Demolition
(Jean-Marc Vallée)
USA 2015, Deutscher Titel: Demolition - Lieben und Leben, Buch: Bryan Sipe, Kamera: Yves Bélanger, Schnitt: Jay M. Glen, Production Design: John Paino, Art Direction: Javiera Varas, mit Jake Gyllenhall (Davis), Naomi Watts (Karen), Chris Cooper (Phil), Judah Lewis (Chris), C.J. Wilson (Carl), Polly Draper (Margot), Malachy Cleary (Davis' Dad), Debra Monk (Davis' Mum), Heather Lind (Julia), Wass Stevens (Jimmy), 101 Min., Kinostart: 16. Juni 2016
Mein liebstes Beispiel für einen Film, den man ganz anders sieht, wenn man wenig bis keine Vorabinformationen über die Handlung hat, ist ebenfalls ein Streifen mit Jake Gyllenhaal, nämlich Brokeback Mountain. Auch bei Demolition reichten mir eigentlich der Name des Regisseurs und des Hauptdarstellers, um den Film sehen zu wollen.
Jean-Marc Vallée ist so eine Art Spezialist für Hauptrollen, die wichtige Filmpreis-Nominierungen (oder mehr) bringen. Seine bisherige Filmographie besteht u.a. aus Young Victoria (Golden-Globe-Nominierung für Emily Blunt), Dallas Buyers Club (Oscars und Golden Globes für Matthew McConnaghey und Jared Leto) und Wild (Oscar-Nominierungen für Reese Witherspoon und Laura Dern, auerdem eine Golden-Globe-Nominierung fr Witherspoon). Vermutlich wird Jake Gyllenhaal diesmal leer ausgehen (weil der Film einfach zu sehr gefloppt ist), aber nach einigen Ausflügen in seltsame Gefilde (Prince of Persia, Love & other drugs) hat Gevatter Gyllenhaal in den letzten Jahren ein echtes Gespür für großartige Filme (teilweise etwas abseits des Mainstreams), in denen er so richtig glänzen kann: zuletzt etwa Source Code, Prisoners, Enemy und Nightcrawler.
Bildmaterial: © 2016 Twentieth Century Fox
Hier spielt er den Investment-Banker Davis, dessen Frau früh im Film verstirbt. Noch auf dem Krankenhausflur wird Davis mit einer weiteren Tragödie konfrontiert: Beim Benutzen einer Vending-Maschine wird ihm seine Packung »M&Ms« verwehrt. Während ihn der Tod seiner Frau überraschend emotionslos zurück lässt und er sich auch nirgends »beschweren« kann, schreibt er einen Beschwerdebrief an die Vending-Firma, in dem er seine psychologische Situation sehr genau und persönlich beschreibt. Der Film nutzt diese verbale Kontaktaufnahme, um der Person Davis näherzukommen.
An dieser Stelle wäre es keine Überraschung, wenn sich Demolition als Romanverfilmung erwiesen hätte, doch der Film basiert auf einem Originaldrehbuch, das sich des eher ungewöhnlichen und altmodisch anmutenden Kunstgriffs bedient, über solch einen an keine konkrete Person adressierten Brief die Geschichte voranzutreiben.
Bildmaterial: © 2016 Twentieth Century Fox
David schreibt sogar - in Ermangelung einer Antwort - mehrere Briefe, in denen er sich in einer Form öffnet (auch dem Kinopublikum gegenüber), die für ihn gegenüber seinen Eltern oder seinem Schwiegervater (Chris Cooper ist hier gleichzeitig auch Davis' Chef) möglich wäre. Und insbesondere der Schwiegervater gibt sich durchaus Mühe (obwohl Davis sich sicher ist, dass Phil ihn gar nicht mag). Sein Ratschlag lautet: »If you wanna fix something, you have to take everything apart.«
Demolition leidet als Film sehr unter der Tendenz, dass Kinobesucher (und besonders Kritiker) das kunstvoll gewobene Drehbuch in der Nacherzählung auf wenige Kernelemente herunterbrechen. Doch wenn man sich - wie ich es hier tun werde - ganz auf die ersten zwanzig Minuten konzentriert, erkennt, wie genial hier die Themen des Films entwickelt werden, und sich daran erfreut - dann erkennt man auch die Stärken des Films (die sich über die gesamte Filmlänge entwickeln).
Bildmaterial: © 2016 Twentieth Century Fox
Davis hat Probleme zu trauern. Und erkennt nach dem Tod seiner Frau, dass er mit seinem bisherigen Leben überhaupt nicht zufrieden ist (oder war). Das erkennt man zum Beispiel an der »Detail-Kritik«. Nicht nur an den »M&Ms« (Zitat aus dem ersten Brief: »I found it annoying because I was very hungry. Also, my wife died ten minutes ago.«), sondern beispielsweise als er beim Gespräch mit Phil realisiert, dass die Cocktailpreise (18 Dollar) keine realistische Bezugsbasis haben. Was natürlich auch auf sein Banker-Dasein und das vermeintlich glückliche Eheleben zutrifft.
Plötzlich bricht Davis aus dieser Scheinwelt aus, und unterhält sich etwa mit einem Mann, mit dem er seit fünf Jahren den selben Pendlerzug teilt. Es stört ihn, dass er dem Mann mal eine falsche Auskunft über sich erteilte (»Matratzenvertreter« erschien ihm wohl menschlicher) - und dann stellt sich heraus, dass der Mann ebenfalls gelogen hat. Aber der hat nicht tief-, sondern hochgestapelt, denn er arbeitet gar nicht für die New York Yankees, sondern als Security-Kraft in einem Schuhladen. Von so viel plötzlicher Ehrlichkeit ergriffen, rutscht Davis ein »I didn't love my wife!« heraus, bevor er die Notbremse zieht.
Bildmaterial: © 2016 Twentieth Century Fox
»For some reason everything has become a metapher.« So lautet ein weiterer Satz, den Davis an die Vending-Firma richtet. Dazu sieht man ihn im Auto sitzen. Und ein Eichhörnchen, ein entwurzelter Baum oder ein Umleitungsschild unterstützen seine These.
Das letzte Gespräch, das Davis mit seiner Frau führte, dreht sich um deren Beschwerde, dass der Kühlschrank leckt. Und anhand dieses Kühlschranks setzt Davis erstmals den Rat Phils um, etwas auseinander zunehmen, um es zu reparieren. Das klappt zwar ebenso wenig wie mit der teuren Kaffeemaschine oder der Toiletteninneneinrichtung am Arbeitsplatz, aber diese titelgebende Demolition ist quasi das Analyseinstrument, mit dem man einem schwerwiegenden Problem wie dem Tod der Frau überhaupt näher kommen kann. Zunächst übt Davis nämlich noch auf der Trauerfeier, im Waschraum versteckt, zu heulen (um den Schein zu wahren und den Erwartungen zu entsprechen). Doch ihm und dem Kinozuschauer wird klar, wie lächerlich und verlogen das wirkt.
Bildmaterial: © 2016 Twentieth Century Fox
Und damit beginnt die Trauerarbeit des Films (und der Versuch, ein neues Leben aufzubauen), von der der Film erzählt (und ich habe hier tatsächlich nur die ersten 20 bis 25 Minuten wiedergegeben).
Ein kleiner Blutfleck auf dem Schuh ist hier ähnlich niederschmetternd wie der Anschlag auf das World Trade Center (auf den das Drehbuch sicher nicht zufällig mehrfach rekurriert). Und Jake Gyllenhaal, Drehbuchautor Bryan Sipe und Regisseur Vallée schaffen es, mit vielen assoziativen Verbindungen, unerwarteten Wendungen und einer Menge Humor einen Film zu schaffen, der einen von Anfang an am Schlafittchen packt und nicht wieder loslässt. Außer, man macht den tragischen Fehler, sich schon im Voraus eine zu erwartende Story zurechtzulegen, auf die man dann wartet. Was dummerweise in Hollywood die bevorzugte Marketingstrategie ist.
Oder anders ausgedrückt: Der Film wird einem so verkauft, wie Davis sein leben nicht mehr leben will. Aber wenn man sich auf ihn (Davis wie auch den Film) einlässt und die Erwartungen außer acht lässt, funktioniert auch vieles. Nicht alles, aber das wäre auch nicht im Sinne der Erzählung.