Love Stories
Erste Lieben,
zweite Chancen
(Josh Boone)
USA 2012, Originaltitel: Stuck in Love., Festival-Titel (Toronto): Writers., Buch: Josh Boone, Kamera: Tim Orr, Schnitt: Robb Sullivan, Musik: Mike Mogis, Nate Walcott, mit Greg Kinnear (William Borgens), Lily Collins (Samantha Borgens), Nat Wolff (Rusty Borgens), Jennifer Connelly (Erica), Liana Liberato (Kate), Logan Lerman (Lou), Kristen Bell (Tricia), Glen Powell (Ryan), Spencer Breslin (Jason), Stephen King (Himself – voice), Patrick Schwarzenegger, 97 Min., DVD- / Blu-Ray-Start: 22. November 2013
Zelluloid zum Blättern
Wenn man in der U-Bahn auf der Bank gegenüber jemanden ein Buch lesen sieht, fühlt man sich manchmal aufgrund der Lektüre, die man selbst kennt oder immer schon mal lesen wollte, dieser wildfremden Person gegenüber seltsam verbunden. Da man die meisten Bücher nicht schon vor der Lektüre kennt, kann man nicht immer behaupten, dass die Lektüre automatisch etwas über den Leser oder die Leserin verrät, doch der (insbesondere lesefreudige) Betrachter eines in eine Lektüre vertieften Menschen sieht oft Korrelationen, die den Leser charakterisieren. Dieses Phänomen kann sich auch ein Autor zunutze machen. Im klassischen Science-Fiction-Roman Fahrenheit 451 (1966 verfilmt von François Truffaut) werden Bücher von einer totalitären Regierung verbrannt, eine Untergrundbewegung versucht das kulturelle Erbe zu retten, indem jedes Mitglied des Untergrunds jeweils ein Buch auswendig lernt und fortan vor sich hin rezitiert. Eine stärkere Verbindung zwischen Leser und Lektüre ist kaum denkbar, hier übernehmen die LeserInnen schließlich sogar die Namensgebung ihrer Lektüre, die Bücher werden quasi »lebendig«.
In Romanen benutzt man diese Taktik gern einmal, doch nur in den wenigsten Fällen (etwa bei Roald Dahls Matilda) stehen gleich diverse Lektüren für die Belesenheit der Figuren, meistens belässt man es bei ein bis drei »Schlüsselromanen«, die dann oft nicht nur für den Protagonisten, sondern für das gesamte Werk stehen. Ein Paradebeispiel wäre Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W., in dem Hauptfigur Edgar Wibeau nicht nur den naheliegenden Werther von Goethe liest, sondern auch J.D. Salingers The Catcher in the Rye, und die Kombination dieser beiden Vorlagentexte charakterisiert in etwas beschränkter, aber zutreffender Art auch das neue Buch.
In audiovisuellen Medien benutzt man Bücher gern, um etwas über ihre Leser oder Besitzer zu sagen. In den Filmen von Woody Allen kann man sich etwa fast darauf verlassen, dass die vom Regisseur gespielten Figuren nicht nur mit vielsagenden Filmplakaten (und in einem Fall aufgeblasenen Szenenfotos) ihre Wohnungen schmücken, auch quasi dazu gehört der umfassende Blick auf ein paar Regale, in denen man gern mehrere Werke wiedererkennen darf. Der liberal-intellektuelle Hintergrund wird immer wieder gerne durch die Privatbibliothek verdeutlicht, manchmal reicht dafür auch ein Dutzend Bücher in einer Studentenbude oder ein aufgeschlagener Band (man hat fast immer bereits mehr als die Hälfte gelesen) auf einem Nachtisch.
Dieses Prinzip wird im Debüt des Regisseurs Josh Boone (der auch das Drehbuch zu seinem Film schrieb) quasi bis zum Ende »durchgespielt«. Der Film, der 2012 auf dem Filmfestival von Toronto zunächst unter dem Titel Writers. (mit Punkt dahinter, wie bei Crazy, Stupid, Love. oder Good Night, and Good Luck.) lief, schrieb sich diese Eigenschaft quasi auf die Fahne, doch war der Ursprungstitel aus marketingtechnischen Gründen dann geändert worden in Stuck in Love. (immerhin auch mit Punkt dahinter). Liebe als Thema zieht immer, aber wer will schon einen Film über »Autoren« sehen? Leider war der Leidensweg des Films hierzulande durch die Umbenennung noch nicht abgeschlossen, denn kurzfristig wurde der Kinostart abgesagt, jetzt erscheint der Film nur noch als DVD und BluRay, wobei der Titel erneut geändert wurde, jetzt in das reichlich umständliche und gleichzeitig nichtssagende Love Stories – Erste Lieben, zweite Chancen (ohne Punkt dahinter). Zugegeben, in dem Film spielen eine Handvoll Liebesgeschichten eine große Rolle und auch der Zusatztitel trifft zu, doch viel prägnanter ist es, dass die drei Hauptfiguren allesamt eben »Writers« sind. Punkt.
Bildmaterial © Senator Film
Es geht um den preisgekrönten Autor William Borgens (Greg Kinnear), seine Tochter Samantha (Lily Collins) und den etwas jüngeren Sohn Rusty (Nat Wolff). Jede dieser Figuren wird mit einigen autobiographischen Sätzen eingeführt, die bereits viel über die Figuren und ihren jeweiligen Schreibstil sagen.
Rusty sitzt im Klassenzimmer und starrt seine Sitznachbarin Kate (Liana Liberato) an – in die er hoffnungslos verschossen ist. »I remember that it hurt – Looking at her hurt.« Diese zwei Sätze sieht man dabei in einer kritzeligen Handschrift auf der Leinwand erscheinen. Die entsprechenden Einführungs-Sätze bei seiner Schwester und dem Vater sind jeweils mit dem Computer geschrieben (man hört sogar die Tastaturgeräusche), wobei der Vater eine Schriftart zugeordnet bekommt, die an Schreibmaschinentypen erinnert (die literarische »Stimme« der Figuren wird also immer auch visuell repräsentiert). Die Sätze des Vaters sind am stärksten ziseliert, der Tonfall selbstironisch. Rusty schreibt am emotionalsten und intensivsten, Schwester Samantha hat einen no-bullshit-Stil entwickelt, der mit kurzen Sätzen einschlägt wie Fausthiebe.
Über den Vater Bill erfahren wir, dass er zweifacher Gewinner des PEN/Faulkner-Awards ist. Um dieses Detail in einen Kontext zu setzen: Philip Roth gewann diese Auszeichnung drei mal (für Operation Shylock, The Human Stain and Everyman). E.L. Doctorow und Han Li sind die einzigen anderen Autoren, die darüber hinaus mehr als einmal ausgezeichnet wurden.
Bill wurde vor drei Jahren von seiner Frau Erica (Jennifer Connelly) verlassen – für einen jüngeren. Um dieses Problem, das sein Leben seither beherrscht, drehen sich auch die Sätze, die wir zu Bills Einführung dargeboten bekommen. Er wartet tapfer (oder verbohrt und realitätsfremd) auf ihre Rückkehr, der Film umschreibt den Zeitraum eines Jahres, beginnend und endend mit Thanksgiving, dem großen amerikanischen Familienfest, bei dem am Tisch für den Truthahn ein vorsorglich eingedeckter Platz frei bleiben wird.
Seit der Trennung hat Bill zwei weitere Bücher veröffentlicht, wir erfahren später, dass beide aber noch während seiner Ehe entstanden und er seitdem nur wenig geschrieben hat. Im Nachhinein wird dies auch durch seine »schriftliche« Einführung zementiert: Bill ist zu sehr damit beschäftigt, sich selbst zu bemitleiden und seiner Ex und dem neuen Beau hinterherzustellen, um sich ums Schreiben kümmern zu können.
Der einzige Roman Bills, dessen Titel wir mehrfach im Film vernehmen, ist »Suit Monkeys«, woraus man nicht besonders viel extrapolieren kann. In Bills Schreibzimmer stehen u.a. Rabbit at Rest von John Updike (der den PEN/Faulkner Award einmal gewann) und The Sportswriter von Richard Ford – beides Werke, die literarische Universen um alltägliche (Anti-)Helden eröffnen – wovon Bill aber noch weit entfernt ist.
Buch: The Sportswriter von Richard Ford
Das erste, was wir von Samantha sehen, ist der dezidiert nicht-romantische und dafür pragmatische Weg, wie sie ihr Sexualleben gestaltet. In einer Bar eröffnet sie einem jungen Mann, das sie ja beide eigentlich dasselbe wollen, und so kürzt man die Sache ab und landet in seinem Zimmer. Dort inspiziert Samantha kurz drei Taschenbücher, die auf dem »coffee table« liegen: Michael Crichtons Jurassic Park, Dan Browns The Da Vinci Code und Stephen Kings It. Man hat den Eindruck, dass sie nicht unbedingt von Ehrfurcht angesichts dieser Werke ergriffen ist, und sie blättert kurz in It. Ihr prädestinierter Liebhaber fragt sie, ob sie dieses Buch kenne. Sie erzählt kurz von der Faszination ihres Bruders für King, woraufhin der Junge Mann nur feststellt, dass die Bücher seinem Mitbewohner gehören, während er selbst eher kein großer Leser sei.
An dieser Stelle setze ich bereits eine Interpretation dieser Szene an, die eigentlich erst nach kompletter (in meinem Fall zweifacher) Sichtung des Films greift. Samantha distanziert sich zwar von allen möglichen romantischen Verwicklungen, aber ein Liebhaber, mit dem sie sich auch mal über ein sie interessierendes Thema unterhalten könnte (und sei es nur eher anspruchslose Literatur), würde für sie doch mal eine interessante Abwechslung darstellen.
Mit diesem Urteil greife ich in der Geschichte ein wenig vor, denn etwas später lernt sie Lou (Logan Lerman) kennen, der mit ihr einen Schreibkurs auf der Uni besucht, und der ihre Berufung teilt, wenn er sich auch vor allem für Kriminalromane begeistert. Auch im Falle von Lou bekommen wir sogleich über seine Lieblingsautoren einen Blick in seinen Charakter.
Lektüre als Liebeszeichen
Mehrfach besetzt Josh Boone die Wahl einer bestimmten Lektüre als Liebesbeweis. So ist Bill gerade im Begriff, seinen Ehering als Zeichen eines endlich geglückten Abschlusses der gescheiterten Ehe auf dem Fensterbrett seiner Exfrau zu hinterlassen, als er sieht, dass sie seinen Roman »Monkey Suits« (vermutlich erneut) liest. Und da nimmt er den Ring gleich wieder mit, er sieht Hoffnung. An einer anderen Stelle sieht alles danach aus, als hätte Samantha mit Lou abgeschlossen. Doch wenn man sich als Zuschauer ein wenig auskennt und weiß, dass Ed Brubaker, einer von Lous Lieblingsautoren, unter anderem die Comicserie Criminal schrieb (von der Samantha gerade ein Heft liest – und das muss sie sich erst einmal besorgt haben, das liegt nicht in jedem Supermarkt herum), dann sieht man als Zuschauer auch hier Hoffnung – und das, obwohl Samantha seinerzeit noch zu Lou meinte: »telling me you read comic books isn't exactly sweeping me off my feet.« Bei Samantha lernt man übrigens auch als Zuschauer recht schnell, dass ihr grober Tonfall (ob als Schriftstellerin oder im Gespräch) ihre unterdrückten Gefühle zu verbergen versucht. Das zeigt sich schon, auch wenn es sich erst später offenbart, bei dem Dialog mit dem One-Night-Stand zu Beginn, wo sie ihr Interesse an Stephen Kings It so zusammenfasst: »It's my idiot brother's favorite book.« Die Beziehung zwischen den Geschwistern wird sich im Verlauf des Films als weitaus liebevoller erweisen, als dieser Satz suggeriert (was auch eine visuelle Entsprechung findet, denn beide verlieben sich in eine Person, die dem Bruder / der Schwester äußerlich durchaus ähnelt). Rusty wird It übrigens an einer Stelle des Films seiner Freundin (der ein im Klassenzimmer vorgelesenes Gedicht gefiel) schenken. Die Literatur in Form eines Buchgeschenks als Verbindungsglied zwischen zwei Menschen.
Bücher: Under the Dome (unter einer Glaskugel!),
The Wind through the Keyhole, The Dark Tower 2-7,
Firestarter, Lisey's Story, The Colorado Kid
und weitere von Stephen King
Doch zurück zu Samantha. Ein wichtiges Detail in ihrer Entwicklung (und ihrem Wunsch, sich der Liebe zu verschließen) ist die Verachtung der Mutter Erica. Dafür, dass sie den Vater verlassen hat. Samantha trägt diesen Hass mit sich wie einen Orden. Wenn Erica mal wieder zögerlich eine Aussöhnung zu initiieren versucht und auf Samanthas »book release party« auftaucht, behandelt Samantha sie schlechter als einen unbekannten Fan (und am Anfang einer Schriftstellerkarriere weiß man jeden einzelnen davon zu schätzen), die Signatur bleibt ohne persönliche Widmung, weil die Mutter durch die Frage nach ihrem »Namen« so verletzt wird, dass sie darauf nicht antwortet.
Die Beziehung zwischen Samantha und ihrer Mutter ist zentral im Film, ich werde hier die Entwicklung nicht vorwegnehmen. Doch auch hier symbolisieren Bücher die zu kittenden Brüche zwischen Vater, Mutter und Tochter. Zwischen den beiden Autoren scheint alles »eitel Sonnenschein«, doch es nagt auch ein wenig an Bill, dass seine Tochter nicht ihren ersten (vom Vater stark lektorierten) Roman veröffentlichte, sondern ein Werk, von dessen Existenz er gar nichts wusste (Bill sieht sich weniger als guten Schriftsteller, sondern als großartigen Lektor … seiner eigenen Bücher, und Josh Boone unterstreicht dies mit der Erwähnung des literarischen Äquivalents dieser Einschätzung: Raymond Carver). Bill hat offensichtlich auch einen gewissen Kontrollzwang, muss lernen, mehr auf das Gegenüber einzugehen statt seine eigenen Wünsche zu projizieren. So glaubt Bill irrigerweise, das Lieblingsbuch seiner Exfrau sei John Cheevers The World of Apples (das Gute an diesem Film ist, das man längst nicht alle erwähnten Bücher kennt, und in vielen Fällen neugierig wird, etwa auf Dear Mr. Henshaw oder James Lee Burke). Dies erwähnt er auch mal gegenüber Samantha, die zwar von ihrer Mutter nichts mehr wissen will, sich aber deren vermeintliches Lieblingsbuch (übrigens in der signierten Edition) aus der Bibliothek stiehlt und offenbar mehrfach liest – um doch der Mutter näher zu kommen – ohne sie sehen zu müssen.
Buch: Blue Nights von Joan Didion (darin geht es
u. a. um die verstorbene Tochter der Autorin)
Der Film, der für mich immer den Titel Writers. tragen wird (bei der ersten Vorführung war dieser noch auf der Leinwand zu lesen), ist visuell oder filmsprachlich nicht unbedingt ein Meisterwerk, und auch die Geschichten, die er erzählt, sind nicht bahnbrechend innovativ. Aber die Art und Weise, wie Josh Boone durch den Einsatz unzähliger Bücher (und zwischenzeitig auch mal durch musikalische »Lyrics« wie Songs von Elliot Smith, den Beatles oder Bright Eyes) die Geschichte vertieft, ist schon ziemlich großartig. Dies ist ein Film für Leser, und nach dem Film bietet sich die Möglichkeit, über Bücher den Figuren (oder den Gedankengängen Josh Boones) noch näher zu kommen. Jede Figur des Films wird mindestens durch ein Buch repräsentiert, wenn ich die Mitschriften meiner zwei Kinosichtungen des Films bis ins Detail ausarbeiten würde, könnte dieser Text sich zu einer Magisterarbeit ausweiten. Manchmal ist die Repräsentation über eine Lektüre vielleicht etwas einseitig (wie bei der krebskranken Mutter von Lou), doch selbst Kristen Bell, die hier nur als reichlich oberflächliche Ehebrecherin und »fuck buddy« auftritt, darf mal ihre Vorliebe fürs Weihnachtsfest dadurch erklären, dass auf einem bestimmten Fernsehsender an den Feiertagen rund um die Uhr eine Adaption von Dickens' Weihnachtsmärchen gezeigt wird. Selbst wer nichts übrig hat für die Literatur wird in Writers. von ihr geprägt. Davon erzählt dieser Film, der in bezug auf diese eigentümliche Art der Intertextualität eine nicht jedermann zugängliche Vielschichtigkeit vorführt, die man eher aus der Literatur kennt. Ähnlich wie Peter Greenaways Prospero's Books, nur dass man fürs Verständnis kein Professor sein muss. Sehr schade, dass dieser Film jetzt nur im Heimkino verschlissen wird, wo man schon außergewöhnliche Abspielmöglichkeiten braucht, um beispielsweise zu erkennen, welches Buch von Stephen King Rusty gleich zweimal als Hardcover in seinem Zimmer stehen hat.