Mermaid, Beauty and the Beast, The Princess and the Frog), doch seit neuestem hat man sich statt einer Bezeichnung der Märchenfigur bereits im Titel auf partizipielle Zustandsbeschreibungen verlegt (auch der Realfilm Enchanted ging in diese Richtung), die dann in den deutschen Titeln nur noch ansatzweise in vermeintlich »witzigen« Zusatztiteln wiederzuerkennen sind.
Bildmaterial © 2013 Disney. All Rights Reserved.
Noch auffälliger ist der Verwandtschaftsgrad der beiden Filme aber im Animationsstil zu erkennen. Dem »klassischen« Zeichentrickfilm hat man inzwischen wohl (zumindest im abendfüllenden Format) abgeschworen, auf der 3D-Welle lässt es sich mit fotorealistischer Computeranimation leichter mitreiten. Umso auffälliger ist hierbei die Ähnlichkeit der letzten zwei Disney-Prinzessinen: mit riesigen Augen im Kindchenschema und außergewöhnlicher Farbintensität (heutzutage muss ja im Mainstream-Kino alles bunt bis an die Schmerzgrenze sein), und sogar mit einem fast identischen Körperbau, bei dem der positivste Aspekt scheint, dass man sich zwar in der Körbchengröße an den unrealistischen Modellmaßen orientiert, die jungen Damen aber aufgrund ihrer zierlichen Größe doch eher das Potential zur Identifikation für die nächste »Prinzessinnen-Generation« bieten. Und nebenbei den männlichen Beschützerinstinkt ansprechen. In der langen Geschichte des Disneystudios orientierte man sich zwar immer wieder an einer naturalistischen Darstellung der menschlichen Protagonisten, doch gerade seit der »Renaissance« des Studios mit The Little Mermaid hatten die meisten Produktionen dann doch einen ganz individuellen Zeichenstil. Nebenfiguren aus Mulan, Pocahontas oder Hercules kann man ohne Probleme dem jeweiligen Film zuordnen. Im Fall von Frozen hat man hingegen den Eindruck, dass außer der Haar- und Augenfarbe sowie der Frisur kaum etwas an der neuen Prinzessin verändert wurde. Das ist ein Trend, der sich hoffentlich nicht durchsetzen wird. In einem frühen Trailer wirkte es auch noch so, als hätten die Reittiere (das Rentier eingeschlossen) ganz wie in Tangled auffallend an Hunde erinnernde Verhaltensmuster. Dies entspricht dem immer wieder enttäuschenden Wiederholungsmuster bei Erfolgsfilmen, wo doch eine Stärke des Disney-Studios sein sollte, dass man mit völlig unterschiedlichen Stoffen ein riesiges Publikum anziehen kann. Immerhin hat Prinzessin Anna eine neue Stimme, nicht wie in Robin Hood, wo Baloo plötzlich angezogen auftauchte und sich Little John nannte.
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Neue Pfade
Das Interessanteste an Frozen ist die erstaunliche Psychologisierung seiner Titelfigur. Bei Hans-Christian Andersen lud die »Eiskönigin« nicht unbedingt zur Identifikation ein, und man kann wohl davon ausgehen, dass seit The Little Mermaid soviel Zeit verging, weil man in der Story-Abteilung lange damit kämpfte, wie man die Figur aus der Schublade der Bösewichte befreien kann. Frozen entspricht zwar einem klassisch konservativ-heterozentrischen Rollenbild, laut dem eine Prinzessin hübsch sein muss und einen heldenhaften Gemahl zu finden hat (seit einiger Zeit darf sie dabei auch ein wenig Individualität zeigen und er muss nicht notwendigerweise von königlichem Geblüt sein), doch das eigentliche Zentrum des Films ist die Geschichte der zwei Schwestern. Die Ältere, Elsa, hat eine Gabe (der Film betont extra, dass es kein Fluch ist), die sie auch für einen X-Men-Film qualifizieren würde: Sie kann wie »Ice Man« oder »Storm« das Klima beeinflussen und quasi aus dem Nichts Schnee oder Eis entstehen lassen. Im Film wird kurz die unbeschwerte Kindheit der beiden Schwestern geschildert, bei der Elsa einen großen Ballsaal in einen winterlichen Abenteuerspielplatz verwandelt, und Anna in kindlicher Raserei von einem herbeigezauberten Schneehügel zum nächsten springt. Bis etwas schief geht ...
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Und an einem einzigen kleinen Unfall wird hier ein komplettes Trauma aufgehängt. Wie bei den X-Men »Rogue« lebt Elsa fortan unter der Angst, ihrer kleinen Schwester, der Person, die sie mehr als irgendetwas auf der Welt liebt, Schaden anzutun (die starke Verbundenheit der Schwestern kann man auch daran erkennen, dass Anna seit dem Unfall eine weiße Haarsträhne hat, die an »Rogue« erinnernden Merkmale werden auf beide Schwestern verteilt). Und deshalb beschreitet sie den oft als ultimativen Liebesbeweis beschriebenen Pfad und distanziert sich von der Schwester – insofern das innerhalb des selben Schlosses möglich ist. Die beiden Schwestern leben nun auf zwei Seiten einer immer verschlossenen Tür, und der herzzerreißende Song Do you want to build a snowman thematisiert die Trennung: »We used to be best buddies / but now we're not / I wish you would tell me why«.
Songs tell the story
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Der mit unzähligen Oscars ausgezeichnete Alan Menken (von The Little Mermaid bis Tangled für gut die Hälfte aller Disney-Soundtracks zuständig – wenn nicht gerade mal Elton John oder Phil Collins verpflichtet wurde) war für diesen Film nicht verfügbar und so sprang das Broadway-bewährte Ehepaar Lopez ein, das für Disney bereits die Songs zum Winnie the Pooh-Reboot lieferte. Die Texterin Kristen Anderson-Lopez bekam bei Frozen sogar einen kleinen Credit für »additional story material«, und wenn man den Film mal gänzlich anhand der Songs (die hier eine übergeordnete Rolle spielen wie seit Beauty and the Beast nicht mehr) durchspielt, wird deutlich, wie clever die Songs sind, auch wenn sie größtenteils auf die kleinen Wortspiele verzichten, die man bei Menken und seinen Textern so zu schätzen gelernt hatte. Diese Herangehensweise werde ich in meiner Rezension zum bald erscheinenden Soundtrack detailliert verfolgen (wer sich dann noch spoilern lässt, weil er es noch nicht ins Kino geschafft hat, ist selber schuld). An dieser Stelle sei nur erwähnt, dass man allein anhand des Schneemanns Olaf so unterschiedliche Aspekte des Films ablesen kann wie die kindliche Unschuld und leichtsinnige Naivität, das Potential jener Lebenskraft aussaugenden Superkraft, auch Freude zu generieren und – im Umkehrschluss – dass selbst Eiseskälte und menschliche Wärme nicht immer ein Widerspruch sein müssen. Ich bin kein so ausgeprägter Olaf-Fan wie einige meiner Kollegen (die Synchro-Besetzung mit Hape Kerkeling versucht ihn ja fast in die Hauptfigur zu verwandeln), aber Sätze wie »I love warm hugs« oder »some people are worth melting for« stehen für den Kern-Konflikt des Films zwischen den beiden Schwestern.
Freaks, Aliens und Andersartige
Im Superhelden-Genre geht es ja oft um den schmalen Grat zwischen Heldentum und Schurkenkarriere, und Eiskönigin Elsa verkörpert mit ihrer einzigartigen Kraft lange Zeit vor allem den Freak-Charakter von Mutanten, Kryptoniern und Artgenossen. Der Aushilfsschurke Duke of Weselton (übrigens der eine Geniestreich der deutschen Synchro als Herzog des alpinen Amalgams »Pitzbühl«) stellt somit auch augenblicklich fest, dass Elsa ein »Monster« ist (wie das »Biest« oder Hulk wird sie später regelrecht gejagt), wodurch natürlich nur betont wird, dass die Monsterjäger (wie Gaston oder General Ross) die eigentlichen Monster sind, die sich nebenbei auch immer gern durch Feigheit auszeichnen.
Bildmaterial © 2013 Disney. All Rights Reserved.
Elsas selbstgewähltes Exil, eine Art Eispalast, sorgt nicht nur für den visuellen Höhepunkt des Films (abgesehen von der Säge zu Beginn und Annas »enactment« von Ölgemälden die beste Nutzung des 3D-Formats), hier wird auch eine klare Parallele zu Supermans »Fortress of Solitude« oder der Marsbehausung von Dr. Manhattan in Watchmen aufgebaut – in »ihrem« Song spricht sie von einem »kingdom of isolation«. Hier wie dort muss der oder die Einsame die Kraft und das Vertrauen aufbringen, jemanden in sein kaltes »Inner Sanctum« hineinzulassen. Was so oder so ausgehen kann.
Love Experts
Frozen ist weder die größte Erfindung seit Toastbrot noch ein Desaster. Meines Erachtens versucht man einiges im Film und vieles gelingt. Wer immer nur daran festhält, dass ein wirklich guter Disney-Film sich durch einen großen Bösewicht auszeichnet, hat nicht nur Pinocchio vergessen, sondern auch außer Acht gelassen, dass hier der Konflikt eben zwischen den Schwestern, zwischen Trauma, Angst, Liebe und Vertrauen ausgefochten wird. Einen so emotionalen Film wie Frozen habe ich lange nicht gesehen, und hier werden nicht nur Kindergesichter schmelzen.
Bildmaterial © 2013 Disney. All Rights Reserved.
Dass der Showdown mich hier nicht nur an Superheldenspektakel, sondern auch an Guy Ritchies Sherlock Holmes erinnerte (konsequenzlos zerbirstende Schiffe) ist mein größter Vorwurf, selbst dass hier mal nicht der Böse am Schluss sterben muss, sehe ich positiv.
Und bei den ganzen Comic-Anleihen erfüllt es mein längst aufgetautes Herz mit Freude, dass auch einer der besten Comics aus der langen Karriere eines Großmeisters hier Einschlag findet: eine geheime Zivilisation von Trollen verbirgt sich vor den neugierigen Augen der Menschheit dadurch, dass sie in unzugänglicher Gegend leben und sich als umherliegende Felsen tarnen, ehe sie rollenderweise zum Leben erwachen. Die Trolle tragen zwar keinen Halsschmuck, aber hier zollt man Tribut an das Beste, was das Disney-Imperium je hervorgebracht hat: Carl Barks! Hier vertreten durch seine Dagobert-Duck-Geschichte Land beneath the Ground mit den Terries und Fermies.
Und dann ist da noch der Vorfilm …