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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




11. Februar 2013
Thomas Vorwerk
und Sven Schlünzig
für satt.org

Berlinale 2012




TVs Berlinale Top 20 (54 Filme gesichtet)
  1. Chiralia (Santiago Gil, Perspektive Deutsches Kino)
  2. Oslo, 31. August (Joachim Trier, Gilde-Screening)
  3. Don Jon's Addiction (Joseph Gordon-Levitt, Panorama)
  4. Fynbos (Harry Patramanis, Forum)
  5. I kori / The Daughter (Thanos Anostopoulos, Forum)
  6. Elle s'en va / On the Way (Emmanuelle Bercot, Wettbewerb)
  7. Lovelace (Rob Epstein & Jeffrey Friedmann, Panorama)
  8. Hitler's Madman (Douglas Sirk, Retrospektive)
  9. Will you still love me tomorrow? (Arvin Chen, Panorama)
  10. Computer Chess (Andrew Bujalski, Forum)
  11. Dark Blood (George Sluizer, Wettbewerb außer Konkurrenz)
  12. I used to be darker (Matt Porterfield, Forum)
  13. La maison de la radio (Nicolas Philibert, Panorama)
  14. The Small Back Room (Michael Powell & Emeric Pressburger, Retrospektive)
  15. Epizoda u zivotu beraca zelieza / An Episode in the Life of an Iron Picker (Danis Tanovic, Wettbewerb)
  16. A Single Shot (David M. Rosenthal, Forum)
  17. Stoker (Park Chan-wook, Gilde Screening)
  18. Upstream Color (Shane Carruth, Panorama)
  19. Narco cultura (Shaul Schwarz, Panorama)
  20. Prince Avalanche (David Gordon Green, Wettbewerb)

Cinemania-Logo 91:
Berlinale 2013, die dritte


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Fynbos
(Harry Patramanis, Forum)

  Fynbos. Bild © a four letter word
Bild © a four letter word


Südafrika / Griechenland 2012, Buch: Jonathan Kyle Glatzer, Harry Patramanis, Kamera: Dieter Deventer, Schnitt: Yorgos Mavropsaridis, Musik: Coti K., mit Jessica Haines (Meryl), Warrick Grier (Richard), Cara Roberts (Renée), Susan Danford (Anne), Sthandiwe Kgoroge (Officer Toni Bengu), Chad Phillips (VJ), John Herbert (Lyndon), 96 Min.

Dieser Film spielt in Südafrika, man spricht fast ausschließlich English und keine der Filmfiguren hat einen erkennbaren Bezug zu Griechenland. da man aber weiß, dass der Regisseur und einige aus der Crew Griechen sind, sieht man immer wieder Bezüge zur Situation des Landes, wie sie in den anderen Griechen im Festivalprogramm überdeutlich betont werden. Das ist ein interessantes Phänomen, was mich aber nicht weiter verharren lassen soll.

Meryl (Jessica Haynes, irgendwo zwischen Cate Blanchett und Sandra Hüller, bekannt aus der Coetzee-Verfilmung Disgrace) wirft ihren südafrikanischen Pass in eine Mülltonne und gibt bei der Polizei (und ihrem Ehemann) an, sie sei ausgeraubt worden. Das ist eine zunächst schwer verständliche Aktion, im Verlauf des Films erkennt man es aber als eine leise Rebellion, denn wenn man ihren Mann Richard (Warrick Grier) als »beschützend« und »besitzergreifend« beschreiben würde (erste Eindrücke), so würde dies nicht ausreichen. Richard hat Geldprobleme und muss dringend ein luxuriöses, aber nicht ganz fertiggestelltes Designer-Haus verkaufen. Die »Haussitter« VJ und Renée wirken wie eine jüngere Ausgabe des Paares Meryl/Richard, Renée könnte eine acht Jahre jüngere Schwester sein (und man sieht, wie Meryl sich in ihr ein wenig wiedererkennt), und bei VJ kann man miterleben, wie er einige weniger schöne Charakterzüge Richards im Umgang mit seiner Freundin annimmt. Die unterschwellige Anziehung zwischen den Paaren könnte schon ausreichend Brennstoff für den Film liefern, wie in einem dieser leicht klaustrophobischen deutschen Ferienfilme wie Alle anderen oder Formentera. Es gesellt sich aber noch ein drittes Paar dazu, die potentiellen Käufer, sehr britische Geschwister namens Lyndon und Anne.

Aus dem extravaganten Setting des »Fynbos Estates« (»fynbos« bedeutet so etwas wie »feiner Busch«, der übliche Euphemismus also) und der explosiven Figurenkonstellation holen Drehbuch und Regie so ziemlich alles heraus. Eine Insel des (angeknacksten) Reichtums inmitten eines Meeres der Armut, von der Meryl später verschwindet wie einst in Antonionis L'avventura. Plötzlich wird daraus ein Kriminalfall, doch interessanter als die eigentliche Handlung ist die Interaktion zwischen den Figuren, durchdacht und subtil. Meine absolute Lieblingsszene ist die, wo Meryl am Dinnertisch den nie stattgefundenen Raubüberfall beschreiben soll. »I didn't see the knife. [...] but when he pressed it against the back of my neck, it was rigid. [...] He called me a rich bitch.« Ich neige mitunter zur Überinterpretation, aber ich könnte schwören, dass die Autoren die Worte »rigid« und »rich«, die mir beide stark nach »Richard« klingen, ganz bewusst in diese Verbrechensdarstellung eingebaut haben. Mindestens unbewusst deklariert Meryl Richard bereits als den Täter ihres »Identitätsverlustes«, später wird er auch der Hauptverdächtige bei ihrem Verschwinden sein. Doch Fynbos ist kein Krimi (trotz der Erkundigungen einer schwarzen Polizistin, die ähnlich differenziert wie die sechs Hauptfiguren - aber sympathischer - dargestellt wird, sondern vor allem eine über anderthalb Stunden aufrecht erhaltene Anspannung. Es geht um Rassen- und Klassenkampf, um magischen Realismus und eine mythische Bedrohung, um die Selbstfindung Meryls (wenn sie bei einer Wanderung mal einen Käfer aufsammelt, sieht man wie einen Sonnenstrahl kurz ein Lächeln aufblitzen), aber auch um Selbstzerstörung und Selbsthass. Ich möchte nicht den kompletten Film nacherzählen oder auseinander analysieren, sondern es einfach dabei belassen, dass dies ein Film ist, der es verdient gehabt hätte, den diesjährigen Wettbewerb aufzuwerten. Fynbos hätte die Aufmerksamkeit verdient, die stattdessen an manche seltsame Wettbewerbs-Gurke verschwendet wird. Und er hätte - das wage ich schon jetzt zu sagen - auch ein oder zwei Bären verdient. Da das aber alles nicht mehr zu machen ist, hoffe ich zumindest auf ein paar internationale Verleihfirmen, die sich des Films annehmen. Ich mag das neue griechische Kino, und dies ist zwar nicht der typischste Vertreter, aber der - für sich genommen - gelungenste.

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Will you still love me tomorrow?
(Arvin Chen, Panorama)

  Will You Still Love Me Tomorrow?


Taiwan 2013, Buch: Arvin Chen, Kamera: Hsia Chao-Yu, Schnitt: Justin Guerrieri, Musik: Hsu Wen, mit Richie Yen (Weichung), Mavis Fan (Feng), Stone (San San), Kimi Hsia (Mandy), Lawrence Ko (Stephen), Wong Ka Lok (Thomas), 104 Min.

Der bekannteste aus Taiwan stammende Regisseur ist sicherlich Ang Lee, und auch, wenn es außer dem Herstellungsland keinen direkten Bezug zu Ang Lee gibt, erinnert Will you still love me tomorrow? sehr an zwei Filme Lees, zum einen den, mit dem er international bekannt wurde, den mit dem Goldenen Bär prämierten The Wedding Banquet, zum anderen Brokeback Mountain, bei dem Lee um den Oscar betrogen wurde.

Denn es geht um ein Coming-Out und eine »Alibi-Ehe«, hier aber gleichzeitig als teilweise recht naive Komödie dargeboten, und andererseits auch als Drama um die psychischen Probleme auf beiden Seiten. Das ist einer der vermeintlichen Widersprüche des Films, der andere ist der zwischen einer Welt (bzw. dem Land Taiwan, wie es in diesem Film dargestellt wird), in der Homosexualität ziemlich offen ausgelebt wird, und Personen, die davon nahezu nichts mitbekommen.

Im Film geht es um zwei bzw. zweieinhalb Paare. Weichung (Richie Yen) ist seit einigen Jahren offenbar glücklich mit seiner Sandkastenbekanntschaft Feng (Mavis Fan) verheiratet, sie haben einen kleinen Sohn. Doch während Feng die gemeinsame Zukunft am liebsten durch ein zweites Kind noch vervollkommnen würde, wendet Weichung im Schlafzimmer plötzlich Ablenkungstaktiken an, die aber taktisch nicht besonders gelungen sind - seine Frau kommt nicht umhin, dies zu erkennen, und natürlich wird sie sich deshalb Gedanken machen, ob ihr Mann womöglich fremd geht. Dass ihr Gatte vor der Ehe bereits homosexuelle Erfahrungen hatte (in der Szene ist er wohlbekannt), sich dann aber für einen herkömmlichen Lebensentwurf entschied, als könne man sich seine Sexualität wie das Rauchen einfach abgewöhnen - davon weiß Feng nichts.

Parallel - auch, weil das den Film so schön in einen Rahmen von Verlobungsfeiern etc. einpasst - geht es auch um Weichungs Schwester Mandy (Kimi Hsia), die kurz vor der Hochzeit mit San San (Stone) steht. San San ist weder der hübscheste noch der gescheiteste Mann, aber er hat eine sehr liebenswerte Art. Dennoch bekommt Mandy kalte Füße, auch angesichts des Idealbildes eines Mannes, das ihr die abgöttisch verehrten Soap Operas suggerieren, zweifelt sie daran, dass San San ihr »Mr. Right« sein kann.

Während Weichung als neuer Chef eines Optikergeschäfts den erfolgreichen und unverschämt gutaussehenden Thomas kennen lernt, und im Schneckentempo die Liebe neu entdeckt (mit Optikergerätschaften kann man sich besonders tief in die Augen schauen ...), will San San um seine Verlobte kämpfen - und ausgerechnet ein Quartett von Weichungs »alten Bekannten« hilft ihm dabei. San San ist dabei so auf Mandy fokussiert (und halt auch ein bisschen langsam im Kopf), dass er weder die Orientierung seiner neuen Freunde noch eine eigentlich offensichtliche Schwulenbar als solche wahrnimmt. Aus unerfindlichen Gründen gelingt es dem Film, aus dieser Situation, die so subtil wie ein rosa Regenschirm mit Rüschen ist, etliches an Humor zu ziehen. Denn das große Plus des Films ist es, dass er (und seine Figuren) so liebenswert sind. Der Film macht sich zwar über seine Figuren lustig, doch sie behalten immer ihre Würde. Ob Weichungs Angestellte sich über sein seltsames Benehmen wundern, ob Mandy plötzlich an ihrer Seite den Soap-Schönling hat, der ihr gute Ratschläge gibt wie einst Humphrey Bogart Woody Allen in Play it again, Sam, ob man mitleidet mit Feng und sie beim Besuch einer Hellseherin begleitet, ob man sich wundert, wie der frühere Chef des Brillengeschäfts seine Freiheit genießt, oder ob man einfach nur dem schwulen Quartett beim Badminton zuschaut - Dieser Film vermittelt einem gute Laune, wie es einem grießgrämigen alten Kritiker eigentlich nur sehr selten geschieht. Und wie nebenbei hat er dabei auch noch einige großartige inszenatorische Ideen. Auch wenn manches etwas altbacken oder naiv wirkt, macht es einfach einen Heidenspaß, da zuzuschauen.

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La maison de la radio
(Nicolas Philibert, Panorama)

  La maison de la radio
La maison de la radio


Frankreich / Japan 2013, Buch, Schnitt: Nicolas Philibert, Kamera: Katell Djian, Nicolas Philibert, 103 Min.

Nicolas Philibert ist ein Dokumentarfilmer, der sich gern immer wieder selbst fordert, und für den Zuschauer ist das jeweils ein kleines Fest. Sein Être et avoir ist unterhaltsamer als die meisten Spielfilme - aber dabei von Lebensweisheiten durchdrungen. Und selbst, wenn er nur dem alten Orang-Utan-Mädchen Nénette zuschaut, erfährt man dabei mehr über Menschlichkeit und die Möglichkeiten des filmischen Mediums als in den zehn aufeinanderfolgenden Spitzenreitern der Kino-Charts.

Für seinen neuesten Film hat er sich ein Sujet ausgesucht, das zunächst einmal wenig visuell klingt: Er dokumentiert den Arbeitsalltag beim staatlichen Hörfunksender Radio France. Das »Haus des Rundfunks«, aus dem er berichtet, ist ein gewaltiger Gebäudekomplex, und nach dem Startsatz eines typischen Radiotages (»Guten Morgen, ich möchte über alles und nichts reden«) gibt es gleich mal eine Referenz an die Filmgeschichte, wenn Philibert einfach nur zeigt, wie Unmengen von Angestellten morgens das haus, die Türen und die Lifte stürmen. Da sieht er auch großmütig darüber hinweg, wie viele davon interessiert in die Kamera schauen. Einer der wunderschönen stillen Momente des Films wird später sein, wenn man ein einem langen Korridor einfach nur die zum Trocknen aufgestellten Regenschirme neben jeder Büro- oder Studiotür sieht.

Passend zum Beginn des Tages geht es dann (unter anderem) auch um den Beginn einer Radiokarriere, um einen jungen Mann zu Beginn seiner Ausbildung, der beim Erstellen seiner eigenen Texte gute Ratschläge einer erfahrenen Kollegin bekommt. »Anführungsstriche hört man nicht im Radio.« Alles soll perfekt sein, auch, wenn die eher bescheidene Bezahlung diese Perfektion nicht reflektiert. In einem anderen Studio sieht man, wie ein Sprecher eine Beerdigung beschreibt, und dabei einzelne Halbsätze immer wieder wiederholen muss, bis jede Nuance, jedes Wort den hohen Anforderungen einiger Regisseure genügt. Insbesondere bei dem Beerdigungsbeitrag sieht man auch, wie im Radio natürlich auch viel getrickst wird. Um die richtige Atmosphäre zu übermitteln, fügt man an geeigneter Stimme einfach eine Geräuschkonserve (oder auch mal ein eigens erstelltes Geräusch) dazu, hier etwa die »Schritte auf Kieselweg«, die sofort irgendwelche Bilder beschwören, die trotz allenfalls rudimentärem Zusammenhang sehr gut zu Kirchen und Friedhöfen passen. Einer der interessantesten Punkte des Films, den Philibert nicht direkt betont, sondern höchstens leicht suggeriert, ist das Detail, dass er einerseits die Tricks des Radios offenbart, dabei aber selbst mit Film-Tricks arbeitet, die man selbst erst mal als solche erkennen muss. Da gibt es etwa eine anscheinend regelmäßige Sendung, bei der ein Interview-Partner zum Ende der Sendung einfach allein gelassen wird (»Eine Minute Einsamkeit«) und die Sendung selbst, bevorzugt auf kreative Weise, zu Ende bringen kann. Einzige Vorgabe: Schweigen ist verboten. So schält ein vermutlich erdverbundener Literat einfach nur Kartoffeln und spricht dazu - und das Besondere dabei ist, dass die Radiomoderatorin ihn dabei tatsächlich allein lässt, was besonders ehrlich herüberkommt. Als Zuschauer muss man aber erst mal reflektieren, dass die ganze Situation natürlich dadurch ein wenig pervertiert wird, dass der Kartoffelschäler dann doch nicht so allein ist, denn die Kamera (und höchstwahrscheinlich auch jemand dahinter) bleibt ja in diesem Sonderfall im Raum. In einer anderen Sequenz sieht man ein typisches Radiointerview, das aus irgendwelchen Gründen auf einem Balkon geführt wird. Es geht dabei auch um die Unmittelbarkeit des Gesprächs. Doch wer genau auf die Schuss-Gegenschuss-Montage und die Kamerapositionen achtet, kommt nicht umhin, zu erkennen, dass dieses Gespräch offenbar zweimal gedreht wurde, denn es ist kein zweiter Kameramann außerhalb des Balkons an einem Kranwagen befestigt (man hätte es gesehen). Dadurch bekommt der Film (zumindest für den aufmerksamen Zuschauer) eine Vielschichtigkeit, die auch Teil seiner Thematik ist.

Aber auch abgesehen davon überzeugt La maison de la radio durch seine vielen Themen. Mal erlebt man, wie fast der ganze Betrieb brachliegt, weil nahe der Studios irgendwo im haus Bauarbeiten durchgeführt werden, und man in diversen Studios darauf wartet, dass der Lärm aufhört. Da gibt es musikalische Darbietungen, experimentelles, Redaktionssitzungen (»Justin Bieber ist nichts für France Inter«), einen Kommentator, der auf einem Motorrad der Tour de France hinterherreist, aber auch einen Einblick in die Werkstatt des hauseigenen Fuhrparks oder eine blinde Moderatorin, die beim Abtippen eines Diktats einfach das Band etwas beschleunigt, weil sie sich sonst offensichtlich unterfordert fühlt. Eine Quizshow mit kleinem Livepublikum, wo das Zeichen der ablaufenden Bedenkzeit tatsächlich live auf einem Xylophon vom Moderator höchstpersönlich eingebracht wird (Regieanweisung: »Bitte nicht zu schnell antworten, der Hörer will ja die Möglichkeit haben, mitzuraten«). Oder auch der etwas obsolete Archivar aus der Klassikabteilung, der hinter lauter CD-Stapeln in seinem komplett überfrachteten Büro beinahe verschwindet, aber optimistisch das Resultat »We're still going strong« (Untertitel) zieht. Und der Live-Sänger, dessen ausdrucksstark feuchte Aussprache man im Gegenlicht des Scheinwerfers besonders gut sehen kann. Man sieht die Sprecherin aus dem Nachtprogramm mit der besonders erotischen Stimme, und der Film beweist immer wieder, wie visuell dieses Thema umsetzbar ist. Manchmal ist es aber auch so (und das ist etwas Außergewöhnliches im Kino), dass man dazu animiert wird, das Sichtbare sozusagen »abzuschalten«, um dann doch wieder den Radioeindruck zu erhalten.

Mein einziger Kritikpunkt ist, dass der Film vielleicht eine Viertelstunde kürzer hätte ausfallen können. Ein paar Stadtansichten mit a-capella-Untermalung kappen oder das Nachtprogramm mit leeren Studios, in denen nur die Computermonitore weiterlaufen, vielleicht dramaturgisch geschickter einbinden. Aber, wie so oft, leidet das Kritikerurteil bei Festivalberichterstattung natürlich auch unter Vielschauerei und manchmal sogar Schlafentzug, für Zuschauer, bei denen der eine Kinobesuch in der Woche noch ein großes Erlebnis ist, könnte dieser Einblick in die Welt des Hörfunks wohl auch noch eine Stunde länger hätte andauern können.

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Promised Land
(Gus Van Sant, Wettbewerb)

  Promised Land. Bild © Scott Green
Bild © Scott Green


USA 2012, Buch: Matt Damon, John Krasinski, nach einer Story von Dave Eggers, Kamera: Linus Sandgrass, Schnitt: Billy Rich, Musik: Danny Elfman, mit Matt Damon (Steve Butler), Frances McDormand (Sue Thomason), John Krasinski (Dustin Noble), Rosemarie DeWitt (Alice), Hal Holbrook (Frank Yates), Titus Welliver (Rob), Scoot McNairy (Jeff Dennan), 106 Min., Kinostart: 13. Juni 2013

Seit Drugstore Cowboy (1989) ist Gus Van Sant ein Regisseur, den ich sehr verehre. Elephant ist einer meiner Lieblingsfilme, und vermutlich der einzige Film der letzten zwanzig Jahre, den ich dreimal im Kino gesehen habe. Ich mag aber nicht jeden Film von Van Sant, denn irgendwie ähnlich, aber auf eine seltsame Art auch ganz anders als Steven Soderbergh bringt auch Van Sant manchmal Filme heraus, die offensichtlich für ein großes Publikum gemacht sind, die aber die Talente, die ihn als Regisseur für mich auszeichnen, ein wenig vermissen lassen. Seltsamer- und erschreckenderweise gibt es eine gewisse Kongruenz dieser Filme mit den Filmen, bei denen VanSant mit Matt Damon zusammenarbeitete. Die bekannteste Zusammenarbeit ist sicher Good Will Hunting, für den Matt Damon zusammen mit Ben Affleck den Drehbuchoscar bekam (mitgespielt haben auch beide). Das ist die Art von (gut gemachtem) Hollywood-Mist, die ich so gar nicht ertrage. Das Schlimmste daran ist eine gewisse Hollywood-Formel, deren Ursprung ich bei Peter Weirs Dead Poets' Society verorte (auch, wenn es da sicher frühere Beispiele in weniger guten Filmen gibt): eine große, zu Herzen gehende Rede am Ende des Films, die vor allem noch einmal den Sinneswandel (zum guten oder besseren Menschen) einer Hauptfigur zusammenfasst. Das muss ja an sich nichts Schlechtes sein, und im »richtigen« Leben würde man es sicher begrüßen, aber im Hollywood-Kino hat sich das zu solch einem manipulativen Allgemeinplatz entwickelt, dass mich immer wieder der Brechreiz überkommt.

Finding Forrester ist ein weiterer Film Van Sants, in dem Matt Damon mitspielt (es ist nur eine kleine Rolle), und es ist wahrscheinlich der schlechteste Film, den Van Sant je drehte. Der Film für sich betrachtet ist vielleicht gar nicht so schlecht, aber für mich wird Forrester immer so was wie ein inoffizielles Remake von Hunting sein: Es geht zwar um eine andere Geschichte, aber im Grunde sind die Dramaturgie und die Botschaft des Films exakt dieselbe. Gerade, weil wir alle wissen, das Van Sant so viel mehr kann, ist es niederschmetternd, dass er wie in einer Standard-RomCom all die typischen Standardszenen hintereinander abliefert, all die die Knöpfe drückt, bei denen ein Mainstream-Publikum die gewünschte emotionale Resonanz zeigt - und das Ergebnis scheint ihm nicht einmal Gewissensbisse wegen seines kreativen Ausverkaufs zu bescheren. Nun haben viele der größten Regisseure der Filmgeschichte mal ein Remake ihres eigenen Films gedreht, oft auch ohne große erkennbare Ambitionen, einfach nur, weil ihnen gerade nichts Besseres einfiel. Doch weshalb ich Hitchcock, Hawks etc. verteidigen würde und auf Van Sant noch viel energischer mit dem Finger zeigen würde, ist das Detail, das zwischen Hunting und Forrester gerade mal drei Jahre lagen. Das werde ich ihm wohl nie verzeihen.

Etwas später drehte Van Sant zusammen mit Damon (und Afflecks kleinem Bruder Casey) den billigen, aber effektvollen (und nicht massentauglichen) Film Gerry, bei dem Damon übrigens wieder am Buch mitarbeitete. Vielleicht eine Rehabilitierung Damons (auch wenn dessen beste schauspielerische Leistung nach wie vor in Team America: World Police zu finden ist), zumindest aber Grund genug, Promised Land noch eine Chance zu geben.

Um es vorwegzunehmen: die männlichen Hauptdarsteller in diesem Film sind Matt Damon und John Krasinski, das Drehbuch stammt ebenfalls von diesen beiden.

Kurz Luft holen.

Die ersten drei Einstellungen des Films (die später an markanter Stelle wiederholt werden) nervten mich schon mal, weil ich keine Filme mag, die mich als Zuschauer für doof erklären. Erst sieht man Matt Damons Gesicht aus einer Untersicht, seltsam wie von Wasser verzerrt. Dann sieht man zwei Hände, die ein ziemlich großes, irgendwie graues Wasserbecken greifen, wobei man detailliert kleine Luftblasen an den Händen erkennen kann (ich glaube, es gab auch eine leichte Zeitlupe). Und dann kommt die Auflösung der beiden Einstellungen: Matt Damon steht vor einem winzigen Waschbecken aus weißem Porzellan und erfrischt sich kurz, um sich für das Folgende zu wappnen.

Na ja, nach diesem blöden Anfang nahm der Film aber schnell Fahrt auf, und über 80% des Films war ich positiv überrascht. Ich könnte jetzt an dieser Stelle erklären, worum es in dem Film geht, über »Fracking«, die (fehlende) Ethik multinationaler Konzerne (die böse Firma heißt hier sogar »Global«) und ähnliche Themen, bei denen bei Dieter Kosslick sofort die Alarmklingeln schellen (»Ein Film für den Wettbewerb!«), weil Kosslick offenbar nur einen Blick für politische Themen (und »Weltstars«) hat - wie sie filmisch aufbereitet werden, interessiert ihn nicht. Mich hingegen interessieren politische Themen zwar schon, aber mir ist ein inszenatorisch innovativer Film über ... sagen wir mal, die Schlümpfe! viel wichtiger als ein Film, der über schlimme soziale Missstände wachrüttelt, dies aber mit viertausend Mal erprobten Mitteln. Und somit lasse ich das politische Element in meiner Kritik einfach mal außen vor. Wer sich über Fracking informieren will, soll den Spiegel lesen, Galileo schauen oder einfach googlen. Und wer will, dass ich ins Kino gehe und dabei nicht sauer werde, der soll verdammt noch mal, einen guten Film drehen. Insbesondere, wenn er Gus Van Sant heißt und bereits mehrfach bewiesen hat, dass er Filme drehen kann, die der Filmgeschichte manchmal Jahre voraus sind.

So, kurz den Kopf unter Wasser und dann besonnen weitermachen.

Was mich an dem Film positiv überrascht hat (ja, diesen Halbsatz gab es gerade schon mal, aber diesmal lasse ich mich nicht ablenken), war der Humor. Matt Damon und Frances McDormand ergänzen sich großartig, als Kollegen zanken sie wie ein altes Ehepaar, sie zeigen menschliche wie berufliche Stärken, aber auch Schwächen (insbesondere gegenüber einander), und während der Film die »Geburt des Gewissens« vorbereitet, kann man sich auch einfach mal daran ergötzen, wie sich beide in dem kleinen Hintertupfingen, dessen Bewohner sie entweder retten oder über den Tisch ziehen sollen (zunächst noch Interpretationssache), in sympathische Dorfbewohner verlieben, sich mehrfach schlimm blamieren, und sie - obwohl sie ihre schmierigen Versicherungsvertreter-Taktiken offenbaren - einiges an Sympathie einkassieren, obwohl man ihnen gegenüber natürlich argwöhnisch ist.

Und dann kommt John Krasinski als Öko-Aktivist, und er sieht besser aus als Matt Damon, er ist sympathischer, und er spielt im Grunde nach den selben Regeln wie die beiden netten Bösewichte - nur viel besser. Wo Frances McDormand mit einem Gesangsauftritt eigentlich nur ihre vermeintliche Dorfliebschaft (Titus Welliver) beeindrucken will, und dabei etwa so viel Eindruck macht wie ein DSDS-Kandidat der achten Staffel, den man nur einmal bei einem Kameraschwenk im Hintergrund stehen sehen konnte, da singt John Krasinski natürlich Springsteen (man weiß, was das Publikum wünscht), und trotz seiner aufgesetzten Bescheidenheit fällt man gerne auf ihn herein. Der Kampf zwischen Damon und Krasinski ist das Herzstück dieses Films, und es macht Spaß, Ihnen zuzuschauen. Das Ganze erinnerte mich ein wenig an Dr. Horrible's Singalong-Blog, wo der Held des Films (Neil Patrick Harris als Dr. Horrible) eigentlich von Anfang an als Bösewicht gekennzeichnet ist, aber dennoch der Sympathieträger ist. Sein Gegenspieler (Nathan Fillion als Captain Hammer) ist im Kontext des Films zwar der »Gute«, doch als Zuschauer durchschaut man, wie schleimig und hinterhältig er ist. Und die Frau, auf die die Identifikationsfigur des Films steht, wird erst dadurch für den anderen »interessant«, die Verführung wird ein Racheakt, und da Frauen auf Siegertypen stehen, funktioniert das sowohl für die Filmfigur als auch für den Zuschauer, der jetzt noch negativer auf die Figur reagiert, die eigentlich als Öko-Aktivist der »Held« sein sollte.

Die ganze Situation löst sich hier anders auf als bei Dr. Horrible, auf eine Art positiver, auf eine andere Art nicht. Und am Ende des Films geht es um die ehrliche, altmodische Geschäftspraktik einer kleinen Limonadenverkäuferin (stellvertretend für eine mögliche wirtschaftliche Zukunft), Matt Damon hält seine Rede, Gus Van Sant drückt die üblichen Knöpfe, ich könnte kotzen und das qualitative Gesamturteil (und die spätere Erinnerung an den Film) ist wie bei einem Menü, bei dem die Suppe ein wenig schwach gewürzt war, der Hauptgang großartig, und der Dessert hinterlässt einen Nachgeschmack (nicht das übliche »bitter«, sondern viel schlimmer, zwischen metallisch und Magensäure), der im Nachhinein das gesamte Erlebnis ganz tief runterzieht.

Wer hingegen auf Matt Damon steht, Good Will Hunting zu seinen Lieblingsfilmen zählt und Filme nur mag, wenn sie auch eine gesellschaftliche Aussage haben und an das Gute im Menschen glauben, der wird diesen Streifen wahrscheinlich lieben.

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Boven is het stil
(Nanouk Leopold, Panorama)

  Boven is het Stil. Bild © Victor Arnolds
Bild © Victor Arnolds


Niederlande / Deutschland 2012, Deutscher Titel: Oben ist es still, Buch: Nanouk Leopold, Lit. Vorlage: Gerbrand Bakker, Kamera: Frank van den Eeden, Schnitt: Katharina Wartena, Musik: Paul M. van Brugge, mit Jeroen Willems (Helmer), Henri Garcin (Vater), Wim Opbrouck (Milchfahrer), Martijn Lakemeier (Henk), Lies Visschedijk (Ada), Job Steenman (Ronald), Xander Steenman (Teun), Aat Ceelen (Viehhändler), Gerbrand Bakker, 94 Min.

Von bisher vier Kinospielfilmen der niederländischen Regisseurin Nanouk Leopold läuft nun bereits der dritte auf der Berlinale, nach Wolfsbergen und The Brownian Movement im Forum landete sie diesmal, zielgruppenspezifisch, im Panorama. Erstmals hat sie hier nicht selbst das Originaldrehbuch geschrieben, sondern den gleichnamigen Roman von Gerbrand Bakker (dt. 2008 bei Suhrkamp, 70.000 Exemplare gingen davon über den Ladentisch) adaptiert. Die Presse und Nobelpreisträger J.M. Coetzee lobten am Roman besonders den lakonischen Humor und die Wärme bzw. Zärtlichkeit - anhand der Verfilmung wäre ich nicht unbedingt auf diese Begriffe gestoßen.

Der alleinstehende, 55jährige Helmer (Jeroen Willems) führt einen kleinen Bauernhof. 50 Kühe, ein paar Schafe, 2 Esel - man könnte es eher ein Hobby als einen Broterwerb nennen. Gleich zu Beginn des Films verfrachtet Helmer seinen bettlägerigen Vater vom Erdgeschoss in den ersten Stock - gegen den Wunsch des Vaters, der nun zusätzlich abgeschlossen ist von seiner Umwelt. Im Verlauf des Films offenbaren sich langsam die Gründe, die Helmer dazu verleitet haben: Zum einen scheint ihn der Vater früher geschlagen zu haben, es ist also eine Art Rache nach einer Verschiebung des Machtverhältnisses. Und zum anderen ist Helmer offenbar am eigenen Geschlecht interessiert, traut sich aber noch nicht zum Coming-Out, vermutlich auch wegen der durch die Erziehung eingeimpfte Scham vorm Vater.

Damit ist bereits ein Großteil der Geschichte erzählt (einen weiteren Aspekt, der es in der englischsprachigen Ausgabe des Romans sogar auf den Titel geschafft hat, verschweige ich mal - durch die Umbenennung einer Figur wird dieser Aspekt im Film auch etwas abgeschwächt). Verglichen mit Leopolds letztem Film, The Brownian Movement (Kurzzusammenfassung: die glücklich verheiratete Sandra Hüller treibt es mit hässlichen Männern), sind die sexuellen und psychologischen Exkurse also vergleichsweise »normal« (man mag diesen Begriff lakonisch - nicht abwertend - interpretieren). Und so stürzt sich die Regisseurin in die visuelle Entsprechung der »kargen Rhetorik« des Romans. Der Milchfahrer, etwa in Helmers Alter, holt täglich die Milch der 50 Kühe ab. Helmer betrachtet ihn verstohlen, manchmal gibt es sogar ein paar Sätze, doch ungeachtet des beiderseitigen Interesses kann sich keiner überwinden. Dann stellt Helmer einen Knecht an, den 20jährigen Henk, der in der Verwirklichung seiner Sexualität schon etwas progressiver (aber tendentiell unschuldig) vorgeht, schließlich aber auch frustriert seine Stellung aufgibt. Zwischendurch kommt noch mal Ada mit ihren zwei Söhnen vorbei (an der Helmer aber so gar nicht interessiert ist, und die ihn mit ihren Fragen nach dem Wohlergehen des Vaters vor allem nervt). Und dann muss er noch einige der Schafe an einen Viehhändler verkaufen, um mit dem Hof überhaupt über die Runden zu kommen. Kein Wunder, dass der Roman J.M. Coetzee gefallen hat, abgesehen davon, dass seine Romane in Südafrika spielen, sind sie ähnlich trost- und hoffnungslos.

Das Hauptproblem des Films war für mich, dass er nicht wirklich völlig neue, nie zuvor empfangene Geschichten erzählt, sondern häufig mit seinen groben Gummistiefeln in klischeemäßigen Schlammpfützen herumstapft, die überall auf dem Hof verteilt zu sein scheinen. Die zwei im Kontext vielleicht schockierendsten Szenen des Films laden offenherzig zu einer ziemlich kranken Interpretation ein, ich denke und hoffe aber, dass ich da etwas überinterpretiert habe. Alles andere, was der Film oft nicht direkt ausspricht (zum Beispiel das Aussehen des Milchfahrers beim Wiedersehen), entspricht teilweise jahrzehnte alten narrativen Schablonen, die Romanautor Gerbrand Bakker laut David Hugendick in »Die Zeit« »so frisch, hin- und mitreißend« erzählt, »als habe er die Sujets gerade erst erfunden«. Aus irgendwelchen Gründen gelingt das Nanouk Leopold im Film nicht. Der im Dezember 2012 verstorbene Jeroen Willems, der den Helmer spielt, leistet erstaunliches, auch und gerade im von Hass durchzogenen, aber irgendwann doch sanfter werdenden Umgang mit dem Vater, aber im Grunde genommen lädt der Film wieder zu einer unschmeichelhaften Kurzzusammenfassung ein: drei von vier Holländern wollen aus dem Wandschrank kommen, und der vierte landet in einer Holzkiste.

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Something in the Way
(Teddy Soeriaatmadja, Panorama)
[Rezension von Sven Schlünzig]

  Something in the Way


Indonesien 2013, Buch: Teddy Soeriaatmadja, Kamera: Ical Tanjung, Schnitt: Eric Primasetio, mit Reza Rahadian (Ahmad), Ratu Felisha (Santi / Kinar), Verdi Solaiman (Pinem), Yayu AW Unru (Ustadz), Daniel Rudy (Taxiunternehmer), 89 Min.

Der Regisseur Teddy Soeriaatmadja greift schon in seinen früheren Filmen Banyu Biru (2005) und Ruma Maida (2009) die Themengebiete Liebe und Selbstfindung sowie Gesellschaft und Verortung auf.

Mit einem Showdown der besonderen Art im nächtlichen Jakarta beginnt der Film. Der Taxifahrer Ahmad (Reza Rahadian) hat aufgrund mangelnder Fahrgästen gerade ein Pornoheft aus seinem Handschuhfach genommen und ist am Masturbieren, als sich von hinten langsamen Schrittes ein weiblicher Fahrgast dem Taxi nähert. Nervös versucht Ahmad noch rechtzeitig vor der Ankunft der Frau zum Höhepunkt zu kommen. Schon hier zeigt sich der Widerspruch zwischen beruflicher Pflicht und privater Neigung, der durch die Schuss-Gegenschuss-Montagetechnik veranschaulicht wird. Dieser hier zu Tage tretende Gegensatz wird im Verlauf des Films leider nicht spürbar gesteigert, sondern einfach beibehalten.

Teddy Soeriaatmadja nimmt viele Anleihen bei Martin Scorseses Klassiker Taxi Driver (1976), ohne jedoch dessen Brillanz an Regie- und Kameraführung zu erreichen. Travis Bickle, gespielt von Robert de Niro, arbeitet wie Ahmad als Taxifahrer im Nachtdienst. Beider Alltag prägt nicht nur die Arbeitssituation in einer Großstadt (New York bzw. Jakarta), sondern auch das Gefühl der Einsamkeit, der Isoliertheit. So kommentiert Travis seine erste Fahrt mit einer Prostituierten und ihrem Freier auf dem Rücksitz »A taxi driver does not even exist«, als es zum Geschlechtsverkehr kommt. Diese Art des inneren Monologs ist symptomatisch für die Charakterisierung der Umwelt Travis'. Eine vergleichbare Sequenz gibt es auch in Something in the Way, auch hier steigt ein Pärchen in Ahmads Taxi ein, um dieses zum Schauplatz der käuflichen Liebe zu machen. Entsprechend der voyeuristischen Tendenz des Filmes ist diese Sequenz hier aber deutlich länger, da der Freier Ahmad auffordert, ein ruhiges Plätzchen zu suchen und anschließend das Auto zu verlassen. Sexuell befriedigt setzt sich der Freier später zu Ahmad und verrät ihm sein Rezept zum Glücklichsein. Regelmäßige sexuelle Abwechslung mit Huren stabilisiert seine Ehe und es gibt kein Affärenrisiko. Schweigend und ohne jegliche individualisierende Form des inneren Monologs hört Ahmad zu und fährt im Anschluss die Prostituierte Kinar (Ratu Felisha) nach Hause. Kinar ist seine Nachbarin (privat heißt sie Santi) und Stammkundin, die er täglich zur Arbeit fährt und abholt. Der Film ist auf wenige Handlungsorte reduziert und hat nach Low-Budget-Manier auch nur wenige Akteure. Santi ist die einzige weibliche Bezugsperson in Ahmads Leben. Gutaussehend, selbstbewusst und sexy gestylt ist sie die lebendige Verkörperung seiner bisher nur mittels Pornomagazinen und -videos ausgelebten Sexphantasien. Nach einem Zwischenfall mit einem Freier, in dem Ahmad eingreift, fährt er Santi nach Hause und es kommt zum Geschlechtsverkehr zwischen beiden. Für Ahmad verändert sich jetzt alles, er will Santi aus der Prostitution befreien. Dazu wird er zum ersten Mal im Film selbst aktiv und spricht mit dem Zuhälter. Die Kollision zwischen moralischen Werten des Korans, die der Prediger bei Ahmads täglichen Besuchen in der Moschee beschreibt und dem Nachtleben Jakartas wird durch die Konfrontation mit dem Zuhälter nach außen weitergeleitet.

Das Unkonkrete des Films, der Mangel an klaren Positionen, das alles entspricht dem Unbestimmten des Titels und findet seinen Ausdruck in Ahmad. Unverhältnismäßig bleibt die Länge der im Film gezeigten Moscheebesuche für die Entwicklung des Films. Die Schlagworte des Predigers finden allenfalls eine vage Entsprechung in Ahmads Leben, demgegenüber steht eine übermäßige Betonung des Voyeurismus und der permanenten Masturbation im Film.

Demnächst in Cinemania 92 (Berlinale, die vierte):
A Single Shot (David M. Rosenthal, Forum), Gold (Thomas Arslan, Wettbewerb), I Used to be Darker (Matt Porterfield, Forum), Meine Schwestern (Lars Kraume, Panorama) und Das merkwürdige Kätzchen (Ramon Zürcher, Forum)