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16. Februar 2016 | Thomas Vorwerk für satt.org | ||||||||||
Alle Terminangaben sind sorgfältig abgetippt, aber ohne Gewähr. Die Filme werden immer unter dem Titel aufgeführt, unter dem man sie im offiziellen Berlinale-Katalog findet. |
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Vorführungen:
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Chile 2016, Intern. Titel: You'll never be alone, Buch, Musik: Alex Anwandter, Kamera: Matías Illanes, Schnitt: Felipe Gálvez, Sound Design: Roberto Espinoza, mit Sergio Hernández (Juan), Andrew Bargsted (Pablo), Jaime Leiva (Félix), Edgardo Bruna (Bruno Saulmann), Gabriela Hernández (Lucy), Astrid Roldán (Mari), 82 Min.
Baukräne, eine Skyline im trüben Morgennebel. Man erhält Einblicke in den Alltag zweier Männer, die sich später als Vater und Sohn erweisen werden. Der Vater Juan fährt frühmorgens zur Arbeit. Die Qualitätskontrolle seiner Schaufensterpuppen überwacht er als "Manager" beinahe obsessiv, sein vermeintlicher Partner (streng genommen sein Chef) verfolgt hier ganz andere Prioritäten. (Diese Zusammenfassung mal im Nachhinein mit dem Sohn vergleichen ...)
Der Sohn Pablo steht noch allenfalls am Anfang der Berufswelt, er konzentriert sich eher auf das Nachtleben und seine Sexualität. Dass er manchmal Make-Up und Paillettenkleider trägt, verbirgt er vor seinem Vater ebenso wie seine Schäferstündchen mit Félix, einem Gleichaltrigen aus der Nachbarschaft. Stattdessen übernachtet hin und wieder Mari bei ihm, die in der offenbar stark homophoben Gesellschaft Chiles mit ihrem besten Freund eine Art halbherzige Alibi-Beziehung führt, die aber jeder durchschaut, der sich die Mühe gibt, genauer hinzuschauen.
Pablo und Juan teilen sich zwar die Wohnung, hin und wieder erfüllt der Vater sogar ansatzweise eine erzieherische Funktion: »No one hands you opportunities, you have to take them!« - aber man lebt eher nebeneinander als miteinander, hat sich kaum etwas zu erzählen.
Bildmaterial: Matías Illanes, © Araucaria Cine
Nun wird Pablo das Opfer eines brutalen schwulenfeindlichen Angriffs (die Gewalt findet zwar im Kopf und auf der Tonspur statt, ist aber dennoch ziemlich unerträglich), und während er im Koma liegt, ist sein Vater gezwungen, seine Verleugnung gewisser Lebensumstände aufzugeben. Er kommt dem Sohn näher als je zuvor, weil er aktiv herauskriegen will, wer schuld daran ist, dass er seinen Sohn vielleicht verlieren wird. Jetzt mal abgesehen von sich selbst, der ja unbeteiligt dabei saß, während ihm sein Sohn quasi entglitt.
Zu elegischer, sphärischer Musik irrt Juan durch die Nacht, wird dabei von kläffenden Hunden und Autosirenen begleitet (der Debütregisseur ist eigentlich Musiker), und sein Leben scheint sich in widersprüchliche Aspekte aufzuteilen: Zum einen erfährt er vieles über seinen Sohn, der bei seinen Ballettstunden etwa die selbe Musik verwandte, die auch der Vater mag; zum anderen gerät er durch die immensen Kosten für die traumaplastische Chirurgie in Streitereien mit Ärzten, Anwälten und der Versicherung, und der so unauffällige, fleißige Juan wird immer mehr von seiner Wut zerfressen. Außerdem zerstört der vermeintliche Geschäftspartner Saul auch noch Juans Lebensträume, indem er sich auf eine lukrative Fusion einlässt.
In dieser Inhaltsangabe wurden absichtlich einige wichtige Details der Handlung weggelassen, die die emotionale Wucht verstärken. Aber eine der zentralen Szenen des Films ist ein Gespräch Juans mit Saul, der ihm von seinem BMW vorschwärmt und von Erdnusspäckchen bei Flugreisen faselt (eine Welt, die kaum ferner vom bodenständigen Juan sein könnte), während er nicht merkt, wie die ein Ventil suchende Wut Juans hochkocht. Wenn man diese Szene mit der entsprechenden Pablo-Szene vergleicht und nebenbei noch über die Schaufensterpuppen nachdenkt, kommt man intellektuellen Kern des Films nahe. Aber der emotionale ist noch wichtiger, und gerade der ziemlich tolle Schluss geben einem nicht wirklich das Gefühl, dass dies das Spielfilmdebüt eines Mannes ist, der eigentlich aus einem ganz anderen kreativen Bereich stammt (Anwandter hatte zuvor nur einige seiner Videos realisiert).
Dass im März 2012 ein offen schwul lebender Fan des Musikers auf ähnlich schockierende Weise wie Pablo Opfer eines Anschlags in Chile wurde, inspirierte übrigens das Drehbuch. Dieses Detail ändert für mich nichts am eigentlichen Film, macht aber den Regisseur (und Menschen) dahinter noch eine ganze Ecke sympathischer.
Letzte Vorführung:
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Türkei 2016, Buch: Soner Caner, Kamera: Vedat Özdemir, Schnitt: Ali Emre Uzsuz, Ahmet Boyacioglu, Musik: Ayse Önder Ümit Önder, Kemal Samir Gürel, Kayhan Kalror, Production Design: Özlem Turan, mit Alen Hüseyin Gürsoy (Rauf), Yavuz Gürbüz (Ahmet), Seyda Söz%uuml;er (Zana), Veli Ubic (Bedo), Mohammed Ubic (Zeman), 94 Min., empfohlen ab 9 Jahren
Eine kleine Ortschaft im Tal zwischen zwei Bergen. In der Nacht sieht man das zwischen den Bergen aufkommende Signal- und Gefechtsfeuer. Am morgen dann eine wortlose Beerdigung. Im Schulunterricht wird auf Atatürk geschwört und ein Blinder erzählt vom Koreakrieg und seiner Geliebten. Weil er zwischen seinen rauflustigen besten Freunden Zeman und Bedo sitzt, muss der kleine Rauf raus, obwohl er aufmerksam zugehört hat.
Ganz für ein kindliches Publikum sieht man neben wiedererkennbaren Abläufen wie dem Schulalltag auch staunenswertes wie die Geburt eines Fohlens, aber auch handfesten Humor. Zeman und Bedo haben mal wieder einen Grund zum Rangeln, alle drei Jungs landen in einer regelrechten Schlammschlacht und werden zuhaus grob und mit viel Seife gewaschen.
Obwohl Rauf erst neun Jahre alt ist (der Schauspieler ist elf), beginnt er bereits seine »Lehre«, bei einem Tischler / Zimmermann, dessen gefragtester Artikel Särge sind. Schlaftrunken kommt er jeden morgen zur Arbeit, wo er von seinem Meister mit den wichtigsten Regeln bekannt gemacht wird: 1. Bei der Ankunft fegen; 2. Tee kochen; 3. Verletz dich nicht!; 4. Erlaub dir keine Frechheiten! Das hört sich schlimmer an als es ist, immerhin ist sein Chef ein guter Kumpel seines Vaters und man merkt, dass der Job Rauf auch Freude macht. Und nicht zuletzt ist Rauf schon länger verliebt in die Tochter des Zimmermanns, Zana, die ihn auch sehr sympathisch findet. Aber weil sie bereits 20 ist, gehen ihr ganz andere Dinge durch den Kopf als ein schwärmendes Kind, das nicht einmal halb so alt ist wie sie.
Rauf beobachtet Zana aufmerksam aber unauffällig, sieht, dass sie öfters einen kleinen Brief herausholt, wenn sie sich unbeobachtet fühlt (das zeigt schon, wie unwichtig er für sie ist). Offenbar ein Nebenbuhler!
Mit seinen Freunden unterhält er sich darüber, wie es ist, wenn man verliebt ist. Man wird aufgeregt. Wenn man wirklich liebt, kann man lange die Luft anhalten - die haben also auch nicht wirklich einen Schimmer, während Rauf schon eine »Verabredung« hat, denn er soll Zana für einen simplen Beförderungsjob wo »abholen«, wofür er sich besonders fein macht. Humor mit kleinen Mitteln, der aber etwas Liebenswertes hat. Was durch Raufs aussichtsloses »Verlangen« nur noch verstärkt wird.
Im Katalogtext des Films geht es fast nur um die Farbe Pink und Raufs Bemühungen, Zana ein Tuch in dieser ihm unbekannten Farbe (die ihm auch keiner »erklären« kann) zu besorgen. Doch der Film hat mehr zu erzählen, wenn Rauf etwa allein im heftigen Schneetreiben zu seinem »Job« geht, obwohl die Mitfahrgelegenheit wegen des schlechten Wetters abgesagt wurde. Und dann Zanas Besorgtheit wieder mal fehlinterpretiert.
Die Farbe Rosa spielt gerade am Schluss des Films eine große Rolle, wobei zugunsten der Symbolik die Logik etwas zurücktreten muss. Es gibt ein paar Momente, die Kinder durchaus fordern in dem Film. Meine liebste ist die Szene, wenn die anderen Jungs ihn fragen, ob Musik spielte, als sie ihn anschaute. So wie im Film. Und die korrekte Antwort wäre eigentlich »ja«, aber diese Musik (und das müssen Kinder ja erst mal verstehen) spielte nur im Film den wir sehen, nicht in Raufs Realität. Ein schönes Schlusswort.
Vorführungen:
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Brasilien 2016, Intern. Titel: Don't call me son, Buch: Anna Muylaert, Kamera: Barbara Alvarez, Schnitt: Helio Vilela, Musik: Berna Ceppas, mit Naomi Nero (Pierre / Felipe), Daniel Botelho (Joco), Dani Nefusi (Aracy / Glória), Matheus Nachtergaele (Matheus), Lais Dias (Jacqueline), Luciana Paes (Tia Yara), Helena Albergaria (Sueli), 82 Min.
Mit Que horas ela volta? gewann Anna Muylaert letztes Jahr den Panorama Publikumspreis - und ihr Film bekam auch einen deutschen Kinostart. Da scheint der Festivalstart des Nachfolgerfilms fast obligatorisch. Mãe só há uma knüpft in vielerlei Hinsicht an den früheren Film an. Wieder geht es um einen Generationenkonflikt, bei dem es in einer Eltern/Kind-Beziehung quasi zu einem Tausch kommt. Diesmal nicht aus der Sicht der Mutter, sondern aus der des Sohnes. Pierre kommt aus einem liebevollen Elternhaus, auch wenn die Mutter mittlerweile alleinerziehend ist und ihr Job sie ebenfalls voll einspannt. Aber der 17jährige, seine jüngere Schwester und Mutter Aracy sind ein eingespieltes Team.
Sexuell lässt Pierre nichts anbrennen, mag vielleicht noch in der Ausprobierphase sein, aber ob zwei Frauen oder sein männlicher Bandkollege - nichts scheint ihm fremd. Und er trägt auch gerne Strapse, Make-Up und Frauenkleider, auch wenn er das vor der Familie noch verheimlicht.
Nun wird Felipes Leben auf den Kopf gestellt, als der Verdacht aufkommt, seine Mutter hätte ihn (und später auch die Schwester) aus einer Säuglingsstation gestohlen. Und seine leiblichen Eltern tauchen auf! Statt einer Schwester soll er nun einen Bruder haben, statt Pierre Felipe heißen. Und wohlhabende Eltern mit gewissen Ansprüchen haben.
Vieles an der Storyprämisse wirkt eher unglaubwürdig, das Drehbuch ist ganz auf den Konflikt und den Wandel ausgelegt und schreckt auch vor emotional überhöhten Momenten nicht zurück. Als Aracy von der Polizei abgeholt wird, zelebriert man diese Szene in Zeitlupe, die Frage wird gestellt, ob die Handschellen, mit der man sie abführt, notwendig sind ... doch viel absurder erscheint aus meiner Sicht, dass sie auch noch mit Sirene und Blaulicht weggefahren wird. Die Regisseurin kleckert nicht, sondern klotzt. Wo gerade das Verhaltene und Subtile zu den Stärken von Que horas el volte? zählte.
Wahrscheinlich ist das Schwachsinn, weil so ein Film ja eine gewisse Vorbereitungszeit braucht, aber auf mich wirkte es teilweise auch so, als sei Mãe só há uma teilweise regelrecht auf das Panorama-Programm zugeschnitten. Wenn wir Pierres neuen Bruder Joco kennenlernen, bekommen wir etwa eine halbe Minute mit ihm allein, während der wir feststellen dürfen, dass er einen Ohrring trägt und manche Handgesten feminin bis - ist das noch politisch korrekt? - »angeschwult« wirken. Bitte weiterlesen, ich komme zum Punkt.
Der Konflikt zwischen Pierres reichen, gutbürgerlichen neuen Eltern und dem so gar nicht an Fußball und Bowling interessierten rebellischen Teenager steht natürlich im Zentrum des Film, aber auch der Aufbau einer »von-null-auf-hundert« Geschwisterliebe gehört zu den interessantesten Aspekten dieses kurzweiligen und unterhaltsamen Films. Warum bei der Beziehung zwischen Joco und »Felipe« nicht einfach die Rebellion gegen den aufgrund seiner Körpergröße etwas lächerlich wirkenden Vater genügt, um ihn zu einem »Vorbild« zu machen, mit dem der neue Bruder sich mit Abstand am besten versteht, will mir nicht ganz einleuchten. Joco wirkt in seinen Szenen mit Gleichaltrigen ziemlich »straight«, aber der Film liefert vage angedeutet bestimmte Ansatzpunkte, die womöglich bei der besonderen Zusammensetzung des Panorama-Publikums von Vorteil sein könnten, wirkt hier überzogen und unnötig. Gerade die Schlusseinstellung hätte auf mich viel stärker gewirkt, wenn ich dabei nicht das Gefühl gehabt hätte, dass man sich hier konkret bei einem Teil des Publikums »anbiedert«. Dann hätte man dieses Thema lieber besser ausarbeiten und in die Dramaturgie des Films einfließen lassen sollen. Aber das ist mal wieder »Jammern auf hohem Niveau«, alles in allem hat mich der Film durchaus überzeugt. Nur war der Vorgänger einen Ticken besser, weil man dabei das Gefühl hatte, dass die Regisseurin eine Geschichte erzählt, die ihr am Herzen liegt - und auf die Art, die ihr zusagt. Diese Souveränität und Authentizität fehlt diesmal hier und dort - nicht zuletzt natürlich auch durch das kompliziert zusammengebastelte Handlungsgerüst. Manchmal ist weniger einfach mehr.
Nun kommt noch ein Geständnis. Manchmal frage ich mich, was meinen Langzeitleser so an meinen Texten gefallen könnte. Und ich bilde mir ein, dass ich eine gewisse »Ehrlichkeit« mitbringe, die unter Filmkritikern eher selten ist (zumindest in den Texten). Wenn ich etwas nicht verstehe, sage ich das manchmal auch, wenn ich nicht genau weiß, was ich von einem Film halten soll, ebenso. Oder wenn ich Vorbehalte habe, die vielleicht auch unfair sein könnten. Wenn ich eine Romanvorlage gelesen habe, gebe ich damit gerne ab, aber wenn ich das Buch nicht gelesen habe (Der Weg zurück, Das Tagebuch der Anne Frank), verberge ich das nicht, sondern gebe auch mal zu, dass ich es nicht bis zum Buchladen geschafft habe, sondern nur bis Wikipedia. Schon beim Studium hat mich dieses ganze Wissens-Bluffen genervt, wenn ich nur die klassischen Musikstücke benennen kann, die in den Filmen von Kubrick und Ren & Stimpy vorkommen, dann ist das eben so.
Das war eine lange Vorabpredigt, nun komme ich zu einer der peinlichsten Beichte, die ein Filmkritiker nur von sich geben kann. Vor langer Zeit liefen auch mal auf der Berlinale die Resnais-Filme Smoking und No Smoking, und ich weiß nicht mehr genau, ob ich einen dreiviertel Film brauchte oder sogar den Anfang des zweiten Films, bis ich bemerkte, dass die beiden Filme ja nur zwei Schauspieler in zusammen sechs oder acht Rollen haben. Vielleicht liegt das auch am Untertitel-Lesen oder an der großartigen Leistung der Darsteller.
Nun aber nach langem Umweg zurück zum Film: zirka eine Woche nach der Sichtung schrieb ich diesen text und tippte auch die Stabangaben ab. Dabei konnte ich mich noch gut an die zwei Rollennamen von »Pierre« und »Felipe« erinnern, wunderte mich aber, dass bei der Schwester, die ebenfalls bei ihren neuen Eltern ihren ursprünglichen Geburtsnamen zurückerhielt, offenbar irgendwas schiefgelaufen sein muss bei der Katalogerstellung, denn die hieß doch Jacqueline und der doppelte Rollenname fand sich bei einer anderen Darstellerin ... und irgendwann klingelte es dann! Interessante Casting-Idee! Da capo!
Vorführungen:
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Indien 2015, Intern. Titel: The Trap, Dt. Titel: Die Falle, Buch: Jayaraj Rajasekharan Nair, Joshy Mangalath, Lit. Vorlage: Anton Chekov, Kamera: MJ Radhakrishnan, Schnitt: B Ajithkunar, Musik: Kavalam Narayana Panicker, mit Ashant K Sha (Kuttappayi) Kumarakom Vasavan (Valyappachayi), Shine Tom Chacko (Mesthiri), Sabitha Jayaraj (Bettys Frau), Thomas J Kannampuzha (Betty), Hafis Muhammed (Tintu), 81 Min., empfohlen ab 9 Jahren.
Der traurigste der vielen traurigen Kinderfilme ist vermutlich Ottaal. In Life on the Border sind die Geschehnisse schlimmer, aber in diesem Film wird kindlichen wie erwachsenen Zuschauern schon einiges abverlangt. Nicht zuletzt durch eine wahrlich hinterhältige Rahmenhandlung.
Im Dunkeln, in einem mit Kindern überfüllten, armseligen Schlafzimmer, schreibt der kleine Kuttappayi bei Kerzenschein einen Brief an seinen Großvater. Weinend. Kurzzusammenfassung des Briefes: »No christmas for me!« Dann folgt ein fast den gesamten Film umspannender Flashback, der die glücklichen Zeiten mit dem Opa zeigt. Zwar wurde der Kleine gerade zum Vollwaisen und der Opa lebt in ärmlichen Verhältnissen und muss seinen Enkel mitschleppen, während er per Boot unzählige kleine Enten über den Fluss bugsiert, doch für ein Kind ist so ein Job natürlich auch irgendwie ein tolles Abenteuer. und eine Ablenkung. Man kann sich jedenfalls das »Oh, wie süüüß!« in der Kindervorstellung vorstellen.
Wenn man nicht um das dicke Ende wüsste, könnte man annehmen, dass der Kern des Films aus einer Freundschaft mit einem eindeutig aus besserem Hause stammenden anderen Jungen besteht. Im Gegensatz zu Kuttappayi darf Tinku (laut Stabangaben Tintu) zur Schule gehen, und ähnlich wie in Woorideul beneiden das arme und das reiche Kind einander. Denn während Tinku in der Schule aufpassen muss, was der Lehrer über den Entwicklungskreislauf des Frosches zu erzählen hat, ist Kuttappayi immer ganz nah an der Natur. In einer seltsamen Geste des »Vorsagens« reicht er dem ohne Hausaufgaben bloßgestellten noch unbekannten Gleichaltrigen einmal etwa einen Schmetterlingskokon, der sogar den Lehrer verzückt.
Das Traurigste an dem Film ist das Potential dieses aufgeweckten kleinen Knaben, der schließlich zur Kinderarbeit in einer Feuerwerksfabrik landet. Und dieses schlimme Ende, das aus einer frei adaptierten Kurzgeschichte von Anton Chekov (Vanka) stammt, zelebriert der Film geradezu. Das indische Bollywood-Kino ist ja bekannt für seine emotionale Überhöhung, aber auch ohne Musicaleinlagen kann man Taschentücher fordern.
Im Verlauf des Films dachte ich mal, dass den kindlichen Besuchern die ganze Tragik der Geschichte womöglich verborgen werden könnte (»Mami, wieso weinst Du denn?«), aber es wird schon ziemlich deutlich gemacht, dass Kuttappayi seinen neuen Freund und seinen kleinen Hund zurücklassen muss und stattdessen sogar geschlagen wird. Der Film treibt es auf ziemlich unerträgliche, aber irgendwie auch bewundernswerte Weise auf die Spitze, wie traurig man eine Geschichte durch ein paar Zusatzinformationen noch machen kann, und einzig die poetische Aufbereitung des Elends bleibt den Kindern womöglich erspart. Ich würde den Film vielleicht sogar empfehlen, bin mir aber sicher, dass ich ihn nicht einmal mit meiner 17jährigen Nichte zusammen sehen wollte, so hinterfotzig und erbarmungslos ist das Ganze.
Einzige Vorführung:
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Irak / Syrien / Kurdistan 2015, Produktion / Konsultation: Bahman Ghobadi, Shaho Nemati, Bijan Zamanpira, Omid Rastbin, Mohammud Torevarian, Hamid Ghavami, Schnitt: Shabnam Hosseini, Musik: Babak Mirzakhani, 73 Min., empfohlen ab 12 Jahren
Das Thema Flüchtlinge ist dieses Jahr recht stark vertreten auf der Berlinale (um zu demonstrieren, wie sehr man der Zeit voraus ist, hatte man auf berlinale.de sogar mal ein altes Interview zu Michael Winterbottoms In this World hervorgekramt), aber während ich mit der Möchtegern-avantgardistischen Herangehensweise in manchen Forum(Expanded)-Beiträgen wenig anfangen konnte, appelliert diese Generation-Sondervorführung wirklich ans Herz. Der Gag des Film ist es, dass die Regisseure der acht kurzen Episoden allesamt 12 - 14jährige Kinder sind, die, während sie in Auffang-Flüchtlingslagern festhängen, so etwas wie »ihre« Geschichte erzählen dürfen. Unterstützt durch Consultants.
Die inhaltliche Prämisse klingt hierbei zwar ein wenig wie ein Deutschaufsatz »Ich heiße soundso und will euch mein Leben zeigen«, aber schon dadurch, dass wir die Filmemacher jeweils zu Beginn der Filme kennenlernen und einen fehlenden Arm oder ein verbranntes Gesicht nicht ignorieren können, bekommen die Filme gleich ein fühlbares »Gewicht«, dass ich bei den intellektuellen Fingerspielereien, die sich gekonnt bei den Medien anbiedern, eher vermisse.
Hierbei ist es ausnahmsweise auch so, dass die »Fehler« der Filmemacher nicht zu Lasten der Filme gehen, sondern vor allem für die Jugend und Unschuld stehen, die durch die äußeren Umstände oft vernichtet werden - aber man spürt in den Filmen dennoch den Enthusiasmus und Optimismus. Und die Kreativität.
Laut Presseheft erzählen die Jugendlichen tatsächlich alle »ihre« Geschichte, aber zumindest in zwei Filmen gelingt es, dem Zuschauer auch noch eine Metaebene nahezubringen, die schon eine deutliche Transferleistung zeigt. Zu meinen Favoriten unter den kleinen Filmen gehört etwa Our Film is better, in dem es um eine Beamer-Vorführung von Clint Eastwoods American Sniper in einem Zelt geht, die zunächst auch noch gut besucht ist. Doch als es in Sichtweite des Flüchtlingslagers zu realen Auseinandersetzungen geht, bei denen die Zuschauer bei den Bombeneinschlägen auch noch miterleben, wie nah diese bei den zurückgelassenen Wohnungen und Häusern detonieren, kann so ein schnöder Hollywoodschinken natürlich nicht mithalten. Da klingt auch so etwas wie ein leichter politischer Kommentar mit.
Der erste Film der Zusammenstellung demonstriert gleich die Stärken und Schwächen des Ansatzes. Wenn der Protagonist als einziger Verwandter seiner Schwester über deren Krankheitszustand nur eingeschränkt informiert wird, weil man das »Kind« mit bestimmten Zusammenhängen nicht belasten will, ist diese narrative Ellipse erschütternder als jede Flashback-Reinszenierung mit wackelnder Kamera. Gleichzeitig verliert der Film durch seine allzu einfach lesbare Symbolik der »überfahrenen Konservendosen« auch viel von seiner Brisanz. Das Aufsatzmäßige ist hier ein Feind des Films.
Das konkrete Gegenstück dieser Schwäche erlebt man im letzten Beitrag, Serenade of the Mountains: Die 1:1-Setzung der Filmemacherin mit der Filmfigur evoziert zunächst eine vermeintliche »Überlegenheit« des Zuschauers. Wenn Zohour Saeid von der Suche eines Mannes nach einem Mädchen mit einer wunderschönen Gesangsstimme erzählt, beginnt der Film wie ein Prinzessinnenmärchen, ehe sich dann herausstellt, dass diese vermeintliche »Prinzessin» die Regisseurin selbst ist, die aber nie wieder singen will, weil es ihr verstorbener Vater war, der ihr einst das Singen beigebracht hat. So wird die Selbstdarstellerin auch noch zu einer Art Märtyrerin, die aber von dem Musiker, der schlichtweg »nomeansno« nicht zu verstehen scheint, weiterhin bedrängt wird, weil es ja um eine Botschaft ginge, die so immens wichtig für das gemeinsame Land sei undsoweiter. Und während man als Zuschauer kritisch damit umgeht, dass sich Zohour zur fast übermenschlichen Heldin voller moralischer Festigkeit aufspielt, dreht der Film diese Position abschließend man einem kleinen Kniff wieder um und demonstriert, dass die Regie nicht selbstverliebt, sondern äußerst clever agiert hat.
Selbst die etwas vermurksten Takes innerhalb der Filme, wenn man etwa sieht, dass eine Darstellerin sich das Grinsen nicht verkneifen kann, wenn sie sich eigentlich von der Kamera wegdrehen und tiefe Trauer darstellen soll, erinnert einen nur an die Lage und das Alter der Kinder. In einem Alter, in dem man normalerweise höchstens mit dem Schrecken der Pubertät konfrontiert wird, haben sie bereits harte Schicksalsschläge hinter sich, aber sie bleiben dennoch Kinder - nur mit teilweise vernarbten Seelen. Wenn während des langen Abspanns Szenen der Dreharbeiten gezeigt werden, wirkt das wie ein schonender Umgang mit dem Zuschauer, der die bereits erwähnte Hoffnung und den unkaputtbaren Optimismus hier direkt miterleben kann und trotz mancher brutaler Wahrheit, die man in der Flüchtlingsdiskussion mitunter vermisst, mit einem positiven Gefühl das Kino verlässt. Und im günstigsten Fall mit etwas Motivation, Kreativität und Willen zur Veränderung.
Frankreich 2015, Intern. Titel: Our heritage, Co-Regie: Caroline Poggi, Buch: Jonathan Vinel, Caroline Poggi, Kamera: Mathieu Gaudet, Schnitt: Jonathan Vinel, mit Lucas Doméjean (Lucas), Sarah-Megan Allouch (Anaïs), 24 Min.
Berlinale Shorts IV war das erste von fünf Kurzfilmprogrammen, das der Presse präsentiert wurde. Und mein Eindruck war, dass die Filmauswahl einen ein wenig vor den Kopf stoßen sollte - um nicht zu sagen: zu vergraulen. Ich war vor allem wegen Personne von Christoph Girardet und Matthias Müller hingegegangen - und ich finde, die haben schon überzeugendere Arbeiten abgeliefert. Nach vier Filmen hatte ich jedenfalls ziemlich die Schnauze voll - aber ich wollte dem fünften zumindest eine Chance geben...
Gleich die erste Einstellung faszinierte schon auf eine eigentümliche Art. Man sieht eine nicht besondere Hausfront, mit gutbürgerlichem Rasen davor. Und rechts auf diesem Rasen sitzt eine offensichtlich computeranimierte Katze, während eine junge Frau von links zur Haustür schreitet. Diese Katze war so absurd, dass ich wissen wollte, was das soll. Doch stattdessen wirkt der Film zwischenzeitig fast wie konventionelles Erzählkino, denn Lucas erzählt uns aus dem Off, dass er erstmals seine Freundin zu sich nach Haus eingeladen hat - weil die Eltern nicht da sind. Sturmfreie Bude also! Sie möchte sein Zimmer sehen, das Ganze ist auch eigentlich ganz gut inszeniert. Dann gibt es noch einen Abstecher in das Schlafzimmer seiner Eltern, wo ein großes Foto an der Wand hängt (seltsamer Zoom), und Lucas erklärt, dass sein Vater sich dafür einsetzt, vom Aussterben bedrohte Tigerarten zu retten (das Foto zeigt einen Mann mit einem jungen Tiger). Es gibt eine kurze Ausführung über Tigerarten und dann sieht man - halbwegs gut animiert, aber nicht besonders toll ins Bild eingebaut - zwei Tiger, die glaube ich links und rechts von der einen Bürgersteig abschreitenden Anaïs diese »flankieren«.
Kurzer Hinweis: ich habe bei diesem Film ausnahmsweise keine Notizen gemacht und hier und da könnte ich an der Reihenfolge der Szenen scheitern. Aber ich schildere den Film so, wie ich ihn Erinnerung habe - auch, um mein Unverständnis zu demonstrieren.
Ich glaube, relativ schnell nach der Tigerszene (obwohl das mit dem Bürgersteig eher so klingt, als wäre Ana√Øs schon auf dem Weg nach Hause) gibt es einen überraschenden und harten Schnitt zu einer Sexszene der beiden. Erst eine etwas verhuschte Einstellung, die wohl einen Blowjob darstellen soll, dann in Großaufnahme ein per Frauenhand massierter Ständer, und dann geht's zur Sache im Doggystyle, aber noch halbwegs »züchtig« eingefangen, indem die Kamera vor ihr drapiert ist und ihre langen blonden Haare einigermaßen viel verdecken. Irgendwann gibt es noch einen »Ritterschlag«, den ich gerade nicht einbringen kann, jedenfalls verabreden sich die beiden für abends noch mal.
Nun sieht man Lucas allein Zuhaus, auf einem Monitor drehen sich langsam computeranimierte Autos. Und Lucas erzählt von seinem Vater, dem Pornofilmer Pierre Woodman, wobei dessen Casting-Sessions junger Mädchen mit Lucas' eigenen eher bescheidenen sexuellen Erfahrungen in einen Kontext gestellt werden. Irgendwann hatte er sich mal in eine von zwei Zwillingsschwestern verliebt, doch der Vater riet ab - und dazu sieht man dann, wie der Vater gerade Zwillinge animiert, sich auszuziehen. Anfänglich dachte ich noch, das solle implizieren, dass es sich um die selben Zwillinge handelt, aber das stimmt glaube ich nicht.
Zwischendurch gibt es wieder Animationssequenzen, wo angedeutet wird, dass Lucas' Geist sich vom Körper entfernt, der Computerbildschirm hat auch eine out-of-body-experience, und irgendwie kommt Lucas' wegen der ganzen Computersache um einiges zu spät zur Verabredung, aber sie verzeiht ihm.
Das romantische Drumherum des ersten Mals (auch, wenn die beiden in der Sexszene schon reichlich »professionell« vorgehen) steht im Kontrast zum »Erbe« des Vaters, was darin kulminiert, dass man in einer langen Folge lauter verpixelte (nicht einmal absichtlich verfremdet, sondern vermutlich einfach in schlechter Qualität heruntergeladen) Bilder von jungen Pornostarlets sieht, die allesamt ihre Hinterseite präsentieren (sozusagen »full rectal nudity«), während sie möglichst natürlich lächelnd (hörbare »Regieanweisung«) dahinter den Kopf in Richtung Kamera drehen. Dazu kann man dann auch noch sehr gut die Webseite von »Woodman« sehen, was dem Ganzen noch einen Anstrich von Schleichwerbung gibt.
Man sieht dann noch mal das umschlungene (angezogene) Liebespaar, die beiden sagen sich gegenseitig »Ich liebe dich«, und in einer weiteren etwas vermurksten Animation sieht man so was wie ein Sternbild, das dann vermutlich »Die Liebenden« heißen würde.
Ob Pierre Woodman tatsächlich was mit Tigern am Hut hat, stand nicht in seinem Wikipedia-Eintrag. Ich bin mir auch nicht sicher, ob man im Film zweifelsfrei erkennen kann, dass der Typ auf dem Tigerfoto der selbe ist, der später in den Pornoclips hin und wieder zu sehen ist. Vermutlich gibt es auch im Französischen ein Wort, das wie im Deutschen und Englischen (»Muschi« bzw. »pussy«) eine Katze und noch was anderes bezeichnen kann. Fast wie ein Höhepunkt (sozusagen der Cumshot des Films) wird übrigens der sehr beziehungsreiche Titel eingeblendet.
Im Bereich Kunst geht es ja oft auch um Schockeffekte, und der Film hat auch ein paar interessante Denkansätze - aber vieles ist einfach so unglaublich schlecht umgesetzt (insbesondere die Computeranimationen und die Pixelpornos), dass es wirklich schon fast wehtut - Stichwort Fremdschämen. Ich rechne es den Berlinale-Programmierern hoch an, dass das Kurzfilmprogramm IV nicht am Valentinstag aufgeführt wurde. Aber einigermaßen ärgerlich ist der Film auch an jedem anderen Tag. Fördergelder gab es dafür übrigens wohl auch.
Demnächst in Cinemania 144:
Aloys (Tobias Nölle, Panorama), And-ek ghes... / One fine day... (Colorado Velcu & Philip Scheffner, Forum), Bring me the Head of Tim Horton (Guy Maddin, Evan & Galen Johnson, Forum Expanded), Weekends (Lee Dong-ha, Panorama) und Woorideul / The World of Us (Yoon Ga-eun, Generation Kplus).
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