Rapunzel
(R: Nathan Greno,
Byron Howard)
Originaltitel: Tangled, USA 2010, Buch: Dan Fogelman, Lit. Vorlage: Jacob & Wilhelm Grimm, Schnitt: Tim Mertens, Musik: Alan Menken, Abspann-Illustrationen: Shiyoon Kim, mit den Original- / deutschen Stimmen von Mandy Moore / Alexandra Neldel (Rapunzel), Zachary Levi / Moritz Bleibtreu (Flynn Ryder), Donna Murphy / Monica Bielenstein (Mother Gothel), Ron Perlman / René Marik (Stabbington Brother), M.C. Gainey / ? (Captain of the Guard), Jeffrey Tambor / ? (Big Nose Thug), Brad Garrett / Bernd Wippich (Hook Hand Thug / Hakenhand), Paul F. Tompkins / ? (Short Thug), Richard Kiel / Tilo Schmitz (Vlad), Delaney Rose Stein / Paula Seifert (Young Rapunzel), Nathan Greno, Byron Howard u. v. a., 100 Min., Kinostart: 9. Dezember 2010
Keine Superkräfte
Vielleicht liegt es nur an mir, aber als ich die ersten Trailer von Tangled sah, hatte ich den Eindruck, dass Rapunzel ihr Haar etwa so gut unter Kontrolle hat wie Plastic-Man seine Extremitäten oder zumindest Spider-Man sein Netz. Das hätte die bekannte Geschichte natürlich komplett verändert, aber man muss schon sagen, dass man sich Mühe gegeben hat, das Haar zum Star des Films zu machen. Nicht nur, weil Haar (und Wasser) seit jeher zu den großen Herausforderungen an Computeranimationen zählt, nein, da ihr opulenter Haarwuchs einfach zu der holden Maid dazugehört, weiß sie ihn auch zum Vorteil umzufunktionieren. So braucht man kein Seil, wenn man sich über eine Schlucht schwingen will, kann Eindringlinge fesseln, und wenn man im Flechten geübte Passanten trifft, kann sich das Volumen des Haares auch etwa so verändern wie das von Emmerichs Godzilla. Was hier aber nicht so kritisch hinterfragt werden soll, weil eine realistische Darstellung von Rapunzels Haar (das sie öfters auf dem Boden hinter sich herzieht) gänzlich andere Probleme mit sich gebracht hätte. In den USA gibt es übrigens eine Crosspromotion mit einem Shampoohersteller.
Zu Beginn des Films, als Rapunzel noch gar nicht im Spiel war, zieht der Dieb Flynn Ryder bereits eine Mission-Impossible-Nummer ab, bei der man sich fragt, ob Rapunzels Haar bei einer gemeinsamen Diebeskarriere nicht von Vorteil wäre, und innerhalb des Films spielen Seile immer wieder eine große Rolle, ganz wie Superhelden bevorzugt gegen Schurken mit ähnlichen Eigenschaften antreten (Spider-Man & Dr. Octopus, Batman & Scarecrow bzw. Man-Bat), so trennen Seile die Liebenden (oder bringen sie in Gefahr), während die Haare sie verbinden.
Mother Gothel
Schon bei den Brüdern Grimm taucht die Figur der »Gotel« auf, die Rapunzel im Turm festhält. Drehbuchautor Dan Fogelman hat diesen Teil der Geschichte geschickt zu Plausibilität verholfen, in dem Gothel eigentlich eine alte Schachtel ist, die sich nur durch die Zauberkraft Rapunzels ein jugendliches Aussehen bewahrt - ganz ähnlich wie vor kurzem Michelle Pfeiffer in Stardust. Dabei ist Gothel aber die wohl intriganteste Disney-Schurkin aller Zeiten, und wie sie so ziemlich jeden manipuliert, und dabei auf liebenswerte Art hassenswert bleibt, das ist eine große Freude für den Zuschauer. Immer wieder putzt sie Rapunzel herunter, schmälert ihr Selbstbewusstsein, scherzt auf ihre Kosten - und versteckt sich dabei hinter ihrer vermeintlichen mütterlichen Fürsorge, die der Song Mother knows best (dt.: Mutter weiß mehr, aber es sind halt nur vier Silben) perfekt zusammenfässt. Während Gothel sich in ihren Gebärden wie Cher oder Barbra Streisand aufführt, rät sie Rapunzel »Skip the drama, stay with Mama«. Und selbst, wenn sie zur Durchführung ihrer Interessen mal so bösartig werden muss, dass dies unvereinbar scheint mit dem Idealbild der liebenden Mutter, kehrt sie selbst das noch um (»Alright, now I’m the bad guy!«), dass es zur rhetorischen Figur im täglichen Kampf mit einer rebellischen Pubertierenden gerät.
Sidekicks: Ein Hengst und ein Chamäleon
Definitiv auf der Habenseite sind auch die beiden Sidekicks des Films. Das Chamäleon Pascal ist wie der Tiger Radja in Aladdin der Trostspender, Ansprechpartner und Vertraute der weggesperrten Prinzessin, eine Art lebendes Schmusetier, das aber manchmal wie der weise Yoda auftritt und schließlich zum eigentlichen Helden des Films wird. Doch noch gelungener ist der Hengst Maximus, der schon zu Beginn des Films seine Pferdekollegen anführt wie ein General, dann aber im Alleingang immer mehr Charaktereigenschaften eines Hundes übernimmt (statt der üblichen Anthropomorphisierung durchaus ein Fortschritt, der auch einige an Humor-Potential mit sich bringt), mit dem Schwanz wackelt oder apportiert. Und sich natürlich durch seine Treue und Unbestechlichkeit auszeichnet, und Gut und Böse wahrscheinlich einfach durch den Geruch auseinanderhalten kann (wobei Flynn zunächst natürlich böse ist).
Alan Menken
Irgendeine blödsinnige Internetquelle hatte mich vor Sichtung des Films davon überzeugt, dass der Soundtrack von Alan Menken diesmal als Inspiration Rocksongs der 1960er hatte. Davon war nichts zu merken. Hingegen entsprachen die (ansonsten durchaus gelungenen) Songs durchweg früheren Disney-Song, am auffälligsten beim Duett I see the light, das exakt wie bei A whole new world (aus Aladdin) einerseits das Kennenlernen der äußeren Welt für die zuvor weggeschlossene Prinzessin thematisiert (wie es ihr der Dieb ermöglichte), zum anderen aber auch die sich fundamentierende Liebe mit dem inzwischen obligaten »Kiss the Girl«-Moment. Also sozusagen ein Best-of der Disney-Filme, für die Menken die Songs komponierte.
Doch wo die Texte von Howard Ashman (mit dem Menken bei Little Shop of Horrors, The Little Mermaid, Beauty and the Beast zusammenarbeitete) fast in jeder zweiten Zeile eine Überraschung, einen innovativen Reim oder einen Lacher brachten, sind diese inspirierten Glanzpunkte bei seinen Nachfolgern spärlicher gesät. Stattdessen nutzt man hier das Liebesduett als vielleicht auffälligste Stelle, um mit der (ansonsten eher zurückhaltenden) 3D-Technologie anzugeben. Rapunzel und Flynn in einem Boot auf dem nächtlichen See, in dem sich die zahlreichen Lampions schließlich so mannigfaltig reflektieren, dass die räumliche Zuordnung verloren geht, sie schweben inmitten der Lichter, die Rapunzels »Erleuchtung« symbolisieren. Kitsch as kitsch can.
Subliminal messages
Um Rapunzels Herkunft und die Wiedervereinigung mit ihren richtigen Eltern in die Geschichte einzuarbeiten, kam Autor Fogelman auf eine nette Idee: Rapunzel hat bei all ihren Gemälden auf den Innenwänden ihres Turmgefängnisses immer wieder unbewusst jene Sonne (man beachte die Verwandtschaft mit dem »Licht« im vorherigen Kapitel) eingewirkt, die über ihrer Kinderkrippe hing, und die sich in der Flagge des Königreichs wiederfindet. Der Moment, in dem sich die zahlreichen Sonnen offenbaren, findet allerdings eine Spur zu schnell an, auf der DVD werde ich mir die Details noch mal in Ruhe anschauen müssen.
Der deutsche Zusatztitel
Es gab in diesem Jahr schon viele blöde deutsche Titel, aber Rapunzel - neu verföhnt dürfte so ziemlich der blödeste sein. »Neu verföhnt« soll wohl einerseits so ähnlich klingen wie »neu verfilmt« (Sicher gibt es viele Rapunzel-Verfilmungen, aber richtig berühmt oder bekannt, so dass man sich davon absetzen muss, ist wohl keine), und andererseits signalisieren, dass der Film »frech« und modern ist. Dummerweise spielt er aber wie die meisten Märchen in einer Art Mittelalterwelt, und zu keinem Zeitpunkt kommt im Film ein Föhn oder eine verwandte antike Version eines Gerätes vor, mit der nasse Haare durch einen heißen Luftstrom getrocknet werden. Somit ist der Titel also so blöd wie beispielsweise Spartacus und sein Elektrorasierer oder JC und seine Abenteuer mit der Nailgun.
Spoiler zum Ende des Films
Als Erzähler beginnt Flynn Ryder den Film etwa mit den Worten: »This is the story of how I died.« Was man schon zu Beginn des Films nicht ernst nimmt. Und Flynn nimmt es auch nicht ernst. Dann kommt aber irgendwann die Stelle, wo man wie in The Jungle Book, Beauty and the Beast oder vielen anderen Disney-Filmen untergejubelt kriegen soll, dass hier tatsächlich jemand stirbt. Und wenn man es so interpretieren will, ist Flynn (bzw. Eugene Fitzherbert) tatsächlich für einige Momente tot. Rapunzels Haar hat seine Zauberkraft verloren, und manchen Zuschauer mag es verwundern, dass plötzlich eine Träne unserer Prinzessin ihren Geliebten wieder zum Leben erweckt. Im Film gibt es keinerlei Hinweis auf solche Fähigkeiten, und bevor ich durch Herauskramen des ursprünglichen Märchens der Brüder Grimm erfuhr, dass die Sache mit der Träne 1:1 aus dem Original übernommen wurde (wo Rapunzel - ebenfalls der Haare beraubt - ihrem Prinzen durch Tränenbenetzung das Augenlicht zurückbringt), legte ich mir eine ziemlich undisneymäßige Erklärung zurecht: Rapunzels Haar kann verjüngen oder heilen, wenn sie ein bestimmtes Lied singt. Das Haar beginnt zu leuchten (was auch manchmal von Vorteil ist), und - tahdah! - die Wunde ist Vergangenheit. Wie man im Film erfährt, ist dieser Wundereffekt Rapunzel nach 18 Jahren andauerndem Verjüngen ihrer Ziehmutter Gothel zu einer routinierten Handlung verkommen - sie spult das Liedchen in Nullkommanix herunter, der Effekt ist der selbe. Diese rein mechanische Tat erinnert mich an die männliche Sexualität, während die von tiefen Gefühlen hervorgerufene Träne (jaja, die meisten Frauen können auch auf Befehl heulen, aber das nur am Rande) von wahrer Liebe und nicht nur körperlichen Handlungen handelt, und somit wird dafür noch mal ein Wunder genehmigt. Man darf ja auch nicht vergessen: Rapunzel ist ein Disney-Märchen. Selbst beim Hunchback of Notre Dame sind in der Disney-Version am Ende alle gute Freunde (und am Leben).
Der Abspann
Wie in einigen der jüngsten Pixar-Filme (z. B. Ratatouille) der Comic-Künstler Scott Morse den Abspann zu einer eigenen Attraktion machte, hat man diesmal mit Shiyoon Kim (laut einer koreanischen Bekannten ist Shiyoon klar ein Mädchenname) ein neues Talent entdeckt, das neben der Einbindung ins Character Design nun auch den Nachspann verschönern konnte, mit kleinen, unaufdringlichen Zeichnungen, die manchmal an Al Hischfeld oder Harvey Kurtzman erinnern, dann wieder an ostasiatische Kalligraphie. Wenn ich den Film nochmal mit meiner Nichte schaue, muss ich sie vorher eingehend daraufhin konditionieren, dass sie nicht wieder so schnöde vor Ende des Films aus dem Kino laufen will, wie es eine Unart ist. Außerdem gibt es im Nachspann eine interessante Fortführung der bekannten Production Babies (Vornamen der während des langwierigen Animationsprozesses geborene Kinder der Filmcrew).