Son of Saul
(László Nemes)
Intern. Titel: Son of Saul, Ungarn 2015, Buch: László Nemes, Clara Royer, Kamera: Mátyás Erdély, Schnitt: Matthieu Taponier, Tonschnitt: Tamás Székely, Tondesign: Tamás Zányi, Musik: László Melis, Kostüme: Edit Szücs, Production Design: László Rajk, Set Decoration: Dorka Kiss, Judit Varga, Deutsche Dialoge: Uwe Lauer, Choreographie: Adrienn Hód, mit Géza Röhrig (Saul Ausländer), Levente Molnár (Abraham Warszawski), Urs Rechn (Oberkapo Biederman), Todd Charmont (Bearded Prisoner), Jerzy Walczak (Rabbi Frankel), Gergö & Balász Farkas (Saul's Son), Sándor Zsótér (Dr. Miklos Nyiszli), Marcin Czarnik (Feigenbaum), Levente Orbán (Russian Prisoner), Kamil Dobrowolski (Mietek), Uwe Lauer (Oberscharführer Voss), Christian Harting (Oberscharführer Busch), Attila Fritz (Yankl, Young Prisoner), Mihály Kormos (Schlojme), Márton Ágh (Apikoyres, Greek Rabbi), Amitai Kedar (Hirsch, Gold Collector), István Pion (Katz), Juli Jakab (Ella), Tamás Polgár (Landesman), Rozi Székely (Female Kapo), Erno Fekete (SS Doctor), László Somorjai (Old Rabbi), 107 Min., Kinostart: 10. März 2016
Grand Prix in Cannes, Oscar und Golden Globe als bester nicht-englischsprachiger Film: da sind die Erwartungen hoch. Saul fia ist tatsächlich etwas besonderes, Regisseur László Nemes hatte sich ganz schön was vorgenommen - und, wichtiger: auch vieles davon erreicht.
Ein kurzer Inhaltsabriss: Oktober 1944 (auch, wenn die Bäume nicht sehr herbstlich aussehen). Saul Ausländer (Géza Röhrig) gehört zum Sonderkommando in Ausschwitz. Das sind zumeist jüdische Gefangene, die dazu abgeordert werden, bei der Massenvernichtung aktiv mitzuhelfen. Wobei sie als »Geheimnisträger« dann auch meistens nach ein paar Monaten im Job hingerichtet werden. Der Film schildert zwei Tage, zu denen auch ein historischer Aufstand des Sonderkommandos gehört.
Bildmaterial © 2016 Sony Pictures Releasing GmbH
Die Art und Weise, wie der Film seine Geschichte erzählt, ist ungewohnt: Die Kamera klebt fast durchgehend etwa einen halben bis ganzen Meter an Sauls Gesicht, wodurch einem visuell vieles vorenthalten wird (der Schärfebereich ist absichtlich sehr eingeschränkt), was dann teilweise über die ausgeklügelte Tonspur dazugeliefert wird. Das heißt aber auch, dass man oft nur Stimmen hört (ob Befehle oder Todesschreie), ohne dazu die Gesichter zu sehen. Man sieht aber durchgehend Sauls Gesicht, und das bleibt größtenteils eher starr. Trotzdem fällt es einem als Betrachter sehr leicht, Emotionen auf das Geschehen zu projizieren. Das liegt natürlich auch an der Natur der Handlung, die einem einzig durch die Unschärfen einiges an Härte erspart. Die gleichen Unschärfen sind aber auch eine inszenatorische Hilfeleistung beim Filmemachen, weil man eben nicht immer alles sieht und vieles nachträglich im Tonschnitt ergänzt werden kann.
Bildmaterial © 2016 Sony Pictures Releasing GmbH
Der Film arbeitet größtenteils mit langen Einstellungen, wobei durch die stets bewegte Kamera und ein fast quadratisches Bildformat der klaustrophobische Effekt der Bilder noch verstärkt wird. Man wird als Zuschauer beinahe genau so herumgestoßen wie Saul, muss sich dauernd neu orientieren und neue Informationen verarbeiten. Das ist aus meiner Sicht auch der größte Vorwurf, den ich dem Film machen kann, denn man versucht zu sehr, ein Verständnis des Sachverhalts zu ermöglichen, Saul erhält zu viele Einblicke, zu viele Informationen, zu viel Verantwortung. Ich kann nicht für alle Zuschauer sprechen, aber aus meiner Sicht wäre weniger mehr gewesen. Weniger Verstehen, was da um Saul herum vorgeht, dafür mehr Glaubwürdigkeit, was seine eigene Rolle bei all den Vorgängen angeht.
Bildmaterial © 2016 Sony Pictures Releasing GmbH
Der Filmtitel spricht ja von Sauls Sohn und auch in den Credits wird zwei jungen Darstellern ganz konkret diese Rolle zugewiesen. Wobei es hier (Teil des absichtlichen Nichtverständnisses) durchaus fraglich ist, ob dieser Junge tatsächlich Saul Sohn ist. Als einziger hat dieser nämlich eine »Vergasung« überlebt, woraufhin ihn ein SS-Arzt untersucht (man muss ja, ganz pragmatisch und unmenschlich betrachtet, erforschen, ob die Tötungsmethode irgendwelche Schwachstellen hat), er dann aber kurz darauf erschossen wird. Wohlgemerkt beobachtet Saul all diese Vorgänge und will dann aber dafür sorgen, dass dem Leichnam dieses »Sohnes« eine dem jüdischen Glauben entsprechende Beerdigung zuteil wird. Das ist neben dem Aufstand die zweite Haupthandlung des Films, und in diesem Fall ist es natürlich vollkommen in Ordnung, wenn Saul (und der Zuschauer) über alle Details informiert sind (außer eben dem Detail der echten oder eher allegorischen Vaterschaft).
Bildmaterial © 2016 Sony Pictures Releasing GmbH
Saul fia ist kraftvolles, unerschrockenes und beinahe kompromissloses Kino, dass dann aber im Ansatz doch an der konventionellen Handlungszuordnung zu scheitern droht. Wer die ersten zwanzig Minuten von Saving Private Ryan kennt, alles bis auf die letzten zwanzig Minuten von Vanilla Sky oder Romane wie Jerzy Kosinskis The Painted Bird oder diverse Werke von Bret Easton Ellis, der weiß, dass das Nichtverstehen manchmal einen viel tieferen Eindruck vermittelt als das Verstehen. Dieses Prinzip zeigt sich ja auch an der Ungewissheit darüber, ob der »Son of Saul« nun das ist, für das er ausgegeben wird, oder eher ein Platzhalter für die Folgegeneration, die Hoffnung und die Menschlichkeit, wie es insbesondere das Filmende nahelegt.
Bildmaterial © 2016 Sony Pictures Releasing GmbH
Trotz allem, was in diesem Film gelingt, bleibt doch noch Platz nach oben. Aber für die Inszenierungsstrategie, die sich László Nemes zurechtgelegt hat, ist der Film schon erstaunlich nahe dran an jener Perfektion, die das Budget erlaubt.