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3. April 2017
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Una und Ray (Benedict Andrews)


Una und Ray
(Benedict Andrews)

Originaltitel: Una, UK / USA / Kanada 2016, Buch: David Harrower, Lit. Vorlage: David Harrower, Kamera: Thimios Bakatakis, Nick Fenton, Musik: jed Kurzel, mit Rooney Mara (Una), Ben Mendelsohn (Ray), Ruby Stokes (Young Una), Riz Ahmed (Scott), Tobias Menzies (Mark), Tara Fitzgerald (Andrea), Natasha Little (Yvonne), Poppy Corby-Tuech (Poppy), Isobelle Molloy (Holly), Ciar√°n McMenamin (John), Richard Cunningham (Prosecutor), Sophie Stanton (Carol), Darren Morfitt (Barman), Sydney Wade (Amy), 94 min., Kinostart: 30. März 2017

Montag, den 3. April:

Der Filmredakteur mistet seinen Mailordner aus und entdeckt eine Mail (vom 7. Februar), die darauf aufmerksam macht, dass der Film Una und Ray kinostartmäßig um eine Woche vorverlegt wurde. Dumm gelaufen! Zum einen, weil die Kritik jetzt mit Verspätung erscheint, zum anderen, weil Una (so der Originaltitel) zum Film des Monats im April erkoren wurde. Und ein kurzer Gegencheck mit den anderen gesichteten Aprilstarts ergibt, dass ich bei dieser Wahl festhalten möchte (Sorry, Jim Jarmusch). Zack! Das ist meine Lotterie, da kann ich machen, was ich will!

Theater und Film sind bekanntlich zwei Künste, die gewisse Ähnlichkeiten aufweisen. Wenn man einen Stoff bearbeitet, um ihn anderswo zu präsentieren (passiert in der Richtung vom Theater zum Kino etwas öfter als andersherum), gibt man sich im günstigeren Fall Mühe, von den Limitationen des einen Mediums zu den Stärken des anderen zu kommen. Das bedeutet bei Theaterverfilmungen oft, dass man durch zusätzliche Spielorte von der Theaterherkunft ablenkt, vielleicht Close-Ups oder Kameraspielereien einbaut (vgl. Volker Schlöndorff und Michael Ballhaus bei Death of a Salesman). Es kann sogar so weit gehen, dass man anstelle einer Mauerschau auf der Bühne das im Theater ausgesparte Spektakel besonders ins Zentrum drängt (dazu fallen mir die Reitszenen in Laurence Oliviers Henry V ein, auch, wenn ich mir nicht sicher bin, ob das eine umgesetzte Mauerschau oder eine Ergänzung war).

Una und Ray (Benedict Andrews)

© Weltkino Filmverleih

Das Filmische an Una (den zu einer Umdeutung animierenden deutschen Titel umgehe ich lieber) wird am deutlichsten und schönsten an einer Schnittkante klar. In der ersten Szene des Films sieht man ein junges Mädchen (Ruby Stokes), das vor einem wohlhabenden Familienhaus auf einer Holzbank sitzt, die rund um einen pittoresken Baum herum errichtet wurde. Man erahnt irgendwie, dass sie über irgendetwas nachdenkt. Schließlich steht sie auf, betritt einen Garten und erwartungsvoll, mit einem halbgeöffneten Hemd (es ist Sommer, sie trägt einen Bikini darunter), blickt sie in ein Gartenhaus, als Zuschauer erwartet man einen Gegenschnitt.

Stattdessen sieht man jetzt eine Frau (Rooney Mara), die in einem Club ausgelassen zur Musik tanzt, mit Stroboskop-Effekten. Der Filmtitel legt irgendwie nahe, dass es sich um die selbe Person handeln könnte, und noch bevor Una in einem Discotheken-Waschraum mit einem vermutlich Fremden Sex hat, ist man sich sicher, dass der ausgesparte Teil der Geschichte eine wichtige Bedeutung hat. Und die Schnittkante macht nicht nur die beiden Zeitebenen und die zweigeteilter Darstellung klar, sie scheint auch einen kausalen Zusammenhang zu implizieren, bevor man eigentlich weiß, was damals im Gartenhaus vorgefallen sein könnte.

Una kehrt später in ihrem Glitzerkleid zurück zum Haus von früher, duscht (auch die gepiercte Brustwarze zeugt von einer Bedeutung) - und holt aus einem Versteck ein Foto (das Filmplakat hilft natürlich auch bei der Einordnung der Zusammenhänge).

Nachdem Unas Mutter noch kurz ins Spiel kommt, sehen wir wieder die junge Una, dazu hört man PJ Harveys Down by the Water (»that blue-eyed girl became blue-eyed whore«).

Una und Ray (Benedict Andrews)

© Weltkino Filmverleih

Das wirklich Gelungene bei dieser Geschichte (die ich nicht bis ins Detail nacherzählen will) ist es, dass unterschiedliche Zuschauer die Rolle der beiden Hauptfiguren unterschiedlich interpretieren werden. Wer manipuliert hier wen? Gibt es eine klare Unterscheidung zwischen Täter und Opfer? Oder geht es gar tatsächlich um eine Liebesgeschichte, wie der deutsche Titel es nahezulegen scheint?

(Nirgendwo sonst hat man übrigens den Titel des Films verändert.)

Was Una ebenfalls wegbringt vom Theater ist das Production Design. Ein Haus ist ein Haus, das kann man im Theater nicht so darstellen (man sieht ja sogar die Reihenhäuser im Hintergrund angeschnitten). Man sieht auch irgendwann das Haus von Ray (ja, der spielt auch eine Rolle, und wird von Ben Mendelssohn gespielt, dem Bösewicht aus Rogue One: A Star Wars Story), und schon durch die Architektur, die Lage usw. kann man vieles aussagen, was man bei Kulissen irgendwie anders lösen muss.

Una und Ray (Benedict Andrews)

© Weltkino Filmverleih

Am Spannendsten wird es aber in der Fabrik, in der Una Ray besucht. Ein gut gewählter Drehort kann einem Film so viel bringen, das habe ich gleich in meinem nächsten Kinofilm (L'effet aquatic) wiedererlebt (ich finde, die Filme verbindet etwas). Und die größtenteils leeren Lagerräume, ein Besprechungszimmer und ein Pausenraum mit Vending-Maschinen lassen die Filmwelt so realistisch erscheinen, das man auch wieder zurückkehren kann zum Theatralen und etwa den Pausentisch auf eine übertriebene Art mit nicht abgeräumten Müll verzieren, weil manchmal die Symbolik wieder wichtiger ist als der Realismus.

Auch bei einer Gerichtsverhandlung, die mit einer räumlichen Trennung, einer Kamera und einem Monitor arbeitet, kann man im Film ähnlich hin- und herspringen wie bei den Zeitebenen. Regisseur Benedict Andrews und David Harrower, der Autor des Stücks Blackbird und des Drehbuchs, wussten hier ziemlich genau, wie man das Medium Film nutzen kann, um dem Stoff neue Facetten zuzuführen. Vermutlich ist schon das Theaterstück ziemlich interessant und regt zu spannenden Diskussionen an. Aber der Film fügt dem Ganzen noch etwas hinzu, und das ist im Normalfall immer die Definition einer gelungenen Adaption, die über diese Kategorie hinauswächst.

Und dazu würde ich auch stehen, wenn ich Blackbird mal lese (ist durchaus nicht unwahrscheinlich) und dort feststellen sollte, dass man vielleicht anderes dafür rausgeschnitten hat.

Una und Ray (Benedict Andrews)

© Weltkino Filmverleih

Ich bin nicht mit allen Handlungsentwicklungen des Films 100% zufrieden, aber Una ist von Anfang bis Ende spannend, man fühlt mit den Figuren mit, bei allen emotionalen Talfahrten gibt es auch positive Momente und Humor, kurzum: Ein Muss für den Film des Monats, selbst, wenn es der falsche Monat ist. Ich entschuldige mein bei all denen, die schon am Donnerstag oder Freitag im Kino waren, alle anderen Leser haben somit (je nach Kinoprogramm) fast einen ganzen Monat, um noch mitreden zu können.

(Und falls noch was Tolles kommt im April, ich scheue mich ja auch nicht davor, mehrere Filme des Monats auszuloben.)

Ich erinnere mich übrigens an kein Jahr, in dem ich noch im April so felsenfest hinter meinen vier Filmen stand. Wer alle vier gesehen hat, hat in meinen Augen auch das Recht, von sich behaupten zu dürfen, dieses Jahr noch halbwegs auf dem Laufenden zu sein.