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3. März 2015
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Still Alice – Mein Leben ohne Gestern (Richard Glatzer, Wash Westmoreland)
Still Alice – Mein Leben ohne Gestern (Richard Glatzer, Wash Westmoreland)
Still Alice – Mein Leben ohne Gestern (Richard Glatzer, Wash Westmoreland)
Bildmaterial: polyband
Still Alice – Mein Leben ohne Gestern (Richard Glatzer, Wash Westmoreland)
Still Alice – Mein Leben ohne Gestern (Richard Glatzer, Wash Westmoreland)
Still Alice – Mein Leben ohne Gestern (Richard Glatzer, Wash Westmoreland)
Still Alice – Mein Leben ohne Gestern (Richard Glatzer, Wash Westmoreland)


Still Alice
Mein Leben ohne Gestern
(Richard Glatzer, Wash Westmoreland)

USA / Frankreich 2014, Originaltitel: Still Alice, Buch: Richard Glatzer, Wash Westmoreland, Lit. Vorlage: Lisa Genova, Kamera: Denis Lenoir, Schnitt: Nicolas Chaudeurge, Musik: Ilan Eshkeri, Production Design: Tommaso Ortino, mit Julianne Moore (Alice Howland), Kristen Stewart (Lydia Howland), Alec Baldwin (John Howland), Kate Bosworth (Anna Howland-Jones), Shane McRae (Charlie Howland-Jones), Hunter Parrish (Tom Howland), Seth Gilliam (Frederic Johnson), Stephen Kunken (Dr. Benjamin), Erin Drake (Jenny), Daniel Gerroll (Eric Wellman), Quincy Tyler Bernstine (Nursing Home Administrator), Rosa Arredondo (Convention Facilitator), 101 Min. Kinostart: 5. März 2015

10 (manchmal elaborierte) Details, die man beim Schreiben einer Rezension zu Still Alice nicht vergessen sollte:

  1. Richard Glatzer, einer der beiden Regisseur, war durch seine ALS-Erkrankung bereits zu Beginn der Dreharbeiten so stark eingeschränkt, dass er über elektronische Hilfsmittel kommunizieren musste. Sein Kontrollverlust, der einer Alzheimer-Erkrankung nicht völlig unähnlich ist, sorgte für eine besonders persönliche Herangehensweise in der Inszenierung, was sich durchaus auszahlte.

  2. Die Romanvorlage zum Film stammt von der Neurowissenschaftlerin Lisa Genova, die ein großes Spektrum an beobachteten Krankheitsverläufen innerhalb ihres Buches kondensierte.

  3. Dass die Titelfigur Alice Howland (Julianne Moore) eine Linguistikprofessorin ist, vergrößert die Fallhöhe und lässt das Schicksal noch tragischer erscheinen.

  4. Das Identifikationspotential für ein größeres Publikum wird dadurch erreicht, dass es im Film nicht um die »normale« Alzheimer-Erkrankung, also eine »Alte-Leute-Krankheit« geht, sondern um die seltene »familiäre« Frühform, die schon zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr einsetzen kann und vererbbar ist. Julianne Moore ist zwar auch nicht mehr die Jüngste (laut Presseheft soll Alice Howland 50 sein, ich muss zugeben, dass ich bei diesem Detail nicht so genau aufgepasst habe – doch die kleine Geburtstagsfeier, mit der der Film »in medias res« einsetzt, machte auf mich einen anderen Anschein), aber Moore ist eine sehr vitale und bei beiden Geschlechtern beliebte Schauspielerin, die solch einer eher kleinen Produktion die nötige Unterstützung in der Finanzierung ermöglichte und auch dafür sorgen dürfte, dass der Film seine Kosten wieder einspielt.

  5. Für das Publikum unter 30 hat man außerdem in der Rolle ihrer Tochter Lydia den Twilight-Star Kristen Stewart verpflichtet – die für mich persönlich in dieser emotional wichtigen Nebenrolle die bisher stimmigste Performance ihrer Karriere abliefert – nur als schockgefrostete Schwester in Zathura war sie noch überzeugender ;-)

  6. Was Still Alice von thematisch ähnlichen Filmen unterscheidet, ist die sehr subjektiv vermittelte Erfahrung der Krankheit. Über eine sehr intime Kameraführung und eine dauerpräsente Julianne Moore bekommt man Einblicke in ihr Innenleben, in ihren ganz persönlichen Kampf mit der Krankheit, bei dem die Familie nicht sofort als stützende Hilfe involviert wird, sondern Alice ihre Krankheit zunächst sogar verheimlicht (trotz expliziten Wunsch des Arztes, mit einer Bezugsperson zur Untersuchung zu kommen) und hier und dort deutlich aneckt.
    Nicht die Belastung der Familie ist das Thema des Films (wie man es ja als Außenstehender im Umfeld oft erfährt), sondern der ganz persönliche Verlust der Identität, wie es ja auch im Filmtitel betont wird.

  7. Was tatsächlich in den meisten Kritiken nicht angesprochen wird (vermutlich aus Platzmangel), das sind die kleinen Details des Films. Etwa Alices nur bruchstückhaft formulierte Erinnerungen an ihren Vater, der als Alkoholiker erst »inkohärent« und dann »inkontinent« war. Erst im Nachhinein kann man hier einen ähnlichen Krankheitsverlauf erahnen, mit dem Unterschied, dass damals das Krankheitsbild nicht erkannt wurde und man den Absturz einfach Persönlichkeits-Fehlern der Person zuschrieb. Solche kleinen Details gibt es mehrere im Film, etwa das Thema »Schmetterling«, die oftmals »unsichtbaren« Ärzte, die Implikationen der Vererbbarkeit (ich muss zugeben, dass ich sogar eine besonders tragische Komplikation befürchtete, als Alices schwangere Tochter Anna – gespielt von Kate Bosworth – davon erfährt, dass sie das Leiden ihrer Mutter vielleicht bald am eigenen Leibe erfahren werde).

  8. Alles, was hier bisher aufgeführt wurde, bereitet einen nicht darauf vor, dass der Film nebenbei auch sehr unterhaltsam und tatsächlich voller Humor (wenn auch weitaus subtiler als bei Til Schweiger und Dieter Hallervorden) ist.

  9. Julianne Moore gewann bei ihrer fünften Oscar-Nominierung endlich (und verdient) das Goldmännchen als beste Hauptdarstellerin diesen Jahres (der deutsche Kinostart-Termin ist offensichtlich mit Bedacht gewählt), Eddie Redmayne den für den besten Hauptdarsteller. Beides Darstellungen von tragischen Krankheiten, der Unterschied besteht darin, dass bei Redmaynes Stephen Hawking das Leiden vor allem körperlich ist, während er seinen scharfen Intellekt behält, während es bei Still Alice genau andersherum verläuft.

  10. Der Film lohnt sich. Wirklich! Wenn jeder zehnte, der unverständlicherweise für Honig im Kopf Geld berappt hat, diesem Film eine Chance gibt, wäre ich schon glücklich.

  11. Es gibt im Film mindestens drei wirklich großartige Szenen, über die ich mich mit anderen Leuten, die den Film gesehen haben, gerne ausführlich unterhalten würde – aber die sollte man in einer Kritik eher nicht einbringen (oder wenn, dann sehr geschickt und vage formuliert), denn die sollte jeder Zuschauer selbst erleben ohne bereits eine emotionale oder intellektuelle Erwartungshaltung mitzubringen.