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4. Juni 2014
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Boyhood (Richard Linklater)
Boyhood (Richard Linklater)
Boyhood (Richard Linklater)
Bildmaterial © Universal Pictures International
Boyhood (Richard Linklater)
Boyhood (Richard Linklater)
Boyhood (Richard Linklater)


Boyhood
(Richard Linklater)

USA 2014, Buch: Richard Linklater, Kamera: Lee Daniel, Shane Kelly, Schnitt: Sandra Adair, Music Supervisor: Randall Poster, Casting: Beth Sepko, mit Ellar Coltrane (Mason), Lorelei Linklater (Samantha), Patricia Arquette (Olivia), Ethan Hawke (Mason Sr.), Zoe Graham (Sheena), Marco Perella (Professor Bill Wellbrook), Jamie Howard (Mindy), Andrew Villarreal (Randy), Libby Villari (Grandma), Richard Jones (Grandpa Cliff), Karen Jones (Nana), Maximillian McNamara (Dalton), Taylor Weaver (Barb), Jessi Mechler (Nicole), Cassidy Johnson (Abby), Tamara Jolaine (Tammy), Jesse Tilton (April), Tom McTigue (Mr. Turlington), Richard Robichaux (Mason's Boss), David Blackwell (Liquor Store Clerk), Sydney Orta (Elementary School Girl), Alina Mae Linklater, Charlotte Rona Linklater (Twin Cousins), ca. 165 Min., Kinostart: 5. Juni 2014

Langzeitdokus gibt es öfters mal, zwei Wochen später läuft beispielsweise Still an, dessen Dreharbeiten sich über fast ein Jahrzehnt verteilten, und bei dem man anhand des kleinen Jakob bereits ansatzweise das Aufwachsen eines Jungen in »Zeitraffer« miterleben kann. Doch Richard Linklaters Boyhood ist ein Spielfilm, der es vermutlich schon einfach für den Mut der Produzenten (oder die Überzeugungskraft des Regisseurs) verdient hat, auf der diesjährigen Berlinale mit dem Regiepreis ausgezeichnet zu werden. Und selbst, wenn der Film nicht perfekt ist, ist die selten in Spielfilmen umgesetzte Möglichkeit des Mediums Film, die Zeit »einzufangen« (normalerweise bestaunt man in ähnlichen Situationen höchstens das gelungene Casting oder zeichnet jemanden für das »Alters-Make-Up« aus), in diesem Werk so faszinierend anzusehen, dass man die überdurchschnittliche Länge des Films teilweise kaum beachtet.

Aber ich bin jemand, der Linklater schon als einen etwas überschätzten Regisseur einstuft, und es gibt in diesem Film auch so typische »Linklater-Momente«, die einen hier und dort wieder zweifeln lassen …

Zu Beginn des Films ist man aber voll und ganz in der Geschichte des kleinen Mason (Ellar Coltrane), der mit seinen Freunden aus der Nachbarschaft Streifzüge per Fahrrad unternimmt, wie sie mich persönlich sehr an Joe Matts großartige Kindheitserinnerungen in Fair Weather erinnerten.

Jeweils für einige Tage drehte Linklater jedes Jahr ein paar Szenen mit seinem aufwachsenden »Star«, der eigenen Tochter Lorelei, die Masons etwas ältere Schwester spielt (und nach einigen Jahren mal höflich bei ihrem Vater nachfragte, ob ihre Figur nicht sterben könnte) und den schon wegen Ethan Hawke an das »Before«-Paar erinnernden Eltern, wobei hier Patricia Arquette die Rolle der Mutter Olivia übernimmt.

So eine Kindheit hängt natürlich auch immer mit dem Jahrzehnt zusammen, in dem sie stattfindet, und hier wird dieser Aspekt durch Harry Potter (Moaning-Myrtle-Passage als Gute-Nacht-Geschichte, später Kostüm-Spektakel zum Erscheinen des Half-Blood Prince), Animes (Dragonball-Bettwäsche), Computerspiele oder ein Spider-Man-Nachthemd repräsentiert. Auch über die Musik (z.B. Britney Spears) wird der Film zeitlich verortet, doch hier verschenkt Linklater bereits etwas Potential und seine seit Singles bekannte Vorliebe für Indie-Rock drängt sich in den Vordergrund.

Falls das nächste Mal andere Regisseure auf eine ähnlich wahnwitzige Idee kommen, wäre es natürlich auch eine großartige (und produktionstechnisch noch schwieriger umzusetzende) Idee, das Kind in die Kindheit des Regisseurs zu versetzen, ob 1970er oder 80er. Aber gerade einem Sechsjährigen würde dies natürlich viel abverlangen, und so sind gerade die frühen »Jahre« von Boyhood trotz allem auch »dokumentarisch«, denn hier spielt ein Kind ein Kind – und denkt sich vorerst nicht viel dabei.

Doch schon bald setzt dann die Scheidungs-Problematik ein und einer der ungewohnten Aspekte des Films ist es, dass Figuren, die zu einem Zeitpunkt eine große Rolle spielen (etwa Bill, der neue Gatte von Masons Mutter nebst in die Ehe eingebrachten Kindern) später kaum wieder erwähnt werden. In einer typischen Filmdramaturgie wird eben nur jemand in Rolle 3 (man verzeihe mir dieses nicht mehr zeitgemäße Vokabular) breit vorgestellt, wenn die Figur in Rolle 7 dann den Helden unerwartet rettet oder so. Doch Boyhood funktioniert nach der Dramaturgie des Lebens, und den besten Freund in der vierten Klasse, mit dem man geschätzt 60% des Tageslichts geteilt hat, sieht man oft nach seinem Umzug nie wieder.

Hauptdarsteller Coltrane prägte seine Figur auch mit, denn seine Entwicklung gab auch der Filmfigur die Richtung. Linklater mag sich zuvor einige Plotpoints überlegt haben, aber im Grunde hält der Film über seine ungewöhnliche Lauflänge die Spannung aufrecht, weil hier halt nicht schon in Jahr 2 feststeht, was fünf Jahre später passieren wird. Auch ganz wie im richtigen Leben.

Nur konsequent ist es, dass im Film nicht nur die positiven Aspekte der Jugend betont werden, sondern auch die Probleme. Wenn Masons Mutter bei ihrem zweiten Mann an einen zu Gewalt neigendem Choleriker mit Alkoholproblem gerät, wird die Gefahr ganz für die Kinderaugen inszeniert, doch nach und nach offenbaren sich die Probleme, und die gemeinsame Flucht aus der Ehe, wobei die leiblichen Kinder Mindy und Randy »im Stich gelassen« werden, ist wohl der emotionale Höhepunkt des Films. Und weil Boyhood sich größtenteils gegen eine konventionelle Dramaturgie oder Struktur sträubt, findet dieser Moment bereits recht früh im Film statt, denn die Jugend Masons ist lange noch nicht vorbei, und es ist hier nicht alles auf eine oder zwei prägende Situationen hin inszeniert, sondern auf eine Vielzahl von Schlüsselmomente. So geht es natürlich auch um das politische Bewusstsein, den ersten Liebeskummer, die eigene Einstellung zur Religion oder den Blick auf die Eltern, der sich mit den Jahren verändert. Eine clever umgesetzte Szene, die subtil deutlich macht, wie sich die Geschwister entwickeln, ist etwa der gemeinsame Blick durch das Fenster im ersten Stock auf die vor dem Haus streitenden Eltern. Zuvor wurde mehrfach gezeigt, wie Mason und Samantha sich gegenseitig das Leben schwer machen (insbesondere Samantha hat ein echtes Talent zur hinterlistigen Manipulation), doch wenn sie hier ohne Kabbelei ein Fernglas hin- und herreichen, zeugt das von einer beinahe unbewussten Solidarität. Solche Momente zeigen Linklaters Qualitäten, ohne viel Brimborium auf den Punkt zu kommen.

Die größte Stärke von Boyhood besteht darin, dass die Geschichte immer weitergeht. Die größte Schwäche des Films hingegen ist es, dass der Film irgendwann dann doch zu einem Ende findet, und die vom Regisseur getroffenen Entscheidungen, was noch hinein gehört, wo ein guter Moment für den einsetzenden Abspann ist usw., all dies fügt sich dann letztendlich doch wieder in eine konventionelle Dramaturgie, wo ein mutiger Endpunkt, der die übliche »Geschlossenheit« eines Films herausfordert, hier langfristig befriedigender gewesen wäre. Ich denke hierbei an den mysteriösen Schluss in An Imperial Affliction, das fiktive Buch in The Fault in Our Stars, das mitten im Satz endet (auch, wenn dies hier auf einen plötzlichen Tod der Hauptfigur deutet). Die zündende Idee für einen vergleichbaren Schluss für Boyhood kann ich auch nicht aus dem Zylinder zaubern, aber im Grunde verrät der Schluss des Films (der natürlich die letzten Szenen stärker betont) die unkonventionellen Stärken in den ersten zwei Dritteln. Ich persönlich hätte vermutlich selbst einen sehr offenen Schluss (Mason auf dem Weg zum schwarzen Brett der Schule, wo er schauen will, ob er die Abschlussprüfung geschafft hat; eine Freundin, die einen Schwangerschaftstest macht; etwas in der Art) um einiges besser gefunden als die doch reichlich versöhnlich stimmende Entscheidung Linklaters. Aber ich bin auch nicht der typische Kinogänger, der sich mit Freunden trifft, um abends ins Kino zu gehen, und wenn man danach noch ein Bierchen trinkt, regen sich zwei von drei Leuten über das offene Ende auf und im Endeffekt gibt es dadurch schlechte Mundpropaganda. Denn nicht das Kritikerurteil entscheidet über Gedeih und Verderb eines Films, sondern der Publikumszuspruch.

Auch wenn diverse Kollegen auf der Berlinale ja quasi über alle Maßen von dem Film begeistert waren. Aber das liegt natürlich auch daran, dass im Berlinale-Wettbewerb vor allem politisch aussagekräftige, »wichtige« Filme gezeigt werden, und wenn man dann noch das Pech hat, große Teile des Wettbewerbs sehen zu »müssen« (weil man dafür bezahlt wird und die Tageszeitungen sklavisch über jeden Wettbewerbsfilm ausführlich berichten), dann ist Boyhood, der definitiv sehenswert ist (ungeachtet mancher Kritikpunkte), vermutlich eine Klasse für sich.

Und wie das Kino ist auch das Leben kein Wunschkonzert, da muss man nehmen, was man kriegt, und wenn man sich noch darüber freut und nicht an allem herummäkelt, kann das die Lebensqualität zumindest »gefühlt« verbessern.