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28. Juni 2017
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Nur ein Tag (Martin Baltscheit)


Nur ein Tag
(Martin Baltscheit)

Deutschland 2016, Buch: Martin Baltscheit, Kamera: Olaf Hirschberg, Schnitt: Stefan Oliveira-Pita, Musik: Sandra Weckert, Kostüe: Sonia Bouabsa, Production Design: Anna Bucher, mit Karoline Schuch (Eintagsfliege), Lars Rudolph (Fuchs), Aljoscha Stadelmann (Wildschwein), Anke Engelke (zweite Eintagsfliege), 76 Min., Kinostart: 29. Juni 2017

Kinderbuchautor Martin Baltscheit wurde auf einer Party mal wieder gefragt, was er so mache, und die Mutter der kleinen Anna Gabbert wollte ihm unbedingt die tolle Kinderbuch-Idee ihrer Tochter erzählen. Normalerweise führen diese gutgemeinten Ratschläge von Möchtegernautoren zur gefühlten Zeitstreckung, doch in diesem Fall wurde daraus ein unter anderem auch in Polen, England und den USA aufgeführtes Theaterstück, ein 20.000-fach verkauftes Buch und ein Hörspiel, das immerhin auch noch 8.000 Käufer fand. Und der oft als Multitalent verschriene Baltscheit wollte nach einem Animationskurzfilm nun auch sein Spielfilmdebüt absolvieren. Nur ein Tag ist ein verblüffend gut gelungener Vertreter des noch unerschlossenen Bereichs »Arthaus für Kinder«, der ein schwieriges Thema kongenial und herzergreifend umsetzt.

Fuchs (Lars Rudolph, Das kalte Herz) und Wildschwein (Aljoscha Stadelmann, Ostwind 2), zwei gute Freunde, sitzen zum Frühstück am See und sehen, wie eine Eintagsfliege schlüpft. Die knapp bemessene Lebenserwartung der zierlich-niedlichen Fliege (Karoline Schuch, Ich bin dann mal weg) rührt die beiden, doch sie wollen sich nichts anmerken lassen. Weil die Fliege jedoch spürt, dass mit den beiden etwas nicht stimmt, verstricken sie sich in Ausflüchte und schließlich behauptet das Wildschwein, dass der Fuchs nur noch einen Tag zu leben habe. Das findet die Eintagsfliege ganz schrecklich und sie setzt sich zum Ziel, dem Fuchs einen möglichst fröhlichen Tag zu bereiten...

Nur ein Tag (Martin Baltscheit)

Bildmaterial: Wfilm

Die Inhaltsangabe suggeriert, dass es sich um einen Animationsfilm handelt, doch weit gefehlt! Abgesehen davon, dass der Fuchs ein rotes Jäckchen trägt und das Wildschwein sehr kräftige Waden zeigt, tragen die Schauspieler weder Masken noch »Tierkostüme«, denn der Regisseur hatte die fixe Idee, das »Kino in die Köpfe zurückzuholen«. Was hier auch hervorragend funktioniert. Denn die Tiere benehmen sich hier größtenteils wie Menschen (man hört Radio und macht sich zum Frühstück Trüffelpuffer), wodurch auch die absurde Situation, dass Fuchs und Wildschwein sich beide etwas in die »Maifliege« verlieben, ganz normal wirkt. Und das Thema Tod, das durch die Eintagsfliege erst trivialisiert wird und auch kleinen Kindern verständlich wird, bekommt durch die Darstellung von einer wie »Halle Berry in blond-orange« in Zeitlupe und Badeanzug aus dem See steigenden Karoline Schuch trotzdem eine Tragweite, die über die normale Parabel oder Fabel hinauswächst.

Nur ein Tag (Martin Baltscheit)

Bildmaterial: Wfilm

Wer hätte gedacht, dass so etwas wie »Metaebenen« auch für Kinder prächtig funktionieren können? Die Fliege, die »so süß ist wie viereckiger Zucker« (zugegeben, als Erwachsener denkt man vermutlich länger über die witzigen Alltags-Details der gänzlich anthropomorphisierten Tierfiguren nach), hat eine ziemlich klare Vorstellung davon, woraus so ein Leben besteht: einen Beruf lernen, heiraten, alt werden und ein paar Sprachen lernen. Diesem Ideal kommt der Film dann auch erstaunlich nahe - selbst, wenn die Sprachkenntnisse sich eher in kleinen Floskeln wie »capisce?« oder »carpe diem« erschöpfen.

Das Glück des Fuchses hängt unter anderem davon ab, Gänse zu jagen. Wenn man Lars Rudolph in »unterdrückter Blutlust« voller Lebensfreude durch einen Schwarm (realer) Gänse laufen sieht und er der Fliege nachher erzählt, der Blutfleck an seinem Kinn stamme davon, dass er sich am Zaun verletzt habe, dann bekommt man eine klare Vorstellung davon, wie genial und universell verständlich die Prämisse des Films eigentlich ist. Regisseur Baltscheit berichtet von der Teampremiere, wo auch die Pubertierenden an einer bestimmten Stelle mitgeheult haben. Obwohl man annehmen könnte, dass für sie, die sich dem Kinderfilm entwachsen wähnen, die Tierfabel längst weit weg vom eigenen Leben ist.

Nur ein Tag (Martin Baltscheit)

Bildmaterial: Wfilm

Ein Film mit einem Budget von nur 300.000 Euro, also der »Portokasse von Conny fährt Rad« (Baltscheit) muss natürlich hier und da knapsen, aber es reicht immerhin noch für einem Kurzauftritt von Anke Engelke - als schwarzgewandete, reichlich depressive (aber unterschwellig saukomische) Eintagsfliege, die damit beschäftigt ist, den Countdown ihres Daseins herunterzuzählen: »Trübsal heißt das Haus, in dem ich wohne«. Und weil die fast ausschließlich im Freien spielende Geschichte ein natürliches Flair wie eine DEFA-Märchenverfilmung versprüht, beweist das auch wieder, dass das Medium Film an seinen Einschränkungen wachsen kann.

Superclever sind auch die kleinen musikalischen Intermezzos (Kinder haben eine eingeschränkte Aufmerksamkeitsspanne), die mit Archiv-Tieraufnahmen aus der Public Domain subtil die vorherrschenden Themen wieder aufgreifen: Käfer zerteilen Blätter, eine Spinne wickelt ein Opfer ein, eine Heuschrecke schnappt sich ein anderes. So wird das so gewichtige Thema Tod auch für die Kleinsten erfahrbar und ganz natürlich. Und wie in The Lion King sorgt der »Circle of Life« dafür, dass man fröhlich-optimistisch das Kino verlässt.

Nur ein Tag (Martin Baltscheit)

Bildmaterial: Wfilm

Fazit: Einer der seltenen Kinderfilme, den man sich getrost auch ohne Kinderbegleitung nicht entgehen lassen sollte. Wie es im zentral eingesetzten Song von Peggy Lee heißt: »It's a good day«!