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16. Februar 2013 | Thomas Vorwerk für satt.org | ||||||||||||||
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Da es sehr unwahrscheinlich ist, dass dies jemand vor der letzten Berlinale-Vorführung des Films zu lesen bekommt, und die Chancen einer Kinoauswertung für einen 26-Minuten-Film auch nicht besonders gut stehen, werde ich in diesem Text so ziemlich alles ausplaudern, was mir zu meinem Berlinale-Lieblingsfilm so einfällt. Man möge dies als Spoiler-Alert sehen.
Die erste Einstellung war schon mysteriös, denn man sieht für einen Moment einen Fisch vom Land zurück ins Wasser springen. Dann haftet sich die Kamera auf die Füße eines Jungen, der durch das Gras am Ufer geht. Recht schnell war klar, dass die Kameraführung dieses Films auf handwerklicher Ebene hervorragend ist, aber es dauerte nicht lang, da hatte ich begriffen, dass das visuelle Konzept der Kamerafrau Carmen Treichl ziemlich gut durchdacht ist. Nachdem der Sohn vom Vater ins Wasser gerufen wurde, man gemeinsam zur Mitte des Sees aufbricht, der Sohn dort etwas untertaucht, und der Vater plötzlich panisch feststellt, dass sein Sohn verschwunden ist, folgt die Kamera dem Vater, der apathisch durch den verregneten Wald stolpert. Die Kamera folgt ihm, verliert sich in einer Kreiselbewegung, findet ihn dann wieder. Dieser Kreisel wird zum wiederkehrenden Merkmal. Der Staffellauf zwischen den Figuren wird weitergeführt, irgendwo zwischen Bunuel und Schnitzler. Ein Camper kümmert sich um den Vater, fragt eine Passantin nach Hinweisen, diese erzählt dem Freund davon, der am Morgen ein Gespräch mit einer anderen Frau hat, die Schwimmen geht, und am Ufer wieder den Jungen sieht. Der sich erstaunlich ähnlich wie zu Beginn des Film verhält (sein Vater übrigens auch), dann aber statt mit einem Fisch mit einer Schnecke spielt und seine Tauchübungen macht, bevor der Vater zum Schwimmen »zur Mitte« auffordert. Dies könnte einfach ein neuer Tag mit einem psychisch erstaunlich genesenen oder gedankenlosen Vater sein (die Interpretation von Realisten), doch was den Staffellauf, die Kreiselbewegungen und das morgendliche Gespräch über Kindheitserinnerungen und Familienfragen allesamt erklären würde, ist eine verspielte kleine Zeitschleife, wie ich sie erst vor kurzem in Abbas Kiarostamis Copie conforme angedeutet sah, die dort wie ein verkopftes episch-langwieriges Experiment wirkte, hier aber wie ein Haiku auf Zelluloid.
Manchmal ist es ein riesiger Glücksfall, wenn man eine Stunde bis zum nächsten Film totschlagen muss und zufällig von einem Kollegen gesteckt bekommt, dass im Nachbarkino ein kurzes Double-Feature läuft, das aus 26 Minuten Wartezeit den Filmhöhepunkt der Berlinale macht.
USA 2012, Buch: Matt Porterfield, Amy Belk, mit Deragh Campbell (Taryn), Ned Oldham (Bill), Kim (Kim Taylor), Hannah Gross (Abby), Dusting Wong, Jana Hunter and the Entrance Band, Dope Body, 90 Min.
Matt Porterfields letzter Film, Putty Hill, lief ebenfalls im Forum, konnte mich aber nicht wirklich überzeugen. Die offensichtliche Gemeinsamkeit mit dem Nachfolger ist die Bedeutung der Musik als Ausdrucksmittel für die Figuren, in I Used to Be Darker scheint aber die Ebene der Musikdarbietung irgendwie abgetrennt von der eigentlichen (hier stärker ausformulierten) Handlung. Die Musiker sind das Ehepaar Kim (Musikerin Kim Taylor) und Bill (Musiker Ned Oldham, die Figur ist inspiriert vom Werk des Musikers Bill Callahan). Und einige Freunde (siehe Stabangaben). Die Hauptfigur hingegen ist deren Nichte Taryn (Deragh Campbell) - zumindest deshalb, weil wir in die Familie - zu der auch noch Tochter Abby (Hannah Gross) gehört - überhaupt erst durch Taryn eingeführt werden.
Im Presseheft spricht man geheimnisvoll von »trouble in Ocean City«, vor dem sie zu Onkel und Tante nach Baltimore flieht, doch wer nicht komplett realitätsfern ist, wird anhand der wenigen Einstellungen, die am Badeort spielen, erkennen, welcher Art ihre Schwierigkeiten sind. Im Badezimmer öffnet sie eine kleine Schachtel, später gibt es auf einer Party ein Streitgespräch mit einem Jungen und die folgende Frage einer Freundin »Did you tell him?« Doch Taryn ist, wie sich im Vorlauf des Films herausstellt, niemand, der die Kommunikation oder Informationsvergabe sucht. Ein Problem, mit dem sie nicht alleine da steht.
Während ihre Anrufe zur Ankündigung des Familienbesuchs ungehört verhallen, trennen sich Onkel und Tante gerade, was die erwünschte Hilfestellung kompliziert. Man stößt bei Beerdigungsstimmung in einem piekfeinen Restaurant auf »Überraschungen« an. Angemessen, denn man wusste ja nicht einmal, dass Taryn, die aus Nordirland stammt, sich in den Staaten befindet (ihre Eltern haben auch seit zwei Monaten nichts mehr von ihr gehört). Cousine Abby hat für Taryn auch kein offenes Ohr, weil sie mit der Trennung der Eltern beschäftigt ist. Und Kim und Bill artikulieren ihre Probleme vor allem musikalisch und oft für sich allein. Jeder dargebotene Song im Film ist ein direkter Kommentar auf die Situation, hier eine kleine Auswahl, deren Dramaturgie man aber nicht als 1:1 Entsprechung der Handlung missverstehen sollte: »I don't wanna fuck you anymore«, »after the war, we'll settle down [...], raise an American child«, »All I wanna do is live my life honestly, and when I wake up, see your face next to me«. Der Filmtitel stammt übrigens auch aus einem (nicht im Film verwendeten) Song von Bill Callahan, beim Titelvorspann bietet man über sich aufhellende Blauflächen immerhin eine visuelle Entsprechung, und im letzten Song des Films geht es unter anderem um den blauen Himmel. Man erkennt, die Dramaturgie des ganzen Films geschieht über die Songs (ähnlich wie in Putty Hill), doch die eigentliche Geschichte wird in diesem Fall nicht dadurch überschatten, sondern betont.
Abgesehen von Taryns Problem geht es um die feindliche Situation zwischen Kim und Bill, aus einer Kleinigkeit wie einem Waffeleisen kann jederzeit ein Scharmützel erwachsen, was zu einer wechselseitigen Entfremdung aller vier Parteien führt. Kernzitat: »I'm not concerned about your comfort level right now.«
Alle müssen sich erst auf die veränderte Situation einstellen, was der Film feinfühlig vermittelt, auch wenn die abschließende Besinnung auf Familienwerte eine Spur zu harmonisch verläuft. Dennoch einer der Geheimtips des Festivals - und aus der Kategorie US-Independents ein klarer Favorit auf einen deutschen Verleih.
USA 2013, Buch, Lit. Vorlage: Matthew F. Jones, Kamera: Eduard Grau, Schnitt: Dan Robinson, Musik: Atli Örvarsson, mit Sam Rockwell (John Moon), Jeffrey Wright (Simon), Kelly Reilly (Jess), Jason Isaacs (Waylon), William H. Macy (Pitt), Ted Levine (Cecil), Joe Anderson (Obadiah), Ophelia Lovibond (Abbie), W. Earl Brown (Puffy), Amy Sloan (Carla), Heather Lind (Mincy), Christie Burke (Dead Girl Ingrid), 116 Min.
John Moon (Sam Rockwell) hat schon einige Vorstrafen wegen Wilderei, als er mal an einem von vielen Einschusslöchern verzierten Verbotsschild vorbei in den Wald zieht. Während er ein Reh verfolgt, erschießt er versehentlich eine junge Frau. Spätestens, wenn er einen Koffer voll Geld findet, drängen sich einige offensichtliche Vorbilder des Film auf. A Single Shot hört sich an wie Sam Raimis A Simple Plan, Produzent Chris Coen dachte bei der Lektüre des Drehbuchs wenig überraschend auch an seine Namensvettern Joel & Ethan (No Country for Old Men), und William H. Macy (Fargo) spielt auch noch mit …
Der aus vielen komödiantischen Rollen bekannte Sam Rockwell verstrickt sich ähnlich verbissen wie einige Coen-Figuren in der Situation fest, in der auch noch einige schwere Jungs auftauchen (u. a. als fiesester Gegenspieler Jason Isaacs, der immerhin schon Captain Hook und Lucius Malfoy spielte), und wirkt dabei nicht immer besonders clever. Was aber für ihn und den Film spricht, ist sein zweiter, paralleler Kampf, um die Frau, die ihn verlassen hat, und ihren gemeinsamen Sohn. John glaubt daran, immer noch alles retten zu können, solange er nur aus seinem phlegmatischen Losertum ausbrechen kann und Jess (Kelly Reilly) ein besseres Leben bieten kann - mit dem Geld aus dem Koffer. Die Bezüge sind nicht ganz so offensichtlich wie zu den Coens, aber eine Rolle, die Sam Rockwell in einem ähnlich dunklen, kargen, kalten - und auf Rockwells Rolle bezogen: noch hoffnungsloseren - US-Independent spielte, war die des ebenfalls um ein in der Vergangenheit liegendes Familienglück kämpfenden Glenn Marchand in David Gordon Greens Adaption von Stewart O'Nans Romandebüt Snow Angels. Damals an der Seite von Kate Beckinsale, mit einem nicht ganz so verzottelten Vollbart und einer nicht ganz so heruntergekommenen Behausung.
Das Prinzip Hoffnung ist also ein düsteres für den Film: sowohl, was die Erfolgschancen des Protagonisten angeht, als auch, was die Möglichkeiten betrifft, aus den Fußstapfen dieser filmischen Vorbilder auszubrechen. Die Besetzung wirkt immerhin vielversprechend, auch wenn Jeffrey Wright oder Ted Levine nicht zu den house hold names gehören, sollte jeder ernsthafte Filmfreund sie kennen. Man muss allerdings einwenden, dass abgesehen von Sam Rockwell alle anderen Schauspieler nur unterstützende »Streiflichter« darbieten dürfen, die wahrscheinlich jeweils in zwei oder drei Drehtagen absolviert waren. Und insbesondere Jeffrey Wright und William H. Macy versuchen dabei mehr, als sie letztendlich abliefern können. Die Story ist auch stärker auf die Genre-Elemente konzentriert als auf den Familien-Twist, der den Film wirklich hätte bereichern können.
Dennoch hat A Single Shot bis zum Schluss einige großartige Überraschungen parat. Der Film ist (ein kleiner Spoiler, den man allerdings eher als Hinweis für potentielle Zuschauer verstehen sollte) teilweise härter, als man angenommen hätte (die schlimmste Szene spielt sich fast komplett im Hirn des Betrachters ab), zur Reihe der Coen-Vergleichsfilme gesellt sich noch Blood Simple, und ein klitzekleines Detail, die zweitletzte Einstellung des Films, war für mich das »Zünglein an der Waage«, das den Gesamteindruck entscheidend beeinflusste.
Deutschland 2013, Buch: Thomas Arslan, Kamera: Patrick Orth, Schnitt: Bettina Böhler, Musik: Dylan Carlson, mit Nina Hoss (Emily Meyer), Marko Mandic (Carl Boehmer), Uwe Bohm (Gustav Müller), Lars Rudolph (Rossmann), Peter Kurth (Wilhelm Laser), Rosa Enskat (Maria Dietz), Wolfgang Packhäuser (Otto Dietz), 113 Min.
Wer bei diesem Film eine Chronologie der Ereignisse bietet, nimmt dem Zuschauer die Freude, selbst mit aufzubrechen zum Yukon. Deshalb schildere ich nur - etwas ungeordnet - einige Empfindungen, Gedanken und Assoziationen.
Der Western ist nicht tot, sondern aktuell so lebendig wie seit Zeiten von Eastwoods Unforgiven nicht mehr. Allerdings ist er vom Mainstream (True Grit mal ausgenommen) zum Arthaus abgewandert. Kelly Reichardts Meek's Cutoff bietet eigentlich alles (und mehr), was Thomas Arslan nun in seinem »deutschen Western« todesmutig erneut zusammenstellt. Der Bezug zum immer noch aktuellen Berufsbild des »Schleppers« ist deutlicher, und natürlich gibt es das Deutschtum als »Bonus«, Lars Rudolphs »Lieb Vaterland« auf dem Banjo zusätzlich zum Neil-Young-Verschnitt. Und natürlich die gefühlt wettbewerbs-obligatorische Nina Hoss, die als Entsprechung zu Michelle Williams oder Johnny Depp zumindest hierzulande vielleicht noch ein paar andere Zuschauer zieht. Nicht unbedingt mehr, aber andere. Hier spielt sie zunächst die Frau, die »Unruhe in die Gruppe« bringt, und irgendwann wird sie dabei zur Heldin des Films. Nicht ganz so unerschrocken wie Michelle Williams oder Hailee Steinfeld, aber so goldblond und treu wie Grace Kelly.
Apropos Gold: Der Titel könnte ja noch als minimalistisch durchgehen, aber der Vorspann, der im güldenen CGI-Reichtum protzt, ist so unverschämt großkotzig, dass man es schon fast wieder sympathisch findet. Wie viel Gold man dann wirklich sieht, will ich nicht vorwegnehmen, aber die »gutausgebauten Straßen«, die unbeschwerlichere Route und das Paar an Köchen, das man mitnimmt, dass dann aber nur »pulverisierte Kartoffeln, kristallisierte Eier und getrocknete Zwiebeln« kredenzt machen noch stärker als das Geschrammel auf der E-Gitarre klar, dass man die Erwartungen herunterschrauben sollte. Aber besser als der eine Dollar am Tag, den man in Chicago als Dienstmädchen verdient (und für den man mancherorts gerade eine Briefmarke bekommt), wird's schon sein.
Etwas unangenehm wird es, wenn sich der großspurige Journalist Müller (Uwe Bohm in einer ähnlich sympathischen Rolle wie in Im Schatten), zerfressen vom verunglückten Machogehabe, Alkoholismus und Herrenmenschengedanken, anbietet, den »Leiter der Gruppe« (Untertitel »leader« zurückübersetzen!) zu geben, und man für Minuten in Gefahr schwebt, einem »Das weiße Band 2« beizuwohnen. Doch Arslan macht es besser als die Köchin, er serviert zwar durchgehend den selben kargen Brei, aber es gibt immer mal wieder etwas zu entdecken, was einen bei Laune hält: ein Stück Karotte hier, eine Apfelspalte dort - und auch eine Menge Humor, bei dem man angesichts Arslans früherer Filme nicht komplett sicher ist, ob er gewollt ist. Wenn Lars Rudolph sich plötzlich aufführt wie Klaus Baumgart im Dschungel-Camp oder das Publikum aus anderen Gründen an unpassenden Stellen (z. B. einer Beerdigung) lacht, dann erinnert man sich ein klitzekleines bisschen an Die Nacht singt ihre Lieder und den Wutausbruch Romuald Karmakars - auch, wenn ich mir sicher bin, dass Arslan gefestigter reagieren würde.
Einerseits fühlte ich mich durch den Film gut unterhalten, andererseits verlor ich aber irgendwann auch den Bodenkontakt. Nachdem die Köchin sich verabschiedet hat, taucht für eine kurze Szene mal ein sechstes Pferd auf (wie Donald Ducks berühmter vierter Neffe), und spätestens ab da hatte ich Probleme, einiges ernstzunehmen. Wenn Lars Rudolph dann wie einst Ralf Wolters sein Toupet abgenommen hätte oder der Regisseur als Nebenfigur »Charlie« plötzlich einen (durchaus symbolkräftigen) Cameo-Auftritt absolviert hätte, so wäre meine Überraschung überschaubar geblieben. Das nächtliche Wolfsgeheul klang plötzlich wie Der Hund von Blackwood Castle und ich entschied für mich, dass Thomas Arslan hier nicht ganz so stilsicher im Sattel sitzt wie etwa Blumfeld (Hamburger statt Berliner Schule), die in ihren Texten sogar Pferde auf dem Flur stehen lassen können, ohne dabei abgeworfen zu werden.
Ich weiß die Anstrengung zu schätzen, ich kann den Beitrag zum Weltwestern gutheißen, aber eine wirkliche Notwendigkeit erfüllt dieser Film nicht. Nach Im Schatten, einem durchweg gelungenen Ausflug ins bereicherte Genrekino, ein Auf-der-Stelle-treten oder sogar ein Schritt zurück.
Deutschland 2013, Buch, Schnitt: Ramon Zürcher, Kamera: Alexander Haßkerl, mit Jenny Schily (Mutter), Anjorka Strechel (Karin), Mia Kasalo (Clara), Leon Alan Beiersdorf (Jonas), Luk Pfaff (Simon), Matthias Dittmer (Vater), Kathleen Morgeneyer (Hanna), Monika Hetterle (Großmutter), Gustav Körner (Nachbarsjunge), Sabine Werner (Tante), Armin Marewski (Schwager), Lea Draeger (Frau auf Balkon), 72 Min.
Ein Film, der einem den Einstieg nicht leicht macht. Gestelzte Dialoge zuhauf. Fürs Drehbuch erzogene Kinder sprechen von »Speichelfäden« oder davon, dass jemand »vor der Haustür gebrochen« hat. Anekdoten werden vorgetragen wie nuanciert intonierte Hörbücher. Doch irgendwas war an diesem Film war schon früh faszinierend, kleine Momente - etwa ein Showdown der Blicke zwischen einem Hund und einem Kind. Und plötzlich entdeckt man einen eigentümlichen Rhythmus, vor allem in den Dialogen - und vergisst darüber das Problem der Realitätsfernheit. Aus einer Esstischumrundung wird zwar kein Ballett - aber irgend etwas minutiös einstudiertes, das den Blick fesselt.
Jenny Schily als »Mutter« wirkt eher wie eine Spielleiterin oder Requisitenkontrolleurin, um sie als Ruhepunkt herum drehen die anderen ihre verbalen Pirouetten.
»Hast Du 'ne Freundin?« [...] »Hast Du 'nen Lappen?«
»Darf ich Limonade haben?« [...] »Darf die Katze das?«
Die Dialoge sind poliert wie bei Harold Pinter, zudem bringt Anjorka Strechel als Karin eine perfide Verschlagenheit ins Spiel, die Absurdität des Alltäglichen entwickelt sich zur unterschwelligen Komödie.
»Wo ist Clara?«
»Wischt das Erbrochene weg und füttert die Ratten.«
Wenn Karin zwei Euro in der Waschmaschine findet, sinniert sie »Welch liebe Waschmaschine, wofür sie mich wohl bezahlt?« Der Freund konstatiert »Dafür, dass sie an Deiner Unterwäsche riechen darf.« Lakonischer Kommentar: »Stimmt.«
Doch über das Pintersche-Theatralische hinaus geht das Filmische, das die Existenzberechtigung liefert. Die exakte Choreographie von Kindern und Haustieren, die man so auf keiner Bühne reproduzieren könnte.
»Der Kater hat den Falter gefressen.«
»Stimmt.«
Die Gedichtartigkeit kleiner Montagesequenzen zu Musikuntermalung, Detailaufnahmen von Teebeuteln, Orangenschalen, fast abgerissenen Knöpfen. Und dazu der stetige Wechsel von Innen und Außen, statt Mauerschau Erweiterung des Raumes, der Altglascontainer unterstützt die Geräuschkulisse, der Pfandautomat lädt zum minimalistisch-visuellen Ausflug ein, die Hörbuch-Anekdoten werden durch Flashbacks illustriert.
Die Projektbetreuung an der dffb hatte Belá Tarr. Hört sich schwer nach Kunst an. Stimmt! Aber unterhaltsame Kunst. Was hier so im Kochtopf kreiselt ist krasser (und komischer) als Camille Claudels Kartoffeln.
Deutschland 2013, Buch: Lars Kraume, Kamera: Jens Harant, Schnitt: Barbara Gies, Musik: Julian Maas, Christoph Kaiser, mit Jördis Triebel (Linda), Nina Kunzendorf (Katharina), Lisa Hagmeister (Clara), Stephan Grossmann (Micha), Jaecki Schwarz (Vater), Monika Hansen (Mutter), Marc Hosemann (Fabian), Maike Bollow (Heike), Angela Winkler (Leonie), Ernst Stötzner (Daniel), Beatrice Dalle (Mildred), 88 Min.
Billy Wilder wollte William Holdens ersten Auftritt in Sunset Boulevard bekanntlich ursprünglich in einer Leichenhalle, mit Identifikationszettel um den Zeh, drehen, was damals noch ein Problem für das Publikum gewesen wäre. Heutzutage bringt das niemanden mehr aus dem Konzept, und so beginnt Meine Schwestern seine Voice-Over-Erzählung mit den letzten Wegen der Hauptfigur Linda (Jördis Triebel) auf einem Krankenbett, das diesen Namen nicht mehr verdient, in den Korridoren eines Hospitals.
Zeit ihres Lebens hatte Linda einen Herzfehler, ihre mehrfach neu kalkulierte Lebenserwartung hat sie immer wieder überschritten, doch nun spürt die 30jährige, dass es langsam zu Ende geht, und will noch mal mit ihren Schwestern ein Wochenende in dem verschlafenen Nordsee-Badeort verbringen, in dem die Familie einst regelmäßig die Ferien verbrachte. Das erste Problem ist dabei, die ältere Schwester Katharina (Nina Kunzendorf, aktuell die Tatort-Kollegin von Joachim Król - wobei einige der Folgen von Lars Kraume inszeniert wurden) überhaupt dazu zu überreden, denn die Familienmutter hat ihr Leben (und das Wochenende) bereits durchgeplant (es hat sie geprägt, dass ihre Mutter ihr bereits mit fünf Jahren einimpfte, sie müsse »jetzt sehr stark sein«, um sie für den »bevorstehenden« Tod Claras zu wappnen). Die andere, jüngere Schwester Clara hat sich zum anderen Extrem entwickelt, studiert ein bisschen hier, fotografiert ein bisschen dort und sehnt sich nach Anerkennung, findet aber nur Depressionen.
Schließlich rauft man sich aber zusammen und es geht nach Tating, wo Linda seinerzeit zum ersten Mal Kaffee getrunken hat. Und Schnaps. Und die ersten Jungs geküsst. Jetzt weiß sie, dass ihr Mann eine Affäre mit einer Frau aus ihrem Kirchenchor hat (»so'ne hysterische, blasse, hässliche«), will aber weder keine Konfrontation mit ihrem Mann (der auch viel durchmachen musste), und gönnt es ihm (auch mit Hinsicht auf jene Operation, von der sie nicht annimmt, dass sie sie überlebt), »auch mal mit einer gesunden Frau« undsoweiter …
Die Schwestern sind etwas schockiert und willigen nur widerwillig ein, nicht einzugreifen - und wenn man am Abend als Anhängsel eines Junggesellinnenabschieds noch mit »inne Disse« (namens »Silbermöwe) fährt, knutscht ausgerechnet Katharina ziemlich hemmungslos mit einer früheren Bekanntschaft herum. Was zumindest davon zeugt, dass man langsam entspannt.
Das gesamte Wochenende entwickelt sich natürlich in einen Abschied mit der Absicht, die beiden schlecht aufeinander zu sprechenden Schwestern zu versöhnen, und in den allermeisten Filmen könnte das ganz schrecklich werden. Doch bei dieser »Bucket List« kommt wenigstens auch ein Eimer vor, und der Film hat noch einige Überraschungen gut, darunter einen der eigentümlichsten Filmküsse seit langem und einen wunderbar durchgedrehten Gastauftritt von Béatrice Dalle.
Zu Beginn nervt die dauernde Voice-Over-Erzählung ziemlich (ist aber aus Informationsvermittlungsgründen wahrscheinlich unumgänglich), doch sobald sich der Film ganz auf den Ausflug der Schwestern besinnt. Selbst die beim Thema nicht ungewöhnliche Tendenz zu religiösen Ansätzen (der Kirchenchor singt »Herr, hör unser Gebet« und Linda schaut etwas zu lange auf das Engelsbild über dem Bett in der Pension) konnte meinen positiven Gesamteindruck nicht empfindlich schmälern. Bei der Vorab-Pressevorführung wurde übrigens im Anschluss an den Nachspann der Krankenhaus-Beginn des Films gleich noch mal gezeigt, und erstaunlich viele Kritiker blieben trotz der komplett gleichen Szene noch im Kino, bis die Dame von der Agentur großzügig meinte: »Sie müssen den Film nicht ein zweites Mal sehen.« Das wäre aber auch nicht die schlechteste Idee gewesen. Auf der Berlinale gibt es nur wenige Filme, die man mehr als einmal (insbesondere gleich sofort danach) sehen will, bei mir waren es etwa 10%. Für »weniger als ein mal« waren es fast doppelt so viele ...
USA 2013, Buch: Matt Drake, Kamera: Roman Vasyanov, Schnitt: Hughes Winborne, Musik: Christophe Beck & Deadmono, Kostüme: Jennifer Johnson, mit Shia LaBeauf (Charlie Countryman), Evan Rachel Wood (Gabi Ibanescu), Mads Mikkelsen (Nigel), Melissa Leo (Kate), Ion Caramitru (Victor Ibanescu), Til Schweiger (Darko), Rupert Grint (Karl), James Buckley (Luc), Vincent D'Onofrio (Bill), John Hurt (Narrator), Bogdan Farcas (Hostel Clerk), Gabriel Spahiu (Taxifahrer), Vanessa Kirby (Felicity), 107 Min.
Der aus Stockholm stammende Fredrik Bond war laut Presseheft seit Kindestagen besessen von amerikanischen Filmen der späten 1970er und frühen 80er. Und von »britischen Werbefilmen«. Somit zog er Ende der 90er nach London, drehte ein Moby-Video und jede Menge, teilweise preisgekrönte (oder zumindest nominierte) Werbefilme für Adidas, Budweiser, Heineken, Levis, Nike und Puma. Oder, von mir zusammengefasst: Turnschuhe, Jeans und Bierchen.
Dummerweise habe ich während seines Spielfilmdebüts gar nicht darauf geachtet, was für eine Jeans und was für Turnschuhe Shia LaBeauf so trägt. Statt Bier trinkt man vor allem Sambuca, Korn und Whisky. Und um gut draufzukommen, knallt man sich jede Menge Drogen rein (mit »Karpaten-Ecstasy« gibt es beispielsweise einen Trip, bei dem alle Frauen in der Umgebung nackt herumlaufen, und das »sex sells«, das weiß Mr. Bond). So wie Richard Linklaters Before Sunset vor fast zwanzig Jahren das Lebensgefühl der Generation »Inter-Rail« beschrieb, geht es auch hier um einen jungen Amerikaner, der recht spontan nach Bukarest aufbricht, dort ein großes Abenteuer erlebt, sich verliebt, bei wilden Partys mitfeiert und, so wollen uns der Prolog und Titel des Films weismachen, dann einen »notwendigen« Tod erfährt, erschossen von der Frau, die er liebt. Man sieht, wie sie abdrückt, man sieht, wie eine Kugel sein T-Shirt zerfetzt, und dann - just for good measure - wird der kurz vor dem Prolog auch noch zusammengeschlagene Charlie von einer hohen Brücke in einen Fluss geworfen, und während sein lebloser Körper auf die Unterwasserkamera heruntersinkt, schildert uns Erzähler John Hurt die Notlage der Figur, deren Geschichte wir dann im Verlauf des Films erfahren dürfen. Um eines vorwegzunehmen: Ich durchlitt diesen Film nur deshalb bis zum Ende, um herauszukriegen, mit welchem fadenscheinigen Betrug man Charlies Überleben dem Betrachter unterjubeln würde. Ich ahnte Schlimmes, doch am Ende eines Films, bei dem man sich immer wieder fragt, warum das Adjektiv »necessary« im Titel vorkommt (nicht nur, aber auch auf die Berlinale-Wettbewerbs-Besetzung bezogen), zieht ein wahrlich unterirdisches Ende den ziemlich unerträglichen Film dann tatsächlich noch ein paar Meter tiefer in sein verdientes feuchtes Grab. Oder, wie es im Presseheft heißt: »the film ends on a big satisfying and inspiring note«. WTF? Okay, das Ende hat mich inspiriert, einen galligen Verriss zu schreiben, aber wenn dieses Mist-Ende »befriedigend« sein soll, dann muss man Masochist sein, und die vermeintliche »Befriedigung« hat irgend etwas mit fünf Viagra und einer Menge Sekundenkleber zu tun ...
Womit wir bei Rupert Grint wären, der mir immerhin dazu verhalf, zu verstehen, was für eine Art Film ich da gesehen habe. Wie Cherrybomb vor ein paar Jahren ist The Necessary Death of Charlie Countryman nämlich eindeutig ein 14plus-Film. Es geht darum, dass man den Sinn des jungen Lebens entdeckt, sich verliebt und zumindest so was ähnliches wie das »erste Mal« erlebt. Dummerweise ist Shia LaBeauf zwar so ein Berufsjugendlicher wie einst Michael J. Fox, aber er passt in einen 14plus-Film so wenig wie die doch ziemlich dunkle, bedrohliche und blutige Unterwelt, in die er hier absteigt. Das einzige, was erst Shia LaBeauf für diesen Film ermöglicht, ist es, dass Til Schweiger mal wieder mit seinem unerträglichen Akzent Englisch sprechen darf und dennoch nicht als schlechtester Schauspieler des Films heraussticht. Ja, ich rede mich in Rage wie ein kleiner Pöni, aber auf einem anderen Niveau kann man sich mit diesem Film auch nicht befassen, er ist so enervierend wie RTL, PMS oder FDP. Und deshalb wird er ab sofort auch nur noch TNDOCC abgekürzt.
Wenn der Anfang des Films nicht so offensichtlich der Bekanntmachung eines großen Betrugs am Zuschauer entsprechen würde, hätte das ja noch okay sein können. Weiter geht es dann mit Charlie am Totenbett seiner Mutter (Melissa Leo), inklusive Wegwerf-Winzauftritt Vincent D'Onofrio als Bruder. Shia drückt ein paar Krokodilstränen heraus, und plötzlich gibt es einige Spezialeffekte, die so »necessary« sind, dass ich an den zwei Tage zuvor gesehenen Cloud Atlas denken muss. Doch alles, was da so an Seelenwanderungs- und Wiedergeburts-Mumbojumbo abgezogen wurde, war verglichen mit TNDOCC reines Gold. Das Gespräch, das Charlie zu Lebzeiten nie mit seiner Mutter führen konnte, holt er nun mit einer Geisteserscheinung nach (Melissa Leo war die beste Schauspielerin des Films - mit Abstand), und das Ganze endet dann mit einem dahingeworfenen Ratschlag, der Charlie nach Bukarest aufbrechen lässt. Im Flugzeug gibt es dann die zweite Geisteserscheinung (gut sind in diesem Film nur die Leute, die als Geist auftreten - und vielleicht John Hurt als Erzähler), gefolgt von einigem Slapstick am Flughafen, ehe Charlie, der sich inzwischen in Gabi (Evan Rachel Wood tut einem fast leid in diesem Film) verliebt hat, all seinen Mut zusammennimmt, und aufbegehrt. In Zeitlupe, weil man das beim Werbefernsehen so gelernt hat. An dieser Stelle (die sich noch gefühlt ein halbes Dutzend mal wiederholen wird) erinnerte ich mich an den Eröffnungsfilm des Wettbewerbs, Wong Kar-Wais endgültigen Abschied aus der Riege der ernstzunehmenden Regisseure, und während Charlies Leben weiter an meinem Auge vorbeizog, intonierte ich gedanklich wieder und wieder eine Forderung, für die ich auch bei dieser Schweinekälte demonstrieren gehen würde: »Zeitlupenverbot für den Wettbewerb«. Zumindest diese aufgesetzte, vermeintlich künstlerische, ästhetisch minderbemittelte Zeitlupe, die in TNDOCC und The Grandmaster so dauerpräsent ist, so (tief Luftholen) »necessary«, und die natürlich (adding injury to insult) auch dafür sorgt, dass diese Filme noch länger werden.
An dieser Stelle eine kurze Exkursion: Schon während der Vorab-Vorführungen entwickelte ich bei dieser Berlinale einen Grundsatz, den ich leider nicht immer befolgt habe. Denn es gibt durchaus Filme, die man deshalb nicht zu Ende schauen sollte, weil man durch dieses Durchleiden bis zum letzten Röcheln des Zelluloids all jene Filme beleidigt, denen man zuvor die Euthanasie des Kinogängers, das Verlassen des Vorführsaals, angedeihen ließ. TNDOCC und ein weiterer Film, über den ich noch nicht reden soll, gaben mir den irrigen Anschein, dass ich bis zum Ende warten sollte - in beiden Fällen habe ich dies bitter bereut.
Ich habe bereits zu viel von meiner und der Zeit der Leser für diesen Schmarrn vergeudet. Ich mache es kurz, nur noch drei Statements, wobei ich mir das positivste - wie ein schlechtes Happy End - für den Schluss aufbewahre.
Erstens: im Film gibt es eine Szene, die den Film eigentlich großartig zusammenfasst: Als Charlie mal wieder unter Drogeneinfluss steht, schaut ihm aus dem Grund eines Pissoirs ein Auge entgegen. Das ist die kongeniale Übertragung der Situation des Zuschauers: ein Auge, in das unablässig stechender Urin plätschert.
Zweitens: eine Szene fehlt im Film, denn Til Schweiger überlebt. (Wenn ich in einen Film mit Til Schweiger gehe, will ich immer, dass er stirbt. Möglichst grausam und möglichst rasch nach seinem ersten Auftritt. Im realen Leben ist meine Einstellung diesem Hoffnungsträger der deutschen Filmindustrie gegenüber natürlich eine komplett andere.) Ganz am Schluss von TNDOCC hatte ich eine Vision: Der junge Fred Savage springt aus seinem Krankenbett auf, unterbricht den Redeschwall seines Großvaters (John Hurt) und ruft entgeistert: »Wer tötet Humperdinck?«
Drittens: mir ist irgendwann dann doch noch eingefallen, worum dieser Film für den Wettbewerb so »necessary« ist: einer der nicht wenigen Silbernen Bären ist ja reserviert für eine »herausragende künstlerische Leistung aus den Kategorien Kamera, Schnitt, Musik, Kostüm oder Set-Design«. Und für Evan Rachel Woods bunte Palmen-Jacke oder Fischbluse, vor allem aber für Mads Mikkelsens großartiges Hemd mit den kleinen Dackeln hätte TNDOCC vielleicht keinen Bären verdient (silberne Dackel sind ja nicht vorgesehen), aber zumindest die »Nominierung«, die die Vorführung innerhalb des Wettbewerbs ja bedeutet. Und siehe da, ein (unnötig) versöhnliches Ende dieser Kritik. Kostümdesignerin Jennifer Johnson lebe hoch!
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