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17. Februar 2013 | Friederike Kapp und Thomas Vorwerk für satt.org | ||||||||||
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Originaltitel: Epizoda u zivotu beraca zelieza, Bosnien und Herzegovina / Frankreich / Slowenien 2013, Buch: Danis Tanovic, Kamera: Erol Zubcevic, Schnitt: Timur Makarevic, mit Senada Alimanovic (Senada), Nazif Mujic (Nazif), Sandra Mujic (Sandra), Semsa Mujic (Semsa), 74 Min.
Der in Sarajevo aufgewachsene Regisseur Danis Tanovic arbeitete während des Krieges dokumentarisch, und wurde international bekannt durch seinen Debütfilm No Man's Land (2001). Es folgten die französische Kieslowski-Adaption L'enfer, der englischsprachige Film Triage (mit Colin Farrell) und die Rückkehr in heimatliche Gefilde mit Cirkus Columbia. Bei der Episode im Leben eines Altmetallsammlers ist außergewöhnlich, dass Tanovic nicht nur eine wahre Geschichte erzählt, sondern diese nicht nur mit Laiendarstellern nachstellt, sondern mit exakt den Personen, denen diese Geschichte widerfahren ist (mit Ausnahme einiger Ärzte). Dieses Vorwissen (das ich persönlich bei der Filmsichtung nicht hatte) nimmt dem Film ein wenig die Schärfe, die mögliche Tragik, denn die vermeintliche »Episode« (der Titel verharmlost schon ein wenig) dreht sich um eine schwangere Frau, deren unausgetragenes Kind im fünften Monat stirbt, und die, weil sie und ihr Mann das Geld für die notwendige Operation nicht vorschießen können (Krankenversicherung: Fehlanzeige), mehrfach nach langen und beschwerlichen Anreisen zu Krankenhäusern von diesen abgewiesen werden.
Wenn man weiß, dass die Hauptdarstellerin ihre eigene Geschichte nachgespielt hat, und sie bei der Pressekonferenz ein Kleinkind auf dem Arm trug, dann bangt man im Film wahrscheinlich nicht ganz so sehr mit, aber das ist nun wirklich auch kein Fall, wo ich einem Film das Happy End übel nehme (und der Film selbst – für sich betrachtet – gönnt sich dabei fast noch ein ansatzweise offenes Ende).
Während ich bei manchen Gesprächen unter Kritikern mitbekam, wie der Film als der diesjährige »Roma-Film« zusammengefasst wurde (bereits verdrängt, auf welchen Vorjahresfilm man sich dabei bezieht), so finde ich, dass dies natürlich eine etwas seltsame Verkürzung der Zusammenhänge ist – für mich (und ich bin niemand, der nur in einen Film geht, weil politische Missstände thematisiert werden) war die unmenschliche, Profit über ein Menschenleben stellende Praxis des Krankenhauses, viel ausschlaggebender für den Film, der mit anderen Protagonisten, die in diese Notlage geraten wären, ebenso funktioniert hätte. Wie der Titel aber schon betont, ist auch der vermeintliche Beruf des Vaters zweier Kinder hier sehr wichtig. Nazif (Nazif Mujic) schlägt sich mit dem Ausschlachten herrenloser Autos durch. Mit seinem Bruder und einigen nicht genau definierten »Vettern« und anderen Mitgliedern der in einer in spärlichen Häusern lebenden Roma-Gemeinde verwandeln sie Autowracks unter schwerer körperlicher Arbeit mit Äxten und Sachverstand in Metallschrott, den man dann veräußert – das Einkommen reicht auf diese Weise gerade für das Notwendigste, mitten im Winter kann es da auch mal schnell zu einer Stromabschaltung kommen. Ein winziges, aber aussagekräftiges Dialogdetail: man fragt hier nicht, was es zu essen gibt, sondern ob. So wie den Alltag Nazifs schildert der Film auch die täglichen Verrichtungen seiner Frau Senada (Senada Alimanovic). Sie wäscht, knetet Teig und kocht, kümmert sich dabei um die zwei kleinen Töchter und wartet dann gegen Einbruch der Dunkelheit auf die Rückkehr ihres Mannes, bei dem sich täglich neu entscheidet, welchen monetären Beitrag er zur Existenzfortführung leisten kann. Und mitunter schickt sie ihn dann auch wieder zurück in die Kälte, weil das Brennholz alle ist. Über die in Deutschland aktuell thematisierte »Altersarmut« will man da lieber gar nicht nachdenken.
Als Senada nach einigen (visuell ausgesparten) Blutungen eines Abends mit Bauchschmerzen auf dem Sofa liegt, ist schon die erste Reise zum entfernt liegenden Krankenhaus problematisch, bei der ebenfalls erfolglosen Wiederholung verschärft sich die Situation. Das Auto springt nicht an, Benzin braucht man auch, für die Kinder findet man nicht ohne weiteres einen Babysitter (schon dieses Wort verharmlost die Situation), und als man dann zurückkehrt, wurde zwischendurch auch noch der Strom ausgeschaltet. Bei einer vorsichtigen Schätzung von Nazifs möglicher Tageseinnahme in Relation zu den veranschlagten Operationskosten müsste Senada fast drei Wochen durchhalten, irgendwann wirken aber schon drei Tage kritisch. Den (nicht immer streng legalen) Einfallsreichtum und die Opferbereitschaft Nazifs sowie die gegenseitige Unterstützung in einer verschworenen Minderheit will ich an dieser Stelle nicht detailliert betreiben, denn der Film hat in seinen nur 74 Minuten viel zu erzählen. Das Drehbuch stammt zwar laut Credits vom Regisseur, aber die Protagonisten haben vor allem ihre Erinnerungen an die Erlebnisse nachgespielt, eine Dramatisierung war gar nicht notwendig, dass sich der eigentliche Fall kurz vor Weihnachten (2011) ereignete, wird beispielsweise – abgesehen vom kalten Wetter und Schneefall – ausgespart, aber es gibt eine Szene, die – ungeachtet ihres realen Vorbild – besonders verdeutlicht, warum die Episode über ihren halbdokumentarischen Duktus hinaus auch ein Beispiel für große Filmkunst ist (was ja bei den Prioritäten des Wettbewerbs leider klar erst nach der politischen Relevanz ins Spiel kommt): Nazif hat gerade Senada zum dritten Mal ins Krankenhaus gebracht, für ihn ist weder klar, ob es zu einer Operation kommt oder ob die Ärzte seinen »Trick« durchschauen. Und natürlich, wie die Operation dann verläuft. Die beiden kleinen Töchter mussten diesmal mitgebracht werden, über die Situation wurden sie nicht aufgeklärt. Und während Nazif bange wartet, seine Anspannung aber vor den Kindern geheimhält (ein glücklicher Fall für den Darsteller), sind die Mädchen das lange Warten satt, sie tollen durch den Krankenhaus-Korridor, immer wieder zaghaft ermahnt vom Vater, sich zumindest etwas zusammenzureißen. An diese ganz außergewöhnliche Art von Suspense werde ich mich noch lange erinnern …
USA 2013, Buch: David Gordon Green, Buch-Vorlage: Hafsteinn Gunnar Sigurdsson, Kamera: Tim Orr, Schnitt: Colin Patton, Musik: Explosions in the Sky, David Wingo, mit Paul Rudd (Alvin), Emile Hirsch (Lance), Joyce Payne (Lady), Lance LeGault (Truck Driver), 94 Min.
Im Vorfeld der Berlinale (als ich noch nicht ahnte, was mich mit The Necessary Death of Charlie Countryman erwartet) wirkte dieser Film wie der wohl absurdeste Wettbewerbsbeitrag. Nach Pineapple Express und Your Highness wirkt schon der Titel »Prince Avalanche« so durchgedreht, dass man eine ähnliche Bombe erwartet – und man kann sich die Auswahl des Films auch nicht – wie bei früheren Wettbewerbsfilmen mit Sharon Stone oder Jennifer Lopez – damit erklären, dass die Stars den Ausschlag gaben. Paul Rudd und Emile Hirsch sind zwar bekannt, aber wenn sie im Café am Nachbartisch sitzen, holt man wahrscheinlich nicht einmal das Foto-Handy raus.
Der eigentliche Film war dann eine positive Überraschung, denn Prince Avalanche hat das, was im Wettbewerb fehlt. Der Film nimmt sich selbst nicht total ernst, aber man kann ihn dennoch ernstnehmen. Inspiriert from isländischen Film annan veg (lief als Ein anderer Weg 2011 auf den Filmtagen in Lübeck) erzählt er die Geschichte zweier Straßenarbeiter, die vor allem damit beschäftigt sind, Pfosten am Straßenrand zu befestigen und die gelbe Linie in der Mitte der Straße zu ziehen. Das mag im Island der 1980er fast noch ein normaler Job sein, hier wirkt es ziemlich absurd, unter anderem auch durch die fehlende Information darüber, wie lange die beiden schon dabei sind oder wie viel Straße noch vor ihnen liegt. Das Ganze wirkt wie eine Sysyphos-Arbeit. Und erinnerte mich ein wenig an Paul Austers The Music of Chance (wurde auch mal verfilmt, mit James Spader und Mandy Patinkin).
Regisseur Green hat die Geschichte von einem Staat mit einer Bevölkerungsdichte von 3,1 Personen pro Quadratkilometer in die USA verlegt, wo es mehr als zehnmal so viele sind. Aufrecht erhalten wird das Ganze aber dadurch, dass die Geschichte nun in einem vor kurzen abgebrannten Waldgebiet spielt. Alvin (Paul Rudd) und Lance (Emile Hirsch) sind allein auf weiter Flur, die einzige Straße, ihr Arbeitsort, ist vom Verkehr abgeschnitten, einzig ein LKW-Fahrer (der für die selbe Firma zu arbeiten scheint, aber vor allem nach isländischen Vorbild damit beschäftigt ist, sein Umfeld mit selbstgebranntem Schnaps zu bereichern) taucht manchmal auf. Und eine mysteriöse Frau, über die ich an dieser Stelle schweigen möchte. Während Alvin den Job offenbar als Berufung versteht, lauert Lance nur auf das Wochenende, »getting the little man squeezed« ist für ihn die einzige Karriereoption.
Der Unterschied zwischen den beiden zeigt sich auch über eine Streitquelle, einen Cassettenrekorder. Alvin lauscht gerne einem Deutsch-Kurs, Lance mag lieber laute Rockmusik, und wird dann darüber aufgeklärt, dass die Abmachung über die zeitlich geteilte Nutzung des Rekorders nicht bei Erziehungsinhalten zählt. Ein bisschen wie Ernie und Bert oder Oscar und Felix. Das ist eigentlich schon die komplette Versuchsaufstellung, mit der man aber lieber anderthalb Stunden verbringt als mit den meisten Wettbewerbsbeiträgen. Die profunden Lebensweisheiten des Films erschöpfen sich aber nicht darin, dass man in ausgeliehenen Comicheften (»collector's items«) keine Rätsel ausfüllen sollte, denn der Film hat trotz vieler Albernheiten auch einen ernsthaften Kern. Und einige Momente, die durchaus verzaubern oder faszinieren, wie die Roadkill-Schildkröte, die Besuch von einem Stinktier bekommt. Im Grunde schimmert hier auch oft der David Gordon Green durch, der einst sein Debüt George Washington im Forum präsentierte.
Und der ach so seltsame Titel des Films erfährt auch eine ansatzweise Erklärung, deren zweite Hälfte sich aber nur für Zuschauer mit Deutschkenntnissen erschließt. Denn irgendwann demonstriert Alvin mal seinen Lehrerfolg auf reichlich seltsame Weise. Er will offenbar von einem »Abenteuer« sprechen, benutzt aber das Wort »Lawine« (keinen Schimmer, in welchem Zusammenhang der Deutschkurs dieses Wort als notwendig erachtete). In den englischen Untertiteln für die wenigen deutschen Einsprengsel steht aber »adventure«. Alvin macht einen Fehler, den der Film durch den selben Fehler wieder korrigiert. Und dadurch für das englischsprachige Publikum unsichtbar macht. Wenn man aber weiß, was »Lawine« auf Englisch heißt, sieht man auch, dass der Regisseur diesen doppelten Fehler absichtlich einbaute. Was auf eine hinterfotzige Art clever ist. Und irgendwie philosophischer als etwa die Hälfte der Wettbewerbsbeiträge, die ich so gesehen habe.
Deutschland 2013, Buch: Carolin Genreith, Kamera: Philipp Baben der Erde, Schnitt: Stefanie Kosik, Musik: Fabian Saul, Rafael Triebel, Sounddesign: Henning Hein, Tilo Busch, mit Birgit Genreith, Marita Kreiselmeyer, Birgit Bodden, Anna Kreiselmeyer, Irmtraud Huppertz, 74 Min.
Die Angst vor ihrem eigenen herannahenden 30. Geburtstag, der unweigerlich den Abschied von jugendlichen Albern- und Freiheiten markieren wird, hat die Regisseurin zum Anlass genommen, sich einmal in ihrer Umgebung umzusehen und zu ergründen, ob und was andere Frauen dem Älterwerden entgegenzusetzen haben. Die Wahl eines Anschauungsobjekts fiel auf ihre Mutter, die seit annähernd 20 Jahren in einem Dorf in der Eifel regelmäßig Bauchtanz betreibt. Der ironische Vergleich des Titels benennt nicht nur den leichten Tonfall, mit dem diese ernste Angelegenheit filmisch in Augenschein genommen wird, sondern verweist in subtiler Doppelbödigkeit darauf, womit wir es mit dem Bauch einer alternden Frau zu tun haben: Hier wohnen Wölfe! Oder nicht?
Aber so sehr sie sich auch bemüht – die neugierige Tochter findet in der Truppe heiterer Klimakterikerinnen, der ihre Mutter angehört, keinen Hinweis auf innere Zerrissenheiten, Kämpfe oder Abgründe. Verschiedene Frauen werden interviewt und porträtiert, mit je verschiedenen Schicksalen – verwitwet, geschieden oder seit Jahrzehnten glücklich verheiratet, kinderlos oder enkelgesegnet, Freiberuflerin, Künstlerin oder Rentnerin. Ein sicheres Auskommen scheinen sie jedoch alle zu haben, was einer gelassenen Grundeinstellung zweifellos entgegenkommt. Ähnlich sind sie einander in ihrer vorwurfsfreien Ehrlichkeit, der versöhnten Reflexion, mit der sie ihren eigenen Fehlern, Versäumnissen, Errungenschaften und ihrer Umgebung gegenübertreten. Nicht nur die Mutter betont, wie ungleich schwieriger sie das Leben in jungen Jahren fand gegenüber heute.
Die Kamera zeigt die Frauen bei alltäglichen Verrichtungen, in Gesprächen, beim Feiern und natürlich beim Tanzen: im Probenraum, beim Einstudieren im Garten, beim Aussuchen der Kostüme, beim Umziehen, Schminken, Zurechtzupfen. Zwischendurch eine Totale auf die bewaldeten Hügel der Eifel, eine Straßenansicht, ein Schützenumzug. Der meist statische Bildrahmen setzt die Frauen in Szene, indem er ihnen die Bewegung überlässt. Gleich die Eingangssequenz pointiert die Gegenüberstellung von ewiggleichem dörflichen Idyll und der quirligen Lebendigkeit dieser Frauen, die in ihren orientalisch-exotischen Kostümen von rechts nach links ins Bild tanzen, vorbei an einer Reihe den Zuschauer stoisch anblickender Kühe.
Lediglich der Voice-over fällt irgendwann ab gegen die gut austarierte Bilderfolge. Die vorgetragenen Befürchtungen und Ängste hinsichtlich des Alterns und drohenden menschlichen Faltenwurfs wirken nach der gefühlt 27. Wiederholung etwas einfallslos.
Zum gelungenen Höhepunkt der Handlung wird eine Reise der Bauchtänzerinnen nach Paris, wo sie – ohne Gewerbeschein, ohne Einladung oder feste Adresse – irgendeinen netten Platz suchen, den Ghettoblaster anschmeißen und lostanzen, einfach so. Passanten bleiben stehen, lachen, tanzen mit, einer bringt ein Akkordeon – ein Gute-Laune-Programm mit Multiplikationseffekt. Ein schöner Film, der seinem Publikum nichts abverlangt und viel gibt.
USA 2013, Buch: Scott Z. Burns, Kamera: Peter Andrews (d. i. Steven Soderbergh), Schnitt: Mary Ann Bernard (d. i. Steven Soderbergh), Musik: Thomas Newman, mit Jude Law (Dr. Jonathan Banks), Rooney Mara (Emily Taylor), Catherine Zeta-Jones (Dr. Victoria Siebert), Channing Tatum (Martin Taylor), Vinessa Shaw (Deirdre Banks), 106 Min., Kinostart: 25. April 2013
Dass Steven Soderbergh keine Kinofilme mehr drehen will, stürzt mich weder in Euphorie noch Depression – ich bin aber guter Hoffnung, dass sein Standard-Kameramann Peter Andrews (ich bin kein Fan) jetzt womöglich seltener Kinoaufträge bekommt.
Soderberghs vermeintlich letzte Kinoarbeit gehört mal wieder in seine Mainstream-Schublade, gibt sich aber einen hochpolitischen Anstrich. Man kann sich förmlich vorstellen, wie Dieter Kosslick sich schon vor der Filmsichtung die Hände rieb, einen weiteren aktuellen Notstand anprangern zu können – und im gleichen Atemzug Jude Law auf dem roten Teppich begrüßen zu dürfen. Doch im Gegensatz zum Nutella-Glas und zum »Fracking«-Film handelt es sich hierbei um einen kleinen Etikettenschwindel.
Man glaubt, bei Einnahme des Films über hochbrisante Themen, rücksichtslose Pharma-Firmen und korrupte Ärzte zu erfahren, doch stattdessen gefällt sich der Film, in zunehmend aberwitzigen Story-Twists diverse Genres zu durchlaufen: Ach, ihr dachtet, dies sei ein Polit-Thriller? Ein Ehedrama? Ein Gerichtsfilm? Schlussendlich ist Side Effects zumindest ansatzweise all dies – entscheidet sich aber dann für einen Weg, der so viel uninteressanter und ausgetretener ist.
Immerhin muss man konstatieren, dass das Ganze zumindest in den ersten vier Fünfteln drehbuchmäßig clever konstruiert ist. Die nötigen Hinweise werden geliefert – aber gleichzeitig auch ausreichend falsche Fährten. Mich persönlich sprach besonders an, dass bei zwei Selbstmordversuchen des Tabletten-Opfers (Rooney Mara) es einen unübersehbaren visuellen Zusammenhang (»Exit«) gab, der nebenbei auch auf allegorischer Ebene Sinn ergab. Doch wenn man den Film dann zuende gesehen hat, stellt man fest, dass es nur eine Spielerei ohne tieferen Sinn war, der Zuschauer wird mit einer Vielzahl von unterschiedlichsten Informationen oder filmischen Anleihen (etwa die anfängliche Kamerafahrt wie in Psycho) überfüttert und dadurch davon abgehalten, den versteckten Pfad frühzeitig zu erkennen. Das ist ja gar nichts Schlechtes. Aber in diesem Fall fühlt man sich irgendwann sowohl betrogen als auch enttäuscht, denn der Schlusstwist macht aus Side Effects nicht nur einen uninteressanteren Film, gegen Ende wird das Drehbuch immer mehr hingeschludert. Man kann sich manche seltsame Entwicklungen mit gutem Willen zusammenreimen, aber man bekommt das Gefühl, Soderbergh ist es inzwischen egal. Stattdessen gibt es homophobe Klischees, unverständliche Rechtsauslegungen und ein Ende, das wahrscheinlich noch schlechter ist als das von The Necessary Death of Charlie Countryman. Doch als Zuschauer ärgert man sich darüber nicht so sehr, denn wenn es dem Regisseur egal ist, warum soll ich mich darüber aufregen? Man kann sich nicht einmal darüber aufregen, dass es ihm egal ist, denn das ist so, als wenn man dem Pensionär nach dem letzten Arbeitstag hinterherschreit, dass er beim Verlassen der Toilette mal wieder nicht gespült hat. Das muss man optimistisch sehen: es wird jetzt nicht mehr passieren.
USA / Griechenland 2013, Buch: Richard Linklater, Ethan Hawke, Julie Delpy, Kamera: Christos Voudouris, Schnitt: Sandra Adair, Musik: Graham Williams, mit Ethan Hawke (Jesse), Julie Delpy (Celine), Seamus Davey-Fitzpatrick (Hank), Xenia Kalogeropoulou (Natalia), Ariane Labed (Anna), Athina Rachel Tsangari (Ariadne), Yannis Papadopoulos (Achilleas), Panos Koronis (Stefanos), 108 Min., Kinostart: 6. Juni 2013
Ein Film, den scheinbar jeder mag – zumindest traf ich niemanden auf der Berlinale, der sich negativ äußerte. Außer Konkurrenz, weil Jury-Mitglied Athina Rachel Tsangari mitspielt, als Kompensation dann aber mit einem »Überraschungs«-Bären für Regisseur Richard Linklater ausgezeichnet, der immerhin alle drei Filme der Serie bei der Berlinale vorstellte, und sich damit offenbar bereits für eine Auszeichnung qualifiziert.
Vorweg will ich klarstellen, dass ich Before Sunrise und Before Sunset beide im Kino gesehen habe und mir jeweils irgendwann danach eine DVD der Filme gekauft habe (und ich kaufe mir nicht absichtlich Filme, die ich blöde finde). Ich stand dem Film im Vorfeld auch recht positiv gegenüber, u. a. auch, weil ich mich momentan ein wenig für das griechische Kino interessiere und mir die Wahl des Spielortes (nach Wien und Paris nicht ganz so romantisch) durchaus gefiel. Auch, wenn ich dabei wohl komplett ausgeblendet haben muss, dass die Vorgängerfilme sich für die politische Situation der Städte, in denen sie spielten, so gar nicht interessierten. Eine der wenigen Dialogzeilen, die man auch auf die griechische Krise beziehen könnte (aber nur in spielerischer Form) war »The ruins were closed« (so weit ist es also schon gekommen …).
Wie für mich üblich, wenn Regisseur und Besetzung bereits ausreichen, sich für einen Kinobesuch zu entscheiden, wusste ich nichts über die Handlung. Wenn Ethan Hawke als Jesse dann seinen Sohn am Flughafen verabschiedet, konnte ich mich an dieses Detail aus Film 2 gar nicht mehr genau erinnern, die Szene mit ihrem nonchalanten Vater-Sohn-Verhältnis klappte aber von vorne bis hinten und war ein guter Einstieg. Dass dann Celine (Julie Delpy) bereits mit dem Auto vor dem Flughafen auf Jesse wartet, war eine ziemliche Überraschung und eine Abkehr von Film 1 und 2. Die Zwillinge auf dem Rücksitz even more so.
Es folgt dann eine sehr lange Einstellung, die die Autofahrt zeigt, und bei der die schläfrigen kleinen Mädchen im Bildhintergrund entweder ganz großartiges Schauspieltalent zeigen – oder aber man per Compositioning mittlerweile mögliche Problemstellen ganz elegant umschiffen kann ;-)
Diese Autofahrt ist rein filmisch wahrscheinlich das Interessanteste am Film (später sind die Spaziergänge und Gespräche doch reichlich konventionell und unspannend aufgelöst), und obwohl sich bereits eines der zwei Probleme des Films zeigt, überspielen Linklater / Hawke und Delpy dies mit Leichtigkeit. Denn wo sonst (also in Film 1 und 2) die zufällige oder nicht so zufällige Begegnung der Startschuss war für ein Kennenlernen oder Wieder-Kennenlernen, für einen Austausch der Lebenssituation und diverser Ansichten, da leben die beiden Personen im Fokus des Films bereits seit Jahren zusammen, was entweder dazu führen kann, dass sich die Informationsvergabe für den Zuschauer erschwert (ganz vernünftig aufgelöst), oder dass die beiden Personen damit gefordert werden, für jenen Tag, der wie ein Brennglas und eine Momentaufnahme wirkt, Anekdoten, Erinnerungen und Gesprächsansätze einzubringen, die nicht nur für den Zuschauer brandneu sind, sondern angeblich auch für die Protagonisten. Und hier beginnt es zu hapern, die Glaubwürdigkeit der ganzen Prämisse leidet zunehmend.
Wo Antoine Doinel oder Harry Angstrom (letzterer aus den Rabbit-Romanen von John Updike) den Vorteil hatten, immer wieder eine ganz neue Geschichte erzählen zu können, die dadurch, dass zumindest ein Großteil des Publikums um die Vergangenheit der Figuren weiß, nur noch zusätzlich gewinnt, zeigt sich bei den Before-Filmen das Problem, dass die Versuchsaufstellung von Film 1 und 2 nicht unendlich wiederholt werden kann – weil sie dann beliebig werden würde. Dennoch will man auf bestimmte Aspekte nicht verzichten: Die Feriensituation, das Bestreiten des Großteils des Films zu zweit (für die Zwillinge findet der Film einen Babysitter, wodurch ein wichtiger Aspekt des Lebens unserer Hauptfiguren quasi ausgeblendet wird) oder die kompakte Raum/Zeit-Situation, die sich jeweils auch im Filmtitel spiegelt (wird man das Format bei einer weiteren Zugabe sprengen, ähnlich wie George A. Romero, der nach Night, Dawn und Day auf Land, Diary und Survival umstieg?).
Was mich aber letztlich doch gegen den Film einnahm, waren die vermeintlich tiefsinnigen Gespräche. Kollegen meinten, vieles davon sei ironisch gemeint gewesen, aber wie hier angeblich hochgeistig und intellektuell vor allem die Zeit und das Altern thematisiert werden, man dabei aber oft nur uralte Konzepte wiederkäut, die dann zu Sprüchen fürs Poesiealbum wurden, das erzürnte mich ziemlich.
Das aus der bisher (Film 1 & 2) elliptisch ausgesparten bzw. spielerisch in Frage gestellten körperlichen Ebene dieser Liebesgeschichte nun eine Ausziehnummer wurde, verwunderte mich zunächst, machte aber im Kontext der Entwicklung durchaus Sinn und war auch eine gute Vorbereitung für die Szene, die den Film vielleicht noch hätte retten können. Doch der überfällige Ehestreit wird dann zunehmend zur Witznummer, die Glaubwürdigkeit geht immer mehr den Bach runter, und die Schlussszene war für mich dann nicht so »offen«, wie sie von vielen interpretiert wurde, sondern vor allem eine aufgesetzt wirkende Enttäuschung, um sicherzustellen, dass der Film auch für Zuschauer, die sich daran erfreuen, wie vieles in dieser Filmreihe ihr eigenes Leben spiegelt, immer noch als »Date-Movie« funktioniert. Als würde man das Ideal der romantischen Liebe künstlich am Leben erhalten. Ein Herzstillstand mit möglicher Wiederbelebung in neun Jahren wäre mir da ehrlicher erschienen. Und künstlerisch wertvoller.
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