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18. Februar 2016 | Thomas Vorwerk für satt.org | ||||||
Alle Terminangaben sind sorgfältig abgetippt, aber ohne Gewähr. Die Filme werden immer unter dem Titel aufgeführt, unter dem man sie im offiziellen Berlinale-Katalog findet. |
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Vorführungen:
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Republik Korea 2016, Intern. Titel: The World of Us, Buch: Yoon Ga-eun, Kamera: Min Jun-won, Kim Ji-hyun, Schnitt: Park Se-young, mit Choi Soo-in (Sun), Seol Hye-in (Jia), Lee Seo-yeon (Bora), 95 Min., empfohlen ab 9 Jahren
Der koreanische Kplus-Kurzfilm Sprout war vor zwei Jahren einer meiner Favoriten des Jahrgangs, und wenn die Generation die Regisseurin Yoon Ga-eun für ihr Spielfilmdebüt zurückholt, lasse ich mir das natürlich nicht entgehen. Und erneut demonstriert sie ihr Talent für Schauspielführung bei Kindern (diesmal mit zehn Jahren etwas älter) und erzählt damit eine für das Zielpublikum einigermaßen komplexe Geschichte.
Es beginnt wie Brian De Palmas Carrie: mit Schulhof-Mobbing nicht bei Volley-, sondern diesmal beim Völkerball. In einer erstaunlich langen Einstellung sind man eine vermeintlich zufällige Gruppe von Schülerinnen, aus der schnell Sun (Choi Soo-in) heraussticht, auch wenn man vor allem miterlebt, wie rings um sie herum jeder gewählt wird, während ihre Miene immer länger wird. Dann wird noch Bösartiges geraunt (»war nur Spaß!«) und beim Spiel sorgen Mitglieder der eigenen Mannschaft dafür, dass sie für einen angeblichen Regelverstoß an den Spielfeldrand verbannt wird. Wenn Sun eine heruntergefallene Einladung zur Geburtstagsfeier der »queen bee« Bora (Lee Seo-yeon) findet und schüchtern bei dieser abgibt, ahnt man schon, dass Boras Zugeständnis, Sun könne auch kommen, wenn sie nur die leidige Pflicht Boras, nach Schulschluss noch das Klassenzimmer aufzuräumen übernimmt, zur nächsten Erniedrigung führen wird.
Doch dann folgen die Schulferien, man erlebt, wie Sun zuhause bei ihrer Mutter und dem kleinen Bruder voll akzeptiert wird, und dann erlebt man die zarte Freundschaft mit der gleichaltrigen Jia (Seol Hye-in), die neu zugezogen ist und eigentlich erst im nächsten Schuljahr in die Klasse kommen wird. Obwohl Jia offensichtlich aus einem besserverdienenden Elternhaus stammt, sind sich die beiden schnell sympathisch, entdecken die jeweils begehrenswerte Welt der anderen - und es könnte alles so schön sein. Doch dann taucht Bora wieder auf, und trotz Suns Bemühungen, ein Treffen ihrer neuen besten Freundin mit der Erzfeindin zu verhindern, landen die beiden ausgerechnet im der selben Nachhilfeeinrichtung, die sich Suns Mutter nicht leisten könnte.
Aus der Sicht der Hauptfigur ist die Ausgrenzung natürlich sehr schmerzhaft mitzuerleben, und wenn sich dann auch noch herausstellt, dass die unüberwindbare Hürde nur die Einkommensklasse der Eltern ist, wirkt das Ganze noch unfairer. In der keimenden Freundschaftsphase erlebt man, wie Sun ihr eingeschränktes Taschengeld mit Fantasie kompensiert: Sie verzaubert Jia mit einem selbstgemachten Freundschaftsband und bei einem »Sleepover« basteln sich die beiden Mädchen gemeinsam »natürlichen« Nagellack. Doch später, als Jia sich distanziert und man erlebt, wie Suns kleines Herz zu zerbrechen droht, hört man den idiotischen Satz »teure Dinge sind hübscher«. Wie ein Countdown wirken bei der gefährdeten Freundschaft die langsam »auswachsenden« mit Blütenblättern gefärbten Fingernägel der beiden.
Für mich war eine der unerträglichsten Szenen des Films eine, in der Sun mit einem doch ziemlich gefährlichen Teppichmesser ihr Freundschaftsband zerschneidet und ich das Gefühl hatte, dass nun ihr kleiner Bruder, der aus dem Zimmer, in dem das Messer lag, etwas holen soll, in großer Gefahr sei. Aber offenbar habe ich da überreagiert, vielleicht hat sogar kaum jemand im Auditorium diese Szene als so dramatisch erlebt.
Dem kleinen Bruder Yoon, der mehrfach in die Geschichte eingebunden wird (und der auch einfach herzallerliebst ist) schiebt die Regißeurin dann auch die vielleicht weisesten Sätze des Films in den Mund. Von Anbeginn ist Yoon immer wieder Opfer eines »zu grob spielenden« Gleichaltrigen, der es irgendwie auf ihn abgesehen zu scheinen hat. Mutter und Schwester wundern sich, dass der Kleine immer wieder in Raufereien mit diesem vergleichbaren Bully verwickelt wird, doch irgendwann gibt es dann eine Szene, wo Yoon zurückschlägt (bei Sun verlaufen diese Szenen eher ohne Handgreiflichkeiten). Yoon erklärt seiner großen Schwester, was vorgegangen ist, doch nach seinem Befreiungsschlag haut ihn der andere Junge erneut. Sun will ihm helfen und kommt mit dem Ratschlag »Du hättest zurückschlagen sollen!«. Doch Yoon hat längst den Kern des Konflikts durchdrungen: »Aber wann spielen wir dann?«
Vorführungen:
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Deutschland 2016, Intern. Titel: One Fine Day..., Buch: Colorado Velcu, Merle Kröger, Philip Scheffner, Kamera: Colorado Velcu, Philip Scheffner, Parizan Nistor, Casino Nistor, Mario Ilie, Emporio Ilie, Naomi Nistor, Fecioara Velcu, Zefir Chiciu, Jeckichan Velcu, Rata Miclescu, Calil Velcu, Donadoni Miclescu, Bernd Meiners, Song: Colorado Velcu, Parry Nistor, Schnitt Musikvideo: Philip Scheffner, 93 Min.
In Philip Scheffners Revision war der aus Rumänien stammende Colorado Velcu noch ein »Protagonist«, jetzt ist er »Co-Regisseur«. Das bedeutet ganz konkret, dass der erfindungsreiche Dokumentarfilmer Scheffner Velcu und einigen seiner Familienmitglieder Kameras in die Hand drückte und die vielköpfige und kompliziert verzweigte Flüchtlingsfamilie schildert selbst ihren Einzug in eine neue Wohnung (in Berlin), das tägliche Leben, aber auch die Probleme im Umgang mit deutschen Behörden.
Das etwas fragile Realitätsgebäude des Films wird schon in der allerersten Szene adressiert, in der man Colorado in einer Tonkabine sitzen sieht, wo er gerade den Soundclip hört, in dem er selbst erklärt, dass er ab sofort Tagebuch führen will. Er ist aber mit seiner Vocal-Performance noch nicht zufrieden...
Von vornherein ist somit zum einen klar, dass der unerfahrene »Aushilfs«-Regisseur hohe Ansprüche an seinen Film hat. Zum anderen merkt man aber auch die Führung Scheffners, die das Projekt begleitet. Und gerade aus den leichten Reibungen zwischen seinen beiden Regisseuren zieht der Film seinen Reiz, mit dem beide Regisseure immer wieder spielen.
Bildmaterial: © Khaled Abdulwahed
Das Spiel mit den Ebenen (und den Vorurteilen, die einem begegnen) beherrschen selbst die nur am Rand mit dem Filmemachen beschäftigten Familienmitglieder ziemlich schnell. Während man im Kollektiv mal wieder einen aktuellen Rohschnitt begutachtet, wird gewitzelt: »Das mit dem 'Lass uns in ein paar Häuser einbrechen' haben wir wieder herausgeschnitten«. Und in der nächsten Szene wird gleich das nächste Klischee bedient (aber auch in Frage gestellt), weil ein neues Familienmitglied geboren wurde.
Abgesehen vom politischen Inhalt des Films (der einem mal eine andere Perspektive aufzwingt und gleichzeitig zeigt, dass hier arbeitswillige, intelligente und kreative Menschen mit einer deutschen Bürokratie kämpfen, auf die diese Adjektive nicht so recht passen) ist der Film vor allem dramaturgisch und inszenatorisch sehr interessant. Man weicht zwar vom rein Dokumentarischen ab, weil man öfters erkennt, dass Szenen konkret inszeniert sind oder man bei einem vermeintlich authentischen Gespräche zwar dauernd mit Schuss-Gegenschuss arbeitet, man aber die entsprechenden Kameras nie sieht (weil man nur mit einer Kamera aufgezeichnet hat und das Gespräch entweder geskriptet oder gut wiederholt wurde). Aber hier wird halt das Inszenatorische dokumentiert, wie ja schon von der ersten Szene an klar betont wurde.
Teilweise wirkt es so, als wäre »Ober«-Regisseur Scheffler für solche Szenen zuständig, wenn allein dadurch, dass der Schnitt die Inszenierung aushebelt, der »Beschiss« klar wird. Doch auch Colorado und seine Familie gehen auf dieses Spiel voll ein. Und sie wissen genau, was gut in den Film passt. Selbst, wenn es nur eine (Werbe-)Kreditkarte ist, die man in der Post fand.
Während man noch nach Monaten auf das erste Kindergeld wartet, lernt man als Zuschauer langsam die Familie kennen und wundert sich ein wenig über die Vorliebe für Bollywood-Kino, die immer mal wieder ins Spiel kommt (später schaut man sogar Om shanti om im Arsenal ... eine Hand wäscht die andere, auch in der Forumsprogrammierung.
Letzte Vorführung:
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Schweiz / Frankreich 2016, Buch: Tobias Nölle, Kamera: Simon Guy Fässler, Schnitt: Tobias Nölle, Myriam Flury, Musik: Tom Huber, Beat Jegen, Production Design: Su Erdt, mit Georg Friedrich (Aloys Adorn), Tilde von Overbeck (Vera), Kamil Krejci (Herr Schoch), Yufei Lee (Yen Lee), Koi Lee (Herr Lee), Sebastian Krähenbühl (Hauswart), Karl Friedrich (Harald Adorn), Agnes Lampkin (Julie Kramer), Haroldo Simai (Drag Queen), 91 Min.
Aloys (Georg Friedrich) ist ein Privatdetektiv, der ganz in seinem Überwachungsjob aufgeht und auch über das berufliche Beobachten hinaus am liebsten alles mit seiner Videokamera aufzeichnet, um es dann wieder und wieder genau zu inspizieren. Durch den Tod seines Vaters, mit dem zusammen er die Detektei »Adorn und Sohn« führte, wird er aber aus der Bahn geworfen, und als er nach einer durchzechten Nacht in einem Stadtbus einschläft, wird ihm seine Kameraausrüstung nebst wichtiger Bänder gestohlen.
Aus dem Paranoia-Thriller wird jetzt eine etwas freakige Romantic Comedy, denn die Kameradiebin kontaktiert ihn und informiert ihn unter anderem davon, dass seine Katze unter Magnesium-Mangel leidet. Die Dame am anderen Ende des Telefons hat aber ähnliche ... ähm ... »soziale Defizite« und so entwickelt sich die zarte Liebesgeschichte zunächst vor allem über Telefonate, wobei das angeblich von japanischen Neurologen erfundene »Telefonwandern« einen neuen Raum eröffnet, in dem die beiden umeinander herumscharwenzeln.
Erste Versuche, sich in der realen Welt zu treffen, misslingen eher. Inzwischen ist Aloys mehr selbst der Beobachtete als der Detektiv. Irgendwann sieht es ganz so aus, als sei die Telefondame Vera eine verstorbene Tierpflegerin aus Aloys' Nachbarschaft, und er bekommt über Polaroids Einblicke in ihr Leben, gießt ihre Blumen. Doch ist sie wirklich tot oder ist alles noch eine Spur komplizierter?
Die ganze Filmwelt wirkt wie aus den 1970ern und es kommt auch nicht als Überraschung, wenn der Regisseur Tobias Nölle sagt, dass er für die Rolle von Aloys' Vater gerne Gene Hackman gehabt hätte, der ja in Coppolas The Conversation einen Harry spielte (jetzt spielt Georg Friedrichs Vater den »Harald« Adorn, was aber auch reizvoll ist).
Auch, wenn der Film seine Psycho-Fantasie-Show eine Spur zu weit treibt, überzeugt Aloys schon durch sein sperriges Paar in den Hauptrollen. Tilde von Overbeck als Vera ist genau jener fragile, altkluge aber auch irgendwie verführerische Typ von Frau, der als femme fatale eines altmodischen Film Noir ebenso überzeugen kann wie als etwas spinnerter love interest mit Berührungsängsten. Und Georg Friedrich kann als Einmannshow so manchen Film alleine stemmen. Allein schon seine Szenen mit der (offenbar »geerbten«) Katze sind Gold wert, denn im Grunde behandelt er sie ähnlich launisch wie die Telefon-Unbekannte: mal schroff bis gehässig (»Na trink, Du dumme Sau!«), dann wieder auf eine Art, die auch seine Einsamkeit und seine Sehnsucht nach menschlicher Nähe offenbart (»Katze? Mauz-mauz! Iss, iss! Fressi!«)
Überhaupt sind die Dialoge neben der ausgefeilten Bildsprache (mit hübschen Match-Cuts) ein Meisterstück. Die muss man sich auf der Zunge zergehen lassen, wobei die eigentümlichen Stimmen der Darsteller bei bloßen Ablesen noch fehlen: »Aloys ist mir zu persönlich, lieber Adorn.«, »Frau Schock, sie sollen uns nicht während der Observation kontaktieren.«, »Deine Vorstellungskraft reicht nicht für einen Tannenzapfen.«, »Ich wollte nur mitteilen, das Reptil ist in unserer Obhut!«, »Ich muss gestehen, deine Stinkbude hat schon Stil!« und dieses schöne Schlusswort:
»Jedes Fest geht irgendwann einmal zuende. Und was bleibt, sind einsame Menschen. Und die gehen dann aufs nächste Fest. Und wieder aufs nächste. Und dabei werden sie immer einsamer.«
Kanada 2015, Buch: Guy Maddin, Evan & Galen Johnson, Kamera: John Gurdebeke, Schnitt: Jody Shapiro, Musik, Sound Design: Galen Johnson, mit Michael Kennedy, Guy Maddin, 31 Min.
Guy Maddin spielt in seinen Filmen öfters mal mit dokumentarischen Ansätzen, meistens ist der Prozentsatz an rein fiktivem Material aber klar vorherrschend. In seinem neuen Film, der sich schon aufgrund seiner Lauflänge gegen eine herkömmliche Kinoauswertung sträubt, gibt Maddin vor, für das Making-of einer Big-Budget-Produktion engagiert worden zu sein. Das Absurdeste dabei ist aber, dass es diesen Film wirklichlich gibt und Maddin tatsächlich der »offizielle« Regisseur des »Making of« ist. Vermutlich, weil er mit Regisseur Paul Gross, einem in die Jahre gekommenen Actionheld, befreundet ist.
Wenn man Maddins Film sieht, mag man das kaum glauben. Wie der sehr kreativ (und komplett gegen die kommerziellen Erwartungen) seinen Job versteht, ist die eine Sache (»it's a Trojan horse inside a Trojan horse«), aber dieser kanadischen Film namens Hyena Road, der in Jordanien den Krieg in Afghanistan nachstellt, wirkt im »Making-of« wie eine typische satirische Überzeichnung à la Maddin: Soldaten in Tarnkleidung kämpfen gegen Turbanträger (Maddin selbst soll als Komparse einen gefallenen Taliban darstellen, wobei er seine »zu rosige« Haut so hindrehen soll, dass man möglichst wenig davon sieht), wobei die Explosionen billig wirken, ein Raketenabschuss wie eine Archivaufnahme und die Gewehrschüsse eher wie Trockenerbsen klingeln, die auf eine Zeltplane treffen. Und dann noch die Einblendung des Filmtitels, bei dem ein Ahornblatt (prominentester Bestandteil der kanadischen Flagge) von einem Einschussloch verziert wird.
Bildmaterial: © Rhombus Media
Einen Einblick in Hyena Road, für den das »Making of« ja im Normalfall werben würde, bekommt man nicht wirklich, stattdessen zieht Maddin seine übliche Show ab: Er verfremdet Bilder bis zur Unkenntlichkeit, spielt mit einer Kameradrohne herum und macht sich über sein eigenes (angeblich fehlendes) Talent zum Regieführen lustig, in dem er mit einer Green Screen arbeitet, die nicht viel größer als eine Ikea-Tragetasche ist oder der Träger einer Verfolgerkamera in einem Pappmaché-Mauerloch »steckenbleibt«. Außerdem lebt er wieder seine Vorliebe für kanadische Hockeystars aus, diesmal präsent im Filmtitel und einem Zitat zum Filmende. Mit dem Afghanistankrieg haben die natürlich reichlich wenig zu tun, obwohl die erfolgreiche Kette von Cafés, die Tim Horton nach seiner Hockeykarriere aufgebaut hat, auch dort eine Filiale haben soll.
Das Spiel mit den Realitätsebenen wird hier zwar noch um ein paar Dimensionen erweitert, aber Maddin bleibt hinter den Erwartungen zurück, statt das Palimpsest-artige des Films auch inhaltlich zu thematisieren, bleibt vieles zu unausgegoren. Pixelbilder mit gefälligem Dinner-Jazz unterlegt oder eine nicht sehr überzeugende Sterbeszene angereichert mit einem langen Monolog über die »Erfahrbarkeit des Todes« - und einem Western-Soundtrack. Das haben wir schon besser gesehen von Maddin. Vielleicht liegt es daran, dass seine kompatiblen und kreativen Mitstreiter wie die beiden Co-Regisseure vor allem in der Postproduktion geholfen haben, während er »vor Ort« eher intuitiv und ohne große Unterstützung aktiv werden musste, weil ja bei aller Freundschaft auch die »eigentlichen« Dreharbeiten nicht unter dem side project leiden sollten.
Falls das »making of« tatsächlich auf der DVD zu Hyena Road landet, würde mich aber interessieren, wie der durchschnittliche Liebhaber von Action- und Kriegsfilmen auf dieses Material reagiert.
Republik Korea 2016, Buch: Lee Dong-ha, Kamera: Jeong Cheol-min, Schnitt: Um Yoon-zoo, Musik: Kang Ida, mit G-Voice (u.a. Jaewoo, Sander, Namwoong, Jonggirl), 98 Min.
Schwule Chöre gibt es ja auch in Deutschland eine Menge, aber in diesen Dokumentarfilm über einen schwulen Chor in Südkorea bin ich mit der komplett falschen Herangehensweise gegangen: Ich wollte erstmal schauen, wie viel gesungen wird, und - noch wichtiger! - ob ich von den Songs irgendwelche kenne. Um eine gewisse Anbindung zu erhalten.
Vorweg: ich kannte nur einen der dargebotenen Songs, allerdings nicht in der koreanischen Sprachversion, und ich habe ihn auch nicht benennen können (ich bilde mir ein, dass es vielleicht was von Whitney Houston oder so war). Und im Nachspann wurde er auch nicht ausgewiesen. Zumindest nicht die westliche Version.
»G-Voice« ist auch kein Chor im herkömmlichen Sinne, sondern, wie ich dem Presseheft entnahm (im eigentlichen Film wurde mir dies nicht klar), ein Zweig der schwulen Menschenrechtsgruppe »Chingusai«. Dementsprechend ist auch nicht der fehlerfreie Gesang die Priorität, sondern die »Messitsch«. Man singt fast ausnahmslos Lieder, die man selbst komponiert und geschrieben hat, und darin geht es um das Schwulsein an sich, ganz unterschiedliche, oft autobiographische Aspekte davon - oder auch mal um den Chor selbst und, besonders auffallend, sein 10jähriges Jubiläum. Zu den dargebotenen Songs gehören etwa »Chorus Boy« oder »Memories of a Cruiser«.
Mein größtes Problem mit dem Film war, dass er offensichtlich für ein koreanisches Publikum geschaffen wurde. Das ist ja an und für sich nichts Schlimmes, ich verabscheue ja auch deutsche Filme, die sich zu sehr bei einem möglichen internationalen Publikum anbiedern. Aber man ist einfach als Zuschauer überfordert, wenn man zum einen im sehr politischen letzten Viertel des Films mit Situationen konfrontiert wird, die nicht erklärt werden (vielleicht war ich ja auch zu Beginn unaufmerksam, als »Chingusai« vielleicht doch irgendwann erklärt wurde). Jedenfalls kämpft man dann mit unterschiedlichsten Gruppen zu unterschiedlichsten Anlässen zusammen - und manchmal wird auch gesungen. Mich erinnerte das etwas an den Film Pride, wo ja die Schwulenrechtler zur Thatcher-Zeit die Minenarbeiter unterstützten. Aber hier geht es um irgendwelche Arbeiter, körperlich Behinderte, in einem Arbeitskampf befindliche Personen, die unterstützt werden müssen - und auch noch um einen Vorfall, bei dem diverse Leichen irgendwo im Wasser trieben. Ein Koreaner, der dies liest, hält mich jetzt vielleicht für unglaublich dumm, weil das doch alles wichtige innenpolitische Affären waren, aber wenn ein Koreaner einen deutschen Film sehen würde, in dem Politiker tot in einer Badewanne aufgefunden werden, in Turnschuhen blutjunge Freundinnen aufgabeln oder in Ski- oder Fallschirmunfälle verwickelt sind, kapiert er vielleicht auch nicht alles und hält es nur für ein absurdes Possentheater.
Es hat auch nicht geholfen, dass man relativ wild in der Chronologie vor- und zurückgesprungen ist und man eindeutig das Gefühl hatte, dass die Chormitglieder diesen Film wie eine Art Eigenwerbung mitaufgezogen haben. Sie singen sogar in einem ihrer Lieder »The movie we wanted to make is still incomplete« - und die Art und Weise wie in dem Film die Hauskatzen der Chormitglieder quasi als Nebendarsteller miteinbezogen werden (gefühlt fast fünf Minuten Katzenshow - und das sind nicht die schlechtesten Minuten des Films), wirkt auch eher wie ein home movie und nicht nicht wie eine Dokumentation.
Und nicht zuletzt sind da die Untertitel. Normalerweise findet man Untertitel ja unten mittig, was hier auch passiert. Es gab aber noch die Songlyrics, die immer unten links in der Ecke zu lesen waren, dann wurden rechts halbhoch jeweils Name, Geburtsjahr und Beruf der Interviewpartner eingeblendet, und manchmal (aber nicht immer) wurden auch koreanische Schriftelemente im Bild mit einer Art »Whatsapp-Sprechblase« kommentiert, wobei mir auffiel, dass diese Sprechblasen manchmal ein Herz hatten, manchmal aber auch nicht (keine Ahnung, wo der Unterschied zu finden war). Und dann gibt es auch noch Splitscreen-Elemente, so dass man, wenn man nur zwei Augen hat und nicht Koreanisch kann, hoffnungslos überfordert ist.
Dabei hat der Film durchaus interessante Aspekte. Die im Musikvideo-Stil aufgezeichneten Darbietungen drehen sich wie einige der Bühnenauftritte mehr um Kostüme oder Choreographien, was natürlich damit zusammenhängt, dass G-Voice visuell wie akustisch auffallen will. Wenn man jetzt als Koreaner zufällig beim Fernsehen zu einem toll singenden Chor hinzappt, der ein Lied ohne klar erkennbare politische Botschaft trällert, sich vielleicht sogar noch den Namen des Chors merkt, aber nicht mitbekommt, dass sie schwul sind, dass dürfte für die Mitglieder so ungefähr das Schlimmste oder überflüssigste sein, was ihnen passieren kann. Schwulsein ist die Hauptsache, der Kampf um Menschenrechte auch, die Singerei ist nur eine Art Ausdrucksform. Man will ja auch bei einer Demo kein Lob für ein besonders schön gestaltetes Plakat bekommen, und dann die Zusatzfrage »Und ihr wollt jetzt mehr Regenbogen am Himmel, oder wie muss ich das verstehen?«
Während der Großteil des Film eigentlich eine große Selbstbeweihräucherung ist, gibt es aber auch die etwa 25 Minuten, die Weekends zu einem fast obligatorischen Panorama-Beitrag machen: Ein Anschlag auf den Chor bei der ersten Schwulen-Ehe des Landes (»Thank goodness, it's only shit!«), oder ausnahmsweise mal Christen, die auf Gegendemos so gar nichts vom Prinzip der Nächstenliebe verstanden haben und relativ einfallslos immer nur »Die! Die! Die!« skandieren. Übrigens gibt es wohl auch in Korea den Irrglauben, das Christentum und Nationalismus irgendwie miteinander in Zusammenhang stehen. Aber, wie ein Chormitglied erklärt, »Sie sind nicht böse, sondern eben Menschen wie mein Vater!«
Zwei weitere Zitate zum Abschluss, die noch mal verdeutlichen sollen, worum es in dem Film eben nicht geht: »A bunch of bad singers won't make a good choir« und »It's been ten years now, but we still suck!«
Demnächst in Cinemania 145:
Ente gut - Mädchen allein zu Haus (Norbert Lechner, Generation Kplus), Grüße aus Fukushima (Doris Dörrie, Panorama), Indignation / Empörung (James Schamus, Panorama), Das Tagebuch der Anne Frank (Hans Steinbichler, Generation 14plus) und Ted Sieger's Molly Monster / Molly Monster - Der Kinofilm (Ted Sieger, Matthias Bruhn & Michael Ekbladh, Generation Kplus).
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