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24. Februar 2014 | Thomas Vorwerk für satt.org | ||||||||||||
110:
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Bildmaterial © Hyuno Baek |
Südkorea 2013, Dt. Titel: Spross, Buch: Yoon Ga-eun, Kamera: Baek Hyun-o, Schnitt: Jeong Byung-jin, Musik: Yonrimog, mit Kim Soo-an (Bory), Kim So-jin (Mutter), Oh Dong-ju (Vater), Jeong Ok-gwang (schwangere Frau), Kim Hyung-jung (Bauarbeiter), Kim Eun-young (Lady), Kim Jong-sook (Eckladenbesitzer), Park Young (Junge Frau mit Wäschekorb), Son Seok-bae (Auslieferer), Lee Eun-ji (Mädchen), Lee Ok-seok (»Großmutter«), Kim Soo-bok (Großvater), 20 Min.
An einem Ehrentag zum Gedenken der Verstorbenen stellt die Familie fest, dass man vergaß, Sojasprossen zu besorgen. Die etwa 6jährige Bory, die ihren Großvater nie kennenlernte, macht sich eigenmächtig auf eine Einkaufstour und erlebt dabei einige Abenteuer.
Schon ab den ersten Einstellungen, bei denen die Inszenierung clever das begrenzte Verständnis der Protagonistin auf das Publikum überträgt, in dem man »in medias res« geworfen wird, mitten in eine erhitzte Unterhaltung von Personen, die man nicht vorgestellt bekam und teilweise nicht einmal sieht (was durch das Einsprechen der deutschen Übersetzung bei Kplus-Filmen noch intensiviert wird), überzeugt dieser Film.
Kim Soo-an als Bory trägt den Film auf ihren schmächtigen Schultern, ob Kinder oder Erwachsene, ihre Seelennöte kann man mit Leichtigkeit nachvollziehen, ob es der Leiter einer Baustelle ist, der sie in unbekannte Gefilde wegschickt, ein Hund, der eine Treppe blockiert oder ein etwas größeres Mädchen, mit dem sie in eine Rangelei gerät.
Wie oft bei Generation-Filmen trägt hier aber auch das Publikum immens zum Filmgenuss bei. In diesem Kurzfilmprogramm, das »ab 4 Jahren« empfohlen wurde, tauchte die Regisseurin des Films auf, die zudem auch noch Geburtstag hatte, ein Ständchen aus dem Auditorium erhielt und eine kleine Erdbeertorte (sowie später ein paar Gummibärchen von einer freigiebigen jungen Zuschauerin). Und später an diesem Samstag würde sie auch noch einen Gläsernen Bären übergeben bekommen. Ein gelungener Ehrentag.
Die Kinder, von denen erstaunlich viele tatsächlich zum ersten Mal im Kino saßen (das mit dem Einsprechen mag klingen, als könne es Vierjährige überfordern, aber dafür war das Programm nicht einmal eine Stunde lang), hatten einige erstaunlich clevere Fragen an die Regisseurin. Angefangen von »Warum hat sie nicht den Stadtplan mitgenommen?« bis hin zu Details. Warum hat sie die alte Frau »Großmutter« genannt? Konnte die wirklich nicht hören? Hat sie wirklich Schnaps getrunken? War der Mann mit den Sonnenblumen ihr Opa? Haben die Mädchen sich »in echt« gestritten wegen dem Geld? Und die Regisseurin konnte alle Fragen zur allgemeinen Zufriedenheit klären, und so erfuhr man dann halt, dass in Korea Personen aus der Nachbarschaft angesprochen werden, als seien sie Verwandte (Oma, Opa, Tante, Onkel, aber bei Mama und Papa ist es anders), dass die 82jährige Schauspielerin nur so tat als könne sie nicht hören, während die Bory-Darstellerin bei ihrer Schauspielleistung auf eine frühere versehentliche Alkoholaufnahme aufbauen konnte und es kein Zufall war, dass der eine Darsteller später auch als Foto auf dem »Altar« des Großvaters zu sehen war (auch wenn hier die Erklärung mit einem »Wunder« etwas kindgerecht erschien). Sehr schön war auch die Anekdote über den Streit mit dem größeren Mädchen, vor dem die kleine Kim Soo-An tatsächlich etwas »Respekt« hatte. Beim »Streit« wurden die Kinder gebeten, wie im Spiel an der Geldbörse zu ziehen, und daraus entstand dann tatsächlich ein kleiner Kampf, nach dem »Bory« wie im Film etwas weinte. Aber die beiden haben sich danach bei einander entschuldigt. Happy End also auch im »echten Leben«.
In nur 20 Minuten hat sich Sprout zu einer echten Perle der diesjährigen Berlinale gemausert, mit einer durchaus komplexen, aber abwechslungsreichen Geschichte, die nicht nur Vierjährige verzaubert.
Bildmaterial © Ēvalds Lācis |
Intern. Titel. Little Rudy, Dt. Titel: Rotstift, Lettland 2013, Buch: Dace Ridüze, Kamera: Ēvalds Lācis, Schnitt: Elvijs Menniks, Musik: Uldis Marhilevic, 9 Min.
Ein weiterer Film aus dem Kurzfilmprogramm 1 für die Allerkleinsten. Das lettische Animationsbüro »Animacijas Brigade«, dem Anschein zufolge im Fahrwasser der traditionellen osteuropäischen Erfolgs- und Qualitätshäuser, die der vorletzten Generation etwa das Potsdamer Sandmännchen oder Lolek & Bolek bescherten, war hier gleich bei zwei von fünf Filmen vertreten, wobei Vasa, die Geschichte der Ratten, die das auslaufende Museumsschiff verlassen, auch sehr charmant war, aber nicht so vielschichtig und komplett absurd wie Särtulis.
Eine zu viel Schabernack und Aufdringlichkeit bereite Fliege stößt in diesem Stoptrickfilm mit einigen integrierten Zeichenpassagen auf einige Buntstifte, die jenseits menschlicher Aufsicht (vgl. Toy Story oder Luzie, der Schrecken der Straße) kreativ tätig sind. Freudig bemalt man Blatt um Blatt, ein ebenfalls mit Gliedmaßen versehenes Radiergummi erinnert ein wenig an einen Eiskunstläufer, wenn es noch die geringsten zeichnerischen Ausrutscher schnell rückgängig macht.
Der in kleinkindlicher Primärfarbe gehaltene Rotstift »Rudy« (Name laut Inhaltsangabe, trotz vieler Sprachtalente wird im Film eher nicht auf herkömmliche Art »gesprochen«) entwickelt sich schnell zum Helden der Geschichte. Zunächst kann er nicht zum Zeichenfest beitragen, wird aber angespitzt, und dann piesackt ihn die vermaledeite Fliege, bis er aus dem Fenster fällt, sich zunächst wie ein Pflock in den Boden rammt und dann (immer beobachtet und belästigt von der Fliege) in einem kleine Fantasiereich umherstolpert.
Da gibt es etwa umhertanzende Regentropfen, einen Zwerg, der bei der Qualitätskontrolle von gesammelten Pilzen zuständig ist oder grünhaarige Feenwesen, die man sich auch als Vorschul-Schmusebegleiter vorstellen kann. Die Musik erinnert teilweise an die Teletubbies, aber der intellektuelle Anspruch der Geschichte ist viel höher anzusiedeln, denn plötzlich erkannt man, dass jene Fantasiewelt, in der Rudy unterwegs ist, in einem klaren Kausalitätszusammenhang mit den Zeichnungen der fröhlichen Stifte zusammenhängt. Und weil Rudy nicht mehr in der »Werkstatt« ist und mithelfen kann, fehlt in seiner abenteuerlichen Umgebung offenbar die Farbe Rot. Erdbeeren und Karotten sind bläßlich gelb, und auch einen Fliegenpilz erkennt der geschäftige Zwerg erst, als Rudy auf wundersame Weise zurückgekehrt ist ins (zumindest in der Fantasie junger Zuschauer) Kinderzimmer und die Fliege ohne Blutvergießen ausgeschaltet werden konnte.
Bildmaterial © Snowpiercer Ltd. |
Südkorea / USA / Frankreich 2013, koreanischer Titel: Seolguk-yeolcha, Buch: Bong Joon-ho, Kelly Masterson, Comic-Vorlage (Le transperceneige): Jacques Lob, Benjamin Legrand, Jean-Marc Rochette, Kamera: Hong Kyung-pyo, Schnitt: Steve M. Choe, Musik: Marco Beltrami, Kostüme: Catherine George, Production Design: Ondrej Nekvasil, Art Direction: Stefan Kovacik, Set Decoration: Beata Brendtnerovà mit Chris Evans (Curtis), Jamie Bell (Edgar), Octavia Spencer (Tanya), Song Kanh-ho (Namgoong Minsu), Tilda Swinton (Mason), Ko Ah-sung (Yono), John Hurt (Gilliam), Ewen Bremner (Andrew), Luke Pasqualino (Grey), Alison Pill (Teacher), Ed Harris (Wilford), Emma Levie (Claude), Tómas Lemarquis (Egg-head), 126 Min. Kinostart: 3. April 2014
Als Gegenmaßnahme gegen die globale Erwärmung hat man in dieser Comicverfilmung großflächig eine Chemikalie eingesetzt und damit die Erde zu einer neuen Eiszeit verdammt. Als »rattling arch« ist aber der Wunderzug »Snowpiercer« unterwegs und umrundet auf einem verschlängelten Weg über alle Kontinente seit bereits 17 Jahren die Erde, während sich in seinem Inneren ein Klassenkampf zwischen den Überesten der Menschheit abspielt.
Die Handlung beginnt in den hintersten Wagen des Zuges, wo die Ärmsten der Armen ihr Dasein fristen. Ihnen werden »protein bars« zur Ernährung geboten, die quasi sofort an Soylent Green erinnern und eine totalitäre Militärmacht exerziert Bestrafungen oder reißt Kinder aus ihrer Mitte, während das Volk immer wütender wird.
Als vermeintlicher Rebellenführer tritt Chris Evans (Captain America, the Human Torch, ein echter Comic-Experte) als Curtis auf, unterstützt von Jamie Bell als Edgar. Diese beiden beobachten die Ungerechtigkeit und lauern auf ihren Moment, in den nächsten Wagen vorzustoßen. Mithilfe des drogenabhängigen Zugexperten Namgoong und seiner jungen Tochter (zwei Koreaner inmitten dieser ansonsten englischsprachigen Produktion) gelingt es den Aufständischen, unter großen Verlusten nach und nach der Spitze des Zuges näherzukommen, wobei die Variation von Waggon zu Waggon ein wenig an The Cube erinnert, nur mit weitaus größerem finanziellen Aufwand.
Laut Park Chan-wook, dem Produzenten des Films (Regisseur Bong Joon-ho, bekannt durch Gwoemul, hing bei Dreharbeiten fest und konnte nur eine hübsche Videobotschaft abspielen lassen) hat die Verfilmung mit der frankophilen Comicvorlage eher wenig gemeinsam, aber die Erzählstruktur des Films erinnert doch stark an serielle Narration. Einiges, was zu Beginn von Snowpiercer passiert, wird am Ende des Films fast eine Spur zu clever erklärt, aber das Vordringen von Waggon zu Waggon, mit kleinen Nebenhandlungen und Opfern, oder das spätere Aufblühen eines kleinen Nebenschurken lassen den Film ein wenig wie ein Endlosabenteuer nach Comicvorbild erscheinen, während die visionären und gesellschaftlichen Themen bei einigen ausgedehnten Actionsequenzen etwas in den Hintergrund gedrängt werden. Ich hatte ein wenig das Gefühl, dass man wie Terry Gilliam zu seinen besten Zeiten auftrumpfen wollte (eine von John Hurt gespielte Figur heißt sogar Gilliam), dann aber doch eher auf Zack-Snyder-Niveau zurechtgestutzt wurde.
Snowpiercer hat einige tolle Momente wie die Auftritte von Tilda Swinton als Maggie-Thatcher-Parodie oder einige wirklich absurd erscheinende Waggons auf dem Weg zum Lokführer (Ed Harris mal wieder als Aushilfsgott), aber es gibt einfach zu viele ärgerliche Elemente wie die schnöseligen CGI-Effekte, die den Zug von außen zeigen (innen bekommt man nur ganz selten das Gefühl, sich in einem dahinrasenden Zug zu befinden – und das, obwohl die Bauten wohl zur Verfügung standen). Wenn man erst vor kurzem beide Oldboy-Variationen gesehen hat, wirkt auch die blutige Kampfchoreographie eher hölzern, und die guten Nebendarsteller wie Octavia Spencer, Alison Pill oder Ewen Bremner leiden darunter, dass viel zu viele der Figuren in diesem Film einfach nur Kanonenfutter darstellen.
Snowpiercer ist ein Film, über dessen Vorzüge und Schwächen man lange diskutieren kann, von einem vergleichbaren Werk wie Gilliams Brazil ist er jedoch weit entfernt. Die Zutaten sind teilweise ähnlich, doch während man bei Gilliam das Gefühl hat, dass er visionäre Bilder und politische Aussagen aufs vorzüglichste verbinden kann (und dabei auch noch hin und wieder Mainstream-Kino wie Twelve Monkeys zustande bringt), hat man hier einfach den Zack-Snyder-Effekt, der aus einem großartigen Comic wie Watchmen eben auch nur einen etwas besseren Actionknaller machte. Aber da es auch genügend »etwas schlechtere« Action-Knaller gibt, muss man vermutlich sogar noch dankbar sein, dass man hier nicht das Gehirn beim Kassenhäuschen abgeben muss, sondern zeitweise immerhin gut unterhalten wird. Memories of Murder (hier nur auf DVD erhältlich) bleibt dennoch Bongs bester Film. Vor Gwoemul. Und erst dann kommen Snowpiercer und Madeo. Was kein gutes Zeichen sein kann.
Bildmaterial © Rolf Konow, Zentropa Productions2 |
Dänemark / Schweden 2014, Intern. Titel: Someone You Love, Buch: Kim Fupz Aakeson, Pernille Fischer Christensen, Kamera: Laust Trier-Mørk, Schnitt: Janus Billeskov Jansen, Anne Østerud, Musik: Tina Dickow, mit Mikael Persbrandt (Thomas Jacob), Trine Dyrholm (Molly Moe), Sofus Rønnov (Noa), Eve Best (Kate), Birgitte Hjort Sørensen (Julie), Lourdes Faberes (Pepita Ponce), Alfa Liv Ottesen (Molly's daughter), Peter Frödin (Talkshow Host), Thomas Hwan (Teacher), 100 Min.
Die überzeugendste Existenzberechtigung der Sektion »Berlinale Special« war es schon immer, Jury-Mitgliedern eine Plattform zu geben, nebenbei einen neuen Film dem großen Publikum zu präsentieren. Das war schon vor zehn Jahren bei Atom Egoyans Ararat so, und in diesem Jahr zählt Tryne Dyrholm zu den Nutznießern dieser Programmaufstockung (während Michel Gondry seinen neuen Dokumentarfilm mal wieder im Panorama zeigte).
Während skandinavische Filme in den frühen Kosslick-Jahren des Berlinale-Wettbewerbs quasi einen Platz sicher hatten, muss man sich inzwischen abgesehen von den traditionell gut vertretenen Kinderfilmen schon ein wenig umsehen, wenn man ein Faible fürs skandinavische Kino hat.
En du elsker ist so ein Film, der in Dänemark vermutlich ein Selbstläufer ist, während in Deutschland nationale Superstars wie Mikael Persbrandt und Tryne Dyrholm einfach noch nicht genug Zugkraft für einen Kinostart haben. Außer Mads Mikkelsen (und das größtenteils über internationale Produktionen) konnten sich nur sehr wenige dänische Schauspieler bei deutschen Kinogängern einen Namen machen, aber in Dänemark sind Persbrandt und Dyrholm etwa so bekannt und beliebt wie hierzulande Jürgen Vogel und Martina Gedeck. Und wenn die die Hauptrollen in einem deutschen Film hätten, würden sich die Tickets ja auch fast wie von selbst verkaufen.
Die Geschichte klingt zunächst ein wenig wie Kokowääh, Bella Martha oder unzählige andere Filme, in denen jemand unversehens in eine Elternrolle gedrückt wird und daran natürlich wächst. In diesem Fall geht es um Thomas Jacob (Mikael Persbrandt), einen weltweit erfolgreichen Musiker (er lebt in Los Angeles), der wie alle paar Jahre mal wieder in seine Heimat Dänemark zurückkehrt, für Studioaufnahmen mit der Frau (Tryne Dyrholm als Molly Moe), die ihm einst viel bedeutete und mit der zusammen er immer noch einige seiner besten Arbeiten komponiert. Nebenbei gibt es auch ein paar Interviews etc., und seine Tochter (Birgitte Hjort Sørensen) möchte ihn auch gern sehen. Wie er annimmt, vor allem für eine finanzielle Unterstützung. Wenn Julie gemeinsam mit ihrem Sohn (also Jacobs Enkel) Noa (Sofus Rønnov) auftaucht, der sich sehr für seinen musizierenden Opa interessiert, läuten die Alarmglocken bei häufigen Kinogängern. Ebenso wie beim subtilen kleinen Nasenbluten der Mutter, die dann tatsächlich für ein Vierteljahr auf Entziehungskur muss – und niemanden sonst hat, der sich um ihren Sohn kümmern kann.
Dass in dieser Geschichte das Musikerdasein eine große Rolle spielt (vergleiche etwa Crazy Heart) wird gleich durch die Startszene offenkundig, die mit einem großen Auftritt beginnt, wobei sein »My name is Jacob Thomas« fast noch bescheiden wirkt. Das ausgefeilte Songdesign des Films kreiert hier einen sehr an Leonard Cohen (auch gesanglich) erinnernden Künstler, vielleicht mit einem Spritzer Nick Cave, was den ungesunden Lebenswandel und den Missbrauch bestimmter Substanzen angeht. Jacob hat Erfahrungen mit Alkohol und so ziemlich jeder anderen Droge gemacht (er gönnt seinem Enkel mal eine Aufzählung), und deshalb fühlt er sich durch eine Aufgabe wie der Erziehung eines Kindes komplett überfordert. Nicht nur hat er bei seiner Tochter schon so ziemlich alles verkorkst, und hatte selbst eine schwere Kindheit, die er nicht erneut weitergeben möchte – er braucht eigentlich seine komplette Aufmerksamkeit und Kraft, um als Musiker zu bestehen und nicht erneut an der Flasche oder schlimmerem zu landen.
Das perfide ist natürlich, dass sich ausgerechnet über die Musik und eine übersprungene Generation diesmal eine Verbindung herauskristallisiert, die es Jacob sehr schwer machen wird. Allzu gerne würde er sich einfach hinter bezahlten Angestellten verstecken (eine lesbische Managerin und eine asiatische Haushälterin spielen im Film wichtige Rollen, wer in diesem Jahr auch Kraftidioten auf der Berlinale gesehen hat, könnte im Werk von Co-Autor Kim Fupz Aakeson interessante Parallelen erkennen, wobei aber der »zu rettende« heranwachsende Sohn die offensichtlichste darstellt). Doch ob es um übernommene Verantwortung oder die schwere Entscheidung geht, den Enkel im Internat zurückzulassen (was angesichts der eigenen Unstetigkeit gar nicht mal so unüberlegt wirkt), hier gibt es keine einfache Flucht für Jacob.
Der große Unterschied zu Kraftidioten liegt hier darin, dass die Regisseurin zwar Opa und Enkel ins Zentrum der Geschichte stellt, diese aber inmitten diverser weiblicher Figuren agieren. Abgesehen von einigen Musikerkollegen, die aber auch eher im Hintergrund bleiben, ist dieser Film bis auf die Hauptfiguren fast durchgängig weiblich besetzt, und selbst die unsensibel herumtönende Haushälterin oder die vom Leben überforderte Mutter wirken positiver als Superstar Jacob, der zwar mit seiner Musik Millionen Herzen berühren will, aber selbst kaum Gefühle an sich heranlässt.
En du elsker ist mal wieder ein typischer skandinavischer Film, wie man sie oft im Berlinale-Wettbewerb fand: Ohne Scheu vor Kitschalarm oder harter Tragödie, mit einer gehörigen Portion Humor und ab und zu Tiefschlägen, die nicht jedes Publikum wegzustecken vermag. Perfekt ist der Film nicht, aber gerade in solchen dänischen Lebensdramen erkennt man ein Qualitätsniveau (Drehbuch, Schauspiel) und eine Risikobereitschaft, die im deutschen Kino (insbesondere bei bereits etablierten und erfolgreichen Regisseuren) Mangelware ist. Jürgen Vogel und Martina Gedeck wären voll des Dankes, wenn sie nur alle drei Jahre mal so ein Filmprojekt angeboten bekämen …
Bildmaterial © SLC Films LLC |
USA 2014, Buch: Anja Marquandt, Kamera: Zack Galler, Schnitt: Nick Carew, Anja Marquandt, Musik: Simon Taufique, Kostüme: Andrea Sundt, Production Design: David Meyer, Art Direction: Peter Davis, Sound Design: Martin Frühmorgen, mit Brooke Bloom (Ronah), Marc Menchaca (Johnny), Dennis Boutsikaris (Dr. Alan Cassidy), Laila Robins (Irene), Tobias Segal (Christopher), Robert Longstreet (C.T.), Roxanne Day (Claire), Ryan Homchick (Andro), Gregory Korostishevsky (Janusz Kubicek), Henry Stram (Marty Falk), 90 Min.
Wenn es das Arbeitsfeld nicht schon geben würde, könnte man meinen, es wäre eine großartige Idee für das Regiedebüt der in Berlin geborenen Anja Marquardt. Ronah (Brooke Bloom) ist Sexarbeiterin, die sich auf sexuell gehemmte Männer spezialisiert hat, die ihr von einem Psychotherapeuten sozusagen »überwiesen« werden. Psychische Störungen, emotionale Untiefen und was so hinter geschlossenen Türen vorgeht: Als Filmsujet wie geschaffen.
»When I'm here with you, I'm completely here.« Ronah ist schwer damit beschäftigt, Vertrauen aufzubauen. »We're just gonna talk today. We're just gonna create a safe space.« Hierbei wirken die Grenzlinien ihres Beschäftigungsfeldes oft widersprüchlich. Da bezieht sie gemeinsam mit einem schüchternen Mann ein Bett und baut eine kleine »Spielwiese« auf, erkundigt sich aber nebenbei, wie es seiner Großmutter geht.
Visuell setzt der Film diese zweifache Intimität, die spätestens beim neuen Klienten Johnny (Marc Menchaca) dazu führt, dass Ronah die Kontrolle langsam entgleitet, mit vielen Nahaufnahmen und absichtlichen Unschärfen um. Für den Aufbau von Vertrauen bei Männern, der vor Körperkontakt zurückschrecken, ist es nicht unbedingt dienlich, dass man sich neben der Bezahlung und dem unvermeidlichen Aids-Test auch noch um ein »confidentiality agreement« kümmern muss, in dem schwarz auf weiß steht, dass der Grund der privaten Treffen nicht etwa sexuelle Stimulation sei.
Da kommt es auch manchmal zu absurd wirkenden Situationen. Ein Klient äußert etwa den Wunsch »I wanna go down on you«, worauf Ronah erwidert »We can do that, but first I want you to take off your shirt.« Überraschende Wendung: »I can't do that.« Der Klient ist zwar in der Lage, konkrete sexuelle Wünsche zu äußern, will aber seinen Oberkörper nicht entblößen (später zeigt sich, dass er sich wegen einer Hautkrankheit schämt).
Der hochintelligente und autoaggressive Johnny kann bei einer bloßen Berührung schon ein bisschen »durchdrehen«, weshalb Ronah besonderes Fingerspitzengefühl in ihrer Sextherapie einsetzen muss. Dass Ronah (wie die meisten Psychotherapeuten) selbst so ihre Probleme hat, zeigt sich im Umgang mit ihrem Bruder Andro oder bei ihrem Unvermögen, sich gegenüber ihrer Hausverwaltung, einer Nachbarin oder einigen Handwerkern durchzusetzen, was dazu führt, dass ihre Dusche langfristig jene Beschädigungen aufweist, die man im übertragenen Sinne auch bei Ronahs Psyche vermutet.
Sie beginnt Johnny hinterherzuspionieren (er arbeitet als Krankenschwester), entwickelt dabei Eifersucht gegenüber Johnnys Kolleginnen, und der Film entwickelt dabei einen eigenartigen Sog, irgendwo zwischen The Brownian Movement und Upstream Color (die mit ähnlichen inszenatorischen Mitteln arbeiteten), was aber nicht zuletzt auch an der Hauptdarstellerin Brooke Bloom liegt, die zwar keinen gängigen Schönheitsidealen entspricht, aber eine fragile Faszination ausstrahlt. Verglichen mit ihr wirkt selbst Anna Thomsen fast »normal«.
Aus diesem Kammerspiel wird ein Seelenstriptease ohne Voyeurismus, ein durchaus spannender Versuchsaufbau. Die großartigste Szene des Films (und die hat sicher eine wichtige Aussage) ist aber eine vermutlich dokumentarische Aufnahme eines Versuchsäffchens, dem zunächst ohne Gegenleistung ein Stück Gurke »geschenkt« wird. Dann darf er beobachten, wie der bereits dressierte Affe im Nebenkäfig sich sein Stück Gurke erst »verdienen« muss, in dem er es gegen einen Stein eintauscht. Der neue Affe macht es folgsam nach, wirft dann aber sein Gurkenstück weg, versucht verzweifelt, den Stein zurückzubekommen und wird dabei verdammt sauer. Dieser Affe verrät uns viel darüber, dass Beziehungen und Therapien (und diverse Zwischenformen) leider nicht immer so verlaufen, wie man es erwarten könnte.
Wenn andere Filme wie ein Gurkenstück sind, dann ist She's Lost Control wie jener Stein, den man unbedingt haben möchte, obwohl man es nicht begründen kann.
Bildmaterial © Rat Pack Filmproduktion |
Drehbuch: Jan-Oliver Lampe, Kamera, Schnitt, Untertitel: Thomas Landenberger, Musik: Daniel Vulcano, mit Nadine Petry (Ann), Lars Steinhöfel (Gero), Cristina do Rego (Franzi), Sonja Gerhardt (Doreen), Lars Walther (Tom), Pit Bukowski (Vinzent), Uwe Rohde (Karl-Heinz), 81 Min.
Auf der Berlinale gibt es eine lange Tradition der anerkannt und fast einstimmig schlechtesten Filme des jeweiligen Jahrgangs. Oft stammen diese aus dem Wettbewerb (gern verdrängte Beispiele: The Necessary Death of Charlie Countryman, The Country of my Skull, Wuji), weil der Wettbewerb für viele Journalisten eine Art Pflichtbereich darstellt, während bei den anderen Sektionen nicht über jeden Film berichtet werden muss und man so selbst aussuchen kann, was womöglich interessant klingt. Vielleicht gab es im Wettbewerb dieses Jahr keine Komplettausfälle, jedenfalls habe ich noch niemanden getroffen, der Tape_13, das Regiedebüt des Comedian Axel Stein, nicht unglaublich langweilig und uninspiriert fand.
Das Genre, das ich in Abgrenzung vom altehrwürdigen »found footage«-Film »fake found footage« zu nennen pflege, hat, The Blair Witch Project und Paranormal Activity haben es bewiesen, den Vorteil, besonders preiswert in der Herstellung zu sein. Da die Kameraarbeit in solchen Filmen vermeintlich von den Figuren stammt, und die Erzählung quasi per definitionem Lücken offen lässt, muss der Zuschauer sich wacklige Bilder und wacklige Erzählungen gefallen lassen, bekommt dafür hingegen eine vorgetäuschte Authentizität, die aber manchmal eine besondere Wirkung erzeugt. Filmmusik braucht man auch nicht, und anstelle von gruseligen Spezialeffekten (fast alle »fake found footage« Filme sind Horrorfilme) lässt dann mal wieder jemand die Kamera fallen, was wie bei der Blair Witch eine beklemmende Ungewissheit verbreiten kann. Es ist eine alte Weisheit im Horrorfilm, dass die Bilder im Kopf oft schockierender sind als die besten Spezialeffekte (man vergleiche etwa Jacques Tourneurs Cat People mit dem Remake von Paul Schrader), und wenn man als Zuschauer nicht einmal genau weiß, was da gerade passiert, stellt man sich mitunter Schlimmeres vor als der gewitzteste Drehbuchautor oder Make-Up-Effekte-Experte hätte ersinnen können. Soweit die Theorie, Tape_13 beweist, dass es nicht immer so sein muss.
Der Film beginnt mit einem typischen Horrorvorspann, der mit gruseligen Zeitungsausschnitten oder vermeintlich »dokumentarischen« Statistiken bereits das Grauen vorwegnimmt. Hier heißt es beispielsweise (auf Englisch, denn dieser Film soll ohne Witz auf dem internationalen Markt bestehen), dass es in Deutschland 100.000 Vermisste gibt oder gab. Einige davon tauchen nach ein paar Tagen wieder auf. Der Rest wird tot aufgefunden oder ist für immer ohne Spur verschwunden. Hier hörte ich bereits auf, denn diese Statistik lässt natürlich alle Fälle, wo jemand erst nach zwei Wochen oder später wieder auftaucht, komplett außer acht lässt. Auswanderer, Karriere als Obdachloser, Gedächtnisverlust, Natascha Kampusch und diverse andere Szenarien existieren in dieser »Statistik« einfach nicht. Kein guter Anfang.
Wir erfahren ferner, dass das »gefundene« Filmmaterial nur an manchen Stellen geschwärzt wurde, weil es sich hier um Beweismaterial handelt. Na super, auf der Suche nach einer möglichen Erklärung (und ich nehme es vorweg, diese will der Film auch gar nicht leisten) wird man also auch noch durch die Filmemacher sabotiert. Weil es so vermeintlich authentischer ist.
»Authentizität« ist aber nicht unbedingt ein Wort, das man zur Beschreibung von Tape_13 nutzen möchte. Die Filmfiguren stammen teilweise aus Schweden oder Lettland (der Film spielt in Deutschland), sprechen untereinander fast durchgehend Englisch, und zwar ein sehr ähnliches Englisch. Die Aussprache ist nicht unbedingt perfekt, auf einen schwedischen Akzent oder ähnliches wartet man vergebens, und die Wortwahl entspricht vor allem den Englischkenntnissen des Drehbuchautors. Normalerweise wären die Fremdsprachkenntnisse in so einer Gruppe unterschiedlich, selbst die meisten Gymnasiasten wissen vermutlich nicht, wie man »ouija board« ausspricht, aber man muss die Erwartungen an Logik oder die Qualität des Films ganz weit unten ansetzen. Oder am liebsten gar nicht erst diesen Schmarrn anschauen.
Einige Rucksacktouristen und Teenager finden sich im tiefen Wald in einer einsamen Hütte, man beschäftigt sich damit, sich gegenseitig zu erschrecken, Wahrheit oder Pflicht zu spielen oder am Lagerfeuer gruselige Geschichten zu erzählen (Franzis Bruder starb einst in dieser Ferienwohnung!). Dass das Ganze in Deutschland spielt, erkennt man daran, dass ein Notruf in dieser Sprache stattfindet (hört man bereits während des Vorspanns), das Bier aus Flaschen mit Bügelverschluss stammt und man Jägermeister trinkt, weil (Dialogzitat) »in Deutschland trinkt man Jägermeister«. Womit den auch die Sache mit dem Product Placement geklärt wäre.
Recht früh schnappt man sich so ein Holzbrett mit Buchstaben, nimmt mit der Unterwelt Kontakt auf, macht dabei aber einige taktische Fehler, die Kamera fängt mal auf, dass sich im dunklen Umfeld jemand aufhält, und die meisten Zuschauer werden dann wie ich den Fehler machen, diesen Film durchzusitzen, weil man wissen möchte, »wie's ausgeht«. So geht's aus: In regelmäßigen Abständen heißt es immer mal wieder »Die Polizei ist sicher schon auf dem Weg«, während jeweils Personen aus der Gruppe abwesend sind oder nicht transportfähig. »We find Franzi and then we go.« Nebenbei kommt es zu rätselhaften Unfällen, die eher aus Dale & Tucker vs. Evil zu stammen scheinen als das Genre auch nur halbwegs ernst zu nehmen (»I didn't want to hurt Tom. I thought he was that hobo. He tried to rape me.«). Immer wieder fällt der Strom aus, der Gang zum Stromkasten ist aber gefährlich! Doch um schnell Hilfe zu holen, gibt es ja einen cleveren Trick: »Let's take the shortcut thorough the woods!« Ich weiß, so funktioniert das Genre nun mal, aber es gibt vermutlich keinen Film, der so uninspiriert, die Intelligenz seiner Zuschauer verspottend und einfach grässlich langweilig die Allgemeinplätze durchexerziert, während sein Personal irgendwo leise verblutet oder später tot aufgefunden wird. Die unablässliche Filmerei ergibt teilweise keinen Sinn, die große Offenbarung am Schluss ist einfach Evil Dead weichgespült mit Filmblut als Lenor-Ersatz, die Kamerabilder nerven mit digitalen Aussetzern, die Toninszenierung ist für Schwerhörige, die Schauspieler sind jung und preiswert, und im Endeffekt ist der Film so unglaublich belanglos, dass man sich noch nicht einmal richtig ärgern kann. Außer über die verschwendete Lebenszeit.
Nur drei Details trösten mich darüber hinweg, dass ich durchgehalten habe: Der Scheiß geht nur 81 Min., im Nachspann kann man sehen, dass Kameramann und Cutter Thomas Landenberger auch gleich noch die Untertitelung übernahm. Und natürlich das mysteriöse, unfassbare und wirklich gruselige Geheimnis des Abspanns: Für diesen Film griff man auf nicht weniger als fünf »script consultants« zurück! Das kann einen wirklich in Angst und Schrecken versetzen.
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