Die Hände meiner Mutter
(Florian Eichinger)
Deutschland 2016, Buch: Florian Eichinger, Kamera: Timo Schwarz, Schnitt: Jan Gerold, Musik: André Feldhaus, Szenenbild: Tamo Kunz, mit Andreas Döhler (Markus), Jessica Schwarz (Monika), Katharina Behrens (Sabine), Heiko Pinkowski (Gerhard), Katrin Pollitt (Renate), Sebastian Fräsdorf (Johannes), 105 Min., Kinostart: 1. Dezember 2016
Florian Eichinger hat seine Filmographie bisher mit Filmen bestückt, die alle das selbe Thema haben: sexueller Missbrauch in der Familie. Vor gefühlt langer Zeit (2008) sah ich sein Spielfilmdebüt Bergfest - wo meine Erinnerung sich eher um die auffällige Figurenkonstellation und die Darsteller dreht - und ich hatte auch im Vorfeld der Filmsichtung die Thematik seiner »Trilogie« (den mittleren Film Nordstrand habe ich verpasst) nicht im Hinterkopf. Meine Unbelecktheit ging sogar so weit, dass ich nicht den geringsten Schimmer hatte, was der ominöse Titel »Die Hände meiner Mutter« implizieren soll - und ich mir auch nicht den Kopf darüber zerbrach.
Der Film beginnt ziemlich »harmlos«. Eine Familienfeier auf einem kleinen Schiff. Man wusste über die Besetzung mit Jessica Schwarz eigentlich augenblicklich, dass deren kleine Familie (Monika, ihr Mann Markus und der vierjährige Sohn Adam) wohl im Zentrum der Geschichte stehen würde. Und so konzentrierte ich mich darauf, die zahlreichen anderen Familienmitglieder zumindest zu unterscheiden zu können. Was mir aber ansatzweise gelang.
Der kleine Adam kommt dann gemeinsam mit der Oma Renate - Markus' Mutter - von der Toilette zurück, und er hat sich wohl den Kopf an dem Heizungskörper oder dergleichen (dummerweise finde ich meine Notizen zum Film nicht) gestoßen, und daraus entwickelt sich ein mittelschweres Drama, weil Markus (so knapp unter vierzig Jahre alt) jetzt Flashbacks an seine eigene Kindheit hat. Und an das, was dort vorgefallen ist, was er aber komplett verdrängt hatte. Siehe Filmtitel.
Bildmaterial: © Kinescope Film
Die cleverste Idee dieses Films mag ich nicht spoilern, aber die Inszenierung der Flashbacks schafft es auf kongeniale Weise, dass man den erwachsenen Markus (Andreas Döhler) nicht nur gut wiedererkennt, sondern auch seine Veränderung in der Jetztzeit aufgrund des wiedergewonnenen Wissens sehr gut nachvollziehen kann.
Die Verletzlichkeit des Kindes Markus, seine Verwirrung, das Zerstören eines Vertrauensverhältnisses, dies alles wird sehr behutsam und nahezu filigran umgesetzt (man weiß ja, dass Kinderdarsteller auch so ihre Grenzen haben, aber hier wird etwas erstaunliches geleistet - alle Darsteller sind großartig!). Und im Zusammenspiel mit der hier prioritisierten Gegenwart wird dem Zuschauer darüber eine Möglichkeit gegeben, sich in beide Markusse hineinzuversetzen, sie miteinander zu verbinden und darüber auch nachzuvollziehen, dass er jetzt seine Kindheit (oder eben die prägenden negativen Erlebnisse) neu durchlebt.
Im Film geht es - wenn man den kleinen Markus mal kurz außer acht lässt - um die Verarbeitung dieses freigelegten Traumas für Markus, der sich unter anderem therapieren lässt. Aber auch für seine Frau (man kämpft, aber die Ehe bekommt einen deutlichen Knacks). Und nicht zuletzt für den Rest der Familie, den man zu Beginn des Films mal ansatzweise kennengelernt hat, der jetzt aber wieder in den Fokus kommt.
Bildmaterial: © Kinescope Film
Da ist Markus' Vater, der die »verspäteten« Anschuldigungen zunächst rigoros verleugnet. Da ist natürlich seine Mutter, der Markus sich komplett entzieht und der er den Umgang mit dem Sohn verbietet. Dann geht es natürlich auch um Monikas Verhältnis zu ihren Stiefeltern. Und irgendwann kommen auch noch die Kinder von Markus' Geschwistern ins Spiel. Weil man die ja irgendwie vor der drohenden Gefahr durch die liebe Omi schützen muss. Und weil Markus' Geschwister ja potentiell auch Opfer gewesen sein könnten.
Ein ziemliches Wespennest.
Zu Beginn hat mich der Film zwar (auch durch das Familienfest) stark an Thomas Vinterbergs Festen (dt.: Das Fest, seinerzeit der erste Dogma-95-Film) erinnert, aber statt eines quasi-öffentlichen Eklats, der Leugnung und den daraus erwachsenden Konflikten lebt Die Hände meiner Mutter sehr von den Einzeltreffen der verschiedenen Familienmitglieder und einem gewissen Schneeballeffekt.
Bildmaterial: © Kinescope Film
Alfred Hitchcock erklärte den Begriff »Suspense« immer gerne mit einer tickenden Bombe, die unter einem Tisch liegt. Ohne Suspense sieht man eine womöglich langweilige Unterhaltung der Leute, die an dem Tisch sitzen, und irgendwann macht es BUMM und der Zuschauer ist überrascht. Wenn man aber die Bombe vorher zeigt (und vielleicht zwischendurch ihren Countdown einschneidet), wird die Unterhaltung plötzlich superspannend, man will als Zuschauer ins Geschehen eingreifen (»Vergesst doch mal die Steuerrückzahlung und schaut unter den Tisch!«).
Der Vergleich ist jetzt nicht ganz rund, aber Festen ist ein bisschen wie eine Bombe, die in die Familienfeier einschlägt. Und danach erlebt man quasi das, was auf Englisch so schön aftermath heißt. Bei Die Hände meiner Mutter ist es aber so, als betrachte man in einer beklemmenden Zeitlupe eine Bowlingkugel, die eine Kettenreaktion hervorruft. Oder vielleicht so einen Yenga-Turm, aus dem man immer wieder einzelne Holzblöcke herauspult - und man weiß, das kann eigentlich nicht gut gehen. Höchstens, wenn man mit dem vermeintlichen »Spiel« aufhört. Aber das scheint dann irgendwie nicht mehr möglich.
Im Grunde genommen ist es vielleicht sogar ein Yenga-Turm inmitten einer kleinen Ansammlung von ähnlichen Türmen. Und wenn man den Holzblock, den man gerade aus »Turm 1« hervorgezaubert hat, vom Tisch fallen lässt (aber bloß nicht unter den Tisch, sonst hebeln sich meine Metaphern gegenseitig aus!), dann sieht man erst, dass der Holzblock von Turm 1 per Bindfaden mit einem Block aus Turm 3 verbunden ist, der dadurch auch ein wenig gelockert wird.
Bildmaterial: © Kinescope Film
In Ermangelung meiner Notizen und mit dem generellen Bestreben, nicht den gesamten Film nachzuerzählen, wurde jetzt aus diesem Text auch eine Art fragiles Gebilde, eine Art Kartenhaus, das man in seiner Funktion als Filmkritik ohne Probleme auseinandernehmen kann. Mit Notizen wäre es professioneller geworden, aber ich weigere mich jetzt auch, anhand des Presseheftes alles zu rekonstruieren, das ungefähre Umfeld gibt ja schon einen guten Einblick.
Und ob der Turm, das Kartenhaus zusammenfällt, ob man will, dass die alte Familienstruktur erhalten bleibt, oder ob man lieber aus den Trümmern etwas neues aufbaut, was dann stabiler, gesünder und ehrlicher ist, das ist die etwas andere Suspense dieses Films. Und man muss es dem Regisseur hoch anrechnen, dass er weder Angst davor hat, etwas zum Einstürzen zu bringen, noch dass er ganz versessen darauf ist (solche Regisseure gibt es ja auch eine Menge, nur dass sie statt romantischer Komödien Katastrophenfilme drehen).
Die Hände meiner Mutter ist jedenfalls einer der Handvoll deutscher Filme, die man dieses Jahr gesehen haben sollte. Und wer schon Toni Erdmann und Tschick verpasst hat, bekommt jetzt eine letzte Chance, beim Thema deutscher Film nicht nur über die drei Schönlinge aus dem Werbefernsehen faseln zu müssen (wenn man jung ist, dreht sich alles um Online-Streaming, später wird man Versicherungsexperte).