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15. Juni 2016
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Das Talent des Genesis Potini (James Napier Robertson)


Das Talent des Genesis Potini
(James Napier Robertson)

Originaltitel: The Dark Horse, Neuseeland 2014, Buch: James Napier Robertson, Kamera: Denson Baker, Schnitt: Peter Roberts, Musik: Dana Lund, Kostüme: Kristin Seth, mit Cliff Curtis (Genesis Potini), James Rolleston (Mana), Kirk Torrance (Noble), Miriama McDowell (Sandy), James Napier Robertson (Dave), Barry Te Hira (Mutt), Xavier Horan (Jedi), Wayne Hapi (Ariki), Lyel Timu (Rangimarie), Te Ahorangi Retimana-Martin (Rusty), Calae Hignett-Morgan (Piripi), Te Rua Rehu-Martin (Murray), Niwa Whatuira (Michael), Lionel Wellington (Rip), Wesley Broadfoot (Nathan), Shaden Te Huna (Young Genesis), Dante Nathuran (Young Ariki), 124 Min., Kinostart: 16. Juni 2016

Zu einer Zeit, die schon kaum mehr denkbar scheint, dachte bei Neuseeland nicht automatisch jeder an die Tolkien-Verfilmungen von Peter Jackson. Die andere international bekannte neuseeländische Regisseurin war damals Jane Campion. Und ihr bekanntester Film war und ist The Piano, mit Holly Hunter, Sam Neill, Harvey Keitel und der glaube ich immer noch den Rekord für den jüngsten Schauspiel-Oscar haltenden Anna Paquin (später »Rogue« von den X-Men). In diesem Film aus dem Jahre 1993 (Schindler's List, Philadelphia, River Phoenix stirbt) hatte Cliff Curtis seine erste Filmrolle, der später auch noch in anderen Klassikern des neuseeländischen Kinos wie Once were Warriors oder Whale Rider mitwirkte.

Aber seine überzeugendste Vorstellung bietet er als Genesis Potini in The Dark Horse. Er soll für die Rolle 30 Kilo zugenommen haben, und mit seiner eindrucksvollen Körpergröße und seinem kahlen Schädel wirkt er wie ein Krieger, ein Samurai oder ein stoischer Halbgott. Über den realen Genesis Potini, dessen Leben bereits Thema eines Dokumentarfilms war (Dark Horse von 2003, man beachte den fehlenden Artikel), sagt Noble Keelan, der mit ihm zusammen einen Schachclub gründete (kommt auch im Film vor):

Wir lebten im selben Viertel, hatten aber kaum etwas miteinander zu tun. Ich wusste nur, dass viele vor ihm Angst hatten. Als ich 16 war, lernten wir uns dann richtig kennen. Doch kaum hatten wir uns miteinander bekannt gemacht, entschuldigte er sich höflich, überquerte die Straße und schlug jemanden zusammen. Ich verschwand schnell in die andere Richtung und wusste, dass ich mit diesem Menschen niemals wieder etwas zu tun haben wollte.

Das Talent des Genesis Potini (James Napier Robertson)

Bildmaterial: © Koch Films GmbH

Die Filmfigur Genesis Potini wirkt verschlossen und schüchtern, ist manisch-depressiv und landet nach einem längeren Psychiatrie-Aufenthalt bei seinem Bruder Ariki (Wayne Hapi) der in einer von lauter Rockmusik durchfluteten Bruchbude haust (das immerhin geräumig wirkende Gebäude wirkt wie ein sprichwörtliches crack house) und zu einer offensichtlich in kriminelle Machenschaften verwickelten Biker-Gang gehört.

Genesis lernt seinen beinahe 15jährigen Neffen Mana (James Rolleston) kennen, der wie ein kleiner Aufschneider wirkt, der an dem geistig zurückgeblieben wirkenden Sonderling (»Du siehst gar nicht wie Dad aus«), mit dem er plötzlich das Zimmer teilen soll, zunächst wenig Interesse hat. Doch dann erlebt er, wie sich Genesis für ihn einsetzt, denn zum bevorstehenden Initiationsritus als neues Mitglied der Gang gehört irgendwie auch, dass Mana sich vom niederträchtigsten und brutalsten der Gangmitglieder schikanieren lassen muss (»Mutt, der Junge gehört jetzt dir, mach ihn hart!«), was Mutt (Barry Te Hira) mit einer sadistischen Ader reichlich auskostet. Ohne dass wirklich viel passiert, wirkt diese Szene so, als hätte sich Dustin Hoffman als stotternder Rain Man in einen Film wie Boyz n the Hood verlaufen, nur um sich dann plötzlich wie ein schwer einzuschätzender Michael Clarke Duncan aufzuplustern. Das macht auf den Neffen ebenso großen Eindruck wie Genesis' Begeisterung für das Schachspiel oder seine Entscheidung, lieber im Freien zu übernachten als sich im Haus des Bruders irgendwelchen Regeln unterzuordnen.

Das Talent des Genesis Potini (James Napier Robertson)

Bildmaterial: © Koch Films GmbH

The Dark Horse ist eine handwerklich sehr professionelle Produktion, in der neben der atmosphärisch stimmigen Kameraarbeit das emotional gut durchdachte Drehbuch und der generelle Grad an Suspense positiv auffallen. Genesis, der zwischendurch seine Tabletten absetzt, ist offensichtlich das, was man einen accident waiting to happen nennt. Und die komplexen Spannungen zwischen seiner brüchigen Familie und den Bikern werden fast zwangsläufig zu einer Eskalation führen, über deren Schwere man nur schlecht Prognosen abgeben kann.

Gleichzeitig erzählt der Film aber auch vom Schachclub, in dem Genesis Kinder unterstützt, die nicht unbedingt ein besonderes Talent für das Spiel haben, aber hier einen Zusammenhalt erfahren, während sie sonst aus zerrütteten Verhältnissen stammen. Bei den »Eastern Knights« läuft statt Gangsta-Rap Jackie Wilson und die Treffen in einer zum Tempel-Provisorium umgebauten Garage haben etwas von Heimeligkeit - auch wenn Michael (Niwa Whatuira), das wohl größte Schachtalent unter den Jugendlichen, sich eher dadurch hervortut, dass er öfters kifft oder auch mal versucht, seine Schule abzufackeln.

Das Talent des Genesis Potini (James Napier Robertson)

Bildmaterial: © Koch Films GmbH

Und so soll (und will) Genesis als jemand, von dem die Psychologen annehmen, dass er nicht mal sein eigenes Leben auf die Reihe kriegen kann, für die Kinder als Vorbild fungieren. Er kann ihnen zwar viel über das Schachspiel und die neuseeländische Mythologie beibringen (er sieht da eindeutige Verbindungen), aber es ist zu befürchten, dass die Kinderträume wie Seifenblasen platzen werden, wenn sich der bunte Haufen beim nationalen Juniorturnier feinen Eliteschülern gegenüber ans Schachbrett setzen müssen.

Das Talent des Genesis Potini (James Napier Robertson)

Bildmaterial: © Koch Films GmbH

Was The Dark Horse einzigartig macht, ist die Verstrickung eigentlich ganz unterschiedlicher Genreversatzstücke zu etwas ganz neuem (und da es sich ja um eine »wahre Geschichte« handelt, ist das nicht einmal von langer Hand am Reißbrett entstanden). Man hat schon so viele Filme gesehen, in denen ein Lehrer seine Schüler zu motivieren sucht oder ein verschrobenes Genie an den Kleinigkeiten des Lebens zu scheitern droht. Aber eben nicht in Personalunion, und dabei noch mit Elementen des Sportfilms und eines Gang(ster)dramas unterfüttert. Und auch, wenn man die jeweils gängigen Ausgänge dieser Prämissen kennt, gelingt es der Film, hier in der Kombinatorik das Ende offen zu lassen.

Und als wäre das noch nicht genug, hat man auch noch eine dezidierte regionale Ausprägung. Aber nicht groß aufgemotzt (wie es das deutsche Plakat nahelegt), sondern ganz dezent - und dadurch noch begeisternder.