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23. November 2016
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Ich, Daniel Blake (Ken Loach)


Ich, Daniel Blake
(Ken Loach)

Großbritannien / Frankreich / Belgien 2006, Originaltitel: I, Daniel Blake, Buch: Paul Laverty, Kamera: Robbie Ryan, Schnitt: Jonathan Morris, Musik: George Fenton, Kostüme: Jo Slater, Production Design: Fergus Clegg, Linda Wilson, mit Dave Johns (Daniel Blake), Hayley Squires (Katie), Dylan McKiernan (Dylan), Briana Shann (Daisy), Kate Rutter (Ann), Sharon Percy (Sheila), Kema Sikazwe (China), Natalie Ann Jamieson (Employment Support Allowance Assessor), Jane Birch (Librarian), Mark Burns (Job seeker), Stephen Clegg (Job Centre Floor Manager), Colin Coombs (Postman), Harriet Ghost (Appeal Receptionist), Stephen Halliday (Furniture Dealer), Bryn Jones (Police Officer), Viktoria Kay (Woman of the House), Mick Laffey (Welfare Benefits Advisor), Dan Li (Stan Li), Micky McGregor (Ivan), David Murray (Telephone Benefits Advisor), Julie Nicholson (Madam), John Sumner (CV Manager), 100 Min., Kinostart: 24. November 2016

Der mittlerweile 80jährige Ken Loach, seit 50 Jahren ein Bollwerk des linken politischen Kinos in England, wollte sich eigentlich mit Jimmy's Hall (2014), einem der oft (vergleichsweise) versöhnlichen Filme seiner Spätphase, aus der Filmbranche verabschieden. Legte dann aber mit I, Daniel Blake, der mal eben die Goldene Palme in Cannes abräumte (wie zehn Jahre zuvor schon The Wind that shakes the Barley), ein so vehementes Plädoyer für die Menschlichkeit nach, das als Schlusspunkt einer Karriere ungleich strahlender wirkt.

Daniel Blake (Dave Johns), ein Endfünfziger, der Zeit seines Lebens im Holzhandwerk tätig war, wird von seiner Ärztin wegen eines Herzfehlers nahegelegt, nicht mehr zu arbeiten. Und nun gerät er in die Mühlen der Bürokratie, weil er nach einem Telefonat mit einer »Gesundheitsdienstleisterin«, wobei er stumpf einen Fragebogen abarbeiten soll, als »arbeitstauglich« eingestuft wird und nun eigentlich die typischen »Arbeitsanbahnungsmaßnahmen«, wie sie auch das deutsche Job-Center fordert, durchführen soll, obwohl er sich weder im Geringsten mit Onlineformularen und stromlinienförmigen Lebensläufen auskennt noch er - wegen des Herzfehlers - einen wie auch immer gearteten Job antreten sollte. Aber für Formular A braucht man Formular B, der eine Berater schickt ihn zum anderen Amt und er droht in ein tiefes Loch zu fallen.

Ich, Daniel Blake (Ken Loach)

© 2016 Prokino Filmverleih GmbH

Nebenbei lernt er auf einem Amt die deutlich jüngere Katie (Hayley Squires) kennen, eine zweifache Mutter, die ähnliche Probleme hat - und die beiden unterstützen sich gegenseitig. Man kann sich den Film ohne Probleme als etwas seltsame Lovestory vorstellen mit einer Patchwork-Familie und einem bescheidenen Happy End (das Plakat impliziert etwas ähnliches).

Aber stattdessen hat man es mit einem galligen Plädoyer für die Menschlichkeit und gegen die Bürokratie zu tun, dass einen teilweise in die Abgründe einer griechischen Tragödie zu entführen droht.

Ich habe selbst so meine Erfahrungen mit dem Job-Center gemacht und konnte hier viel wiedererkennen - auch, wenn Loach und sein Autor Laverty es natürlich auf die Spitze treiben und ich mich nie mit den Security-Leuten im Amt angelegt habe oder mit den technologischen Ansprüchen so überfordert war wie Daniel Blake, dessen Kampf mit einem Online-Formular einen typischen Tag des steinerollenden Sisyphos fast wie einen heiteren Dauerlauf wirken lässt.

Ich, Daniel Blake (Ken Loach)

© 2016 Prokino Filmverleih GmbH

Ich kann nur von meiner persönlichen Situation ausgehen, aber dass man sich 35 Stunden die Woche mit der Arbeitssuche beschäftigen soll, wirkt beispielsweise auch einigermaßen absurd. Aber ich würde es nicht ausschließen, dass das hier oder dort so praktiziert wird (und wenn man gut informiert ist, bekommt man dann die zusätzlich durchgelaufenen Schuhe auch irgendwo erstattet).

Beim Drehbuch hatte ich teilweise (vor allem im ersten Drittel) das Gefühl, dass bestimmte Pointen zu durchdacht wirkten, wo es doch mehr um Authentizität oder gar ein dokumentarische Atmosphäre gehen könnte, aber alles in allem funktioniert die fast perfekte Filmstruktur erstaunlich gut mit dem so alltäglich wirkenden Sujet, wo es öfters einfach mal darum geht, dass der Nachbar seinen Müll rumliegen lässt.

Ich, Daniel Blake (Ken Loach)

© 2016 Prokino Filmverleih GmbH

Diese Kombination von tragischem Schicksal und frustrierendem Spießrutenlauf durch die Ämter (wobei Daniel stundenlang in einer Telefonwarteschleife steckt oder der Betrachter zwischendurch erfährt, dass Legastheniker eine bestimmt Telefonnummer online finden) überzeugt am stärksten dort, wo der Film mit richtigen Überraschungen aufwarten kann. Wer bei dem Familienausflug zur »Tafel« nicht mitfühlt oder bei der titelgebenden Protestaktion (»and stop the shite music on the phones!«) nicht schmunzelt, der sollte sich vermutlich selbst einen Job beim Amt besorgen.

Ein paar Wendungen hätte ich vermutlich weggelassen, weil sie im Nachhinein wirken wie Murphy's Law auf eine Tragödie übertragen - aber im Grunde gilt hier ausnahmsweise mal: »mehr ist mehr«, denn um sich mit einem so bagatellisierten Problem auf eine Art zu befassen, die auch nur irgendwas bewirkt (und sei es nur in ein paar Zuschauerherzen, die danach den süßlich riechenden Penner in der U-Bahn für ein paar Augenblicke mit anderen Augen sehen), muss man vermutlich aus dem Vollen schöpfen und alle Register ziehen, die einem häufig eher subtil vorgehenden Regisseur wie Loach nichtsdestotrotz natürlich zur Verfügung stehen.

Ich, Daniel Blake (Ken Loach)

© 2016 Prokino Filmverleih GmbH

Ein Detail, das mir hier noch deutlicher als anderen Loach-Filmen positiv ins Auge sprang, waren durch durchweg überzeugenden Nebendarsteller. Trotz allem gibt einem der Film auch die Möglichkeit, für ein paar Minuten in die Rolle der ebenfalls komplett überforderten »Sozialarbeiter« zu schlüpfen, die sich aufgrund des erfolgsorientierten Prinzips nicht einmal die Blöße geben können, in Einzelfällen helfend einzuschreiten, weil sie dadurch unter das zu absolvierende Pensum fallen und ruckzuck selbst den Job los sind. Dass gerade auf dem Arbeitsamt viele Angestellte nur auf Zeitvertrag beschäftigt sind (kein Filmthema, aber man kann ja auch mal abschweifen), zeigt deutlicher als vieles anderes, wie krank das System ist. Manchmal denkt man, hier werden zur Rettung von Schiffbrüchigen Nichtschwimmer in wackligen Schlaubooten losgeschickt. Und wenn dadurch das Drama nur noch schrecklicher ausgeht, tut man ganz betroffen, solange die Fernsehkameras laufen ... um dann später wieder knallhart auf bestimmte Statistiken hinzuarbeiten. Das ist kein Stoff für einen vergnüglichen Kinoabend, aber ein Film, an den man noch denken wird, wenn man die Sommerblockbuster des vorletzten Jahres längst vergessen hat.

Wenn die Kunst das Leben imitiert, muss das zwangsläufig auch mal weh tun.