Anzeige:
Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




20. September 2017
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Schloss aus Glas (Destin Daniel Cretton)


Schloss aus Glas
(Destin Daniel Cretton)

Originaltitel: The Glass Castle, USA 2017, Buch: Destin Daniel Cretton, Andrew Lanham, Lit. Vorlage: Jeannette Walls, Kamera: Brett Pawlak, Schnitt: Nat Sanders, Musik: Joel P. West, Kostüme: Joy Cretton, Mirren Gordon-Crozier, Production Design: Sharon Seymour, mit Woody Harrelson (Rex), Brie Larson (Jeannette), Naomi Watts (Rose Mary), Ella Anderson (Younger Jeannette), Chandler Head (Youngest Jeannette), Max Greenfield (David), Sarah Snook (Lori), Sadie Sink (Younger Lori), Olivia Kate Rice (Youngest Lori), Josh Caras (Brian), Charlie Shotwell (Younger Brian), Iain Armitage (Youngest Brian), Brigette Lundy-Paine (Maureen), Shree Crooks (Younger Maureen), Eden Grace Redfield (Youngest Maureen), Robin Bartlett (Erma), Joe Pingue (Uncle Stanley), A.J. Henderson (Grandpa Walls), Andrew Shaver (Dr. Taylor), 127 Min., Kinostart: 21. September 2017

The Glass Castle wirkt wie ein Gegenentwurf des im letzten Jahr recht erfolgreichen Spielfilms über alternative Lebensführung und Erziehungsmethoden, Captain Fantastic. Die naheliegendste Verbindung besteht darin, dass sogar zwei der Kinder, Shree Crooks und Charlie Shotwell, in beiden Filmen besetzt wurden.

Zu den Unterschieden zählt, dass Captain Fantastic eine Komödie mit ernsten Untertönen ist, und in The Glass Castle der ernste Tonfall trotz einiger versöhnlicher Momente vorherrscht. Als eine Komödie würde man den Film trotz einiger humorvolle Szenen jedoch nicht einstufen. Allenfalls geht es hier um den Humor der unterschiedlich deutlichen Verzweiflung.

Schloss aus Glas (Destin Daniel Cretton)

© 2017 Studiocanal GmbH

Die beiden deutlichsten inhaltlichen Unterschiede liegen darin, dass man zum einen erlebt, was aus den Kindern wird. Was zumindest bei der streng karrieregesteuerten, einen strengen Lippenstift tragenden Jeannette (Brie Larson, oscarprämiert und durchaus überzeugender in Room) nachdenklich macht. Denn als Entsprechung der Journalistin und Buchautorin Jeannette Walls, die ihre Geschichte niederschrieb, die im Film in Flashbackkonstruktionen immer wieder zum Vergleich anregt, fragt man sich immer mal wieder, ob ihre Kindheit trotz all der Probleme nicht irgendwie doch erfüllter und glücklicher war, als ihre repräsentative Rolle an der Seite ihres rückgratlosen, und in seiner Gefallsucht fast hilflos wirkenden Freundes David (Max Greenfield, der »Schmidt« aus der Sitcom New Girl).

Der zweite, noch deutlichere Unterschied zu den immerhin gut gemeinten und bis zu einem gewissen Punkt erfolgreichen Erziehungsidealen von Viggo Mortensen in Captain Fantastic ist schnell umrissen, u.a. durch ein Zitat der erwachsenen Jeannette: »Being homeless in New York City is not a lifestyle choice!«

Der (gegenwärtige) Moment, in dem man im Film erstmals Jeannettes Eltern sieht (oder vielleicht auch verpasst, weil man auf die falschen Dinge achtet), ist die Szene, in der sie aus einem Taxi einen Moment der Scham per Telefon an eine Schwester weitergibt: »I just saw mom and dad digging though the trash downtown.«

Schloss aus Glas (Destin Daniel Cretton)

© 2017 Studiocanal GmbH

Die Scham besteht hier auch darin, dass sie trotz nach wie vor bestehender Bindung zu ihrer Mutter lieber nicht von den Eltern erkannt worden wäre. Als Zuschauer ahnt man, dass ein schrecklicher Moment bevorsteht, wenn ihr Verlobter die Eltern kennenlernen soll - doch der weiß bereits Bescheid, was ihn eine erneute Konfrontation umso mehr fürchten lässt.

Nach diese Einführung beginnt die Flashbackgeschichte, in deren langjährigen Verlauf (immer wieder durchsetzt mit einer Rückkehr zur erwachsenen Jeannette) die vier Kinder der Walls inkl. der erwachsenen Variation gleich dreimal besetzt werden mussten. Der Ansatzpunkt der Kindheitserinnerungen könnte kaum traumatischer sein: Offenbar lebte man immer schon unterhalb der Armutsgrenze, und Vater Rex (Woody Harrelson in Bestform), der zunächst fast vernünftig wirkt (ob er sich in späteren Jahren veränderte oder Jeannette ihn nur deutlicher durchschaute, wird nicht bis zur letzten Deutlichkeit geklärt), legte immer großen Wert darauf, dass seine Frau Rose Mary (Naomi Watts) ihren Hang zur darstellerischen Kunst ausleben konnte - auch, wenn das die Familie nicht wirklich voranbrachte.

Schloss aus Glas (Destin Daniel Cretton)

© 2017 Studiocanal GmbH

In der schockierenden ersten Szene fragt die kleine Jeannette (Chandler Head) ihre Mutter, ob sie etwas zu Essen bekommen könnte (zu diesem Zeitpunkt weiß man als Zuschauer noch nicht, welche herrschende Rolle der Hunger im Leben der Kinder hat), und die Künstlermutter klärt die Tochter darüber auf, dass sie hier gerade ein Werk von bleibenden Wert für die Nachwelt am Erschaffen ist, weshalb solche Lappalien wie das Mittagessen warten könnten. Außerdem sei sie ja in der Lage, sich selbst etwas zuzubereiten.

Wenn das vielleicht sechsjährige Mädchen dann auf einen Stuhl klettert, um einen riesigen Topf mit kochendem Wasser vorzubereiten, ahnt man schon Schlimmes, aber dass die Gasflamme ihre Kleidung entzündet und man für einen kleinen Augenblick sieht, wie à la Struwwelpeter »lichterloh« brennendes Kind sich auf dem Fußboden wälzt, ist erst mal der deutliche Hinweis, dass die Kinder durch diese Eltern nicht wirklich beschenkt wurden.

Ich habe übrigens festgestellt, dass ich mich im Verlauf des Films mehr über Woody Harrelson als Rex (ein symbolträchtiger Name für den Patriarchen, der sein Volk darben lässt und es belügt) aufgeregt habe als über Naomi Watts. Und habe den Verdacht, dass man das Fremdschämen vielleicht eher aufs eigene Geschlecht überträgt...

Schloss aus Glas (Destin Daniel Cretton)

© 2017 Studiocanal GmbH

Wirklich interessant an dem Film ist, dass man immer wieder erkennt, dass die durchscheinende Autorin Walls zwar vordergründig als Heranwachsende dem Elternhaus zu entfliehen versucht, man aber mit ihr zusammen immer auch die positiven Aspekte der Eltern wahrnimmt. Selbst wenn Rex als Alkoholiker das wenige Geld versäuft und einmal sogar seine Frau aus dem Fenster schmeißen will, hat er einfach so viele freundliche bis liebevolle Momente, dass man ihm immer wieder zu verzeihen imstande ist (außer vielleicht nach der Billardszene). Und man lernt im Verlauf des Films, dass er auch keine leichte Kindheit hatte und selbst mit 17 von Zuhause ausriss - was unterschwellig auch irgendwie dazugehört zur Geschichte.

Das vorherrschende Erziehungsprinzip ist hier »was dich nicht umbringt, macht dich härter!«, und leider merkt man das dann auch daran, wie »hart« Jeannette als Erwachsene auftritt (»She's a big city girl, she can handle herself!«).

In Captain Fantastic gibt es ja vorrangig diese eine Szene (Hausdach), die klar macht, dass die durchaus guten Absichten des Vaters schnell zum Schaden der Kinder führen können. In The Glass Castle gibt es davon eine ganze Menge mehr. Es wirkt fast so, als lote man alle Extreme aus. Nachdem Jeannette die Flammen überlebte (auch nicht besonders feingeistig, dass ihr Vater sie nachts an einem Lagerfeuer (!) neu verbindet), geht es u.a. damit weiter, dass er sie »zum Schwimmen lernen« mehrfach ins tiefe Wasser wirft. Es gelingt ihr dabei zwar, das Schwimmen zu lernen (und der Vater feiert diese Errungenschaft auch mit ihr), aber natürlich geht das auch ohne Trauma und Lebensgefahr.

Hier und da fallen für die Kinder hierbei große Momente ab, die sie später vielleicht zu besseren Menschen machen oder ihnen Impulse für eine Schriftstellerkarriere geben (»when you let me pet that cheetah at the zoo«), aber The Glass Castle ist trotz der versöhnlichen Szene zum Schluss, wenn Jeannette über ihren Schatten springt und dafür auch belohnt wird, ein zutiefst trauriger Film.

Ganz persönlich war ich auch nicht zufrieden mit der Flashback-Dramaturgie des Films, die mir eine Spur zu clever ausgedengelt wirkte. Wie auf einer Schaukel ging es hier immer wieder von »liebenswert« zu »verachtenswert«, dann zwischen den Zeitebenen hin und her - was in einem 800-Seiten-John-Irving-Roman prima klappen kann, ist bei einem über zweistündigen Spielfilm auch ein wenig ermüdend. Vor allem, wenn man die Ambivalenz in der erwachsenen Jeannette, der letztlich wichtigsten Figur in der Geschichte, nicht so überzeugend verankert hat, wie es vermutlich durch ihre bloße Erzählerstimme im Buch besser gelungen ist.

Im Vergleich zur epischen Kindheitsgeschichte wirkt das »coming-out« Jeanettes irgendwie übereilt, was aber auch daran liegen mag, dass man ihr »Dilemma«, die Beziehung mit dem etwas zu häufig grinsenden Karrieristen David, in Relation zu ihren anderen Abenteuern einfach nicht ernst nehmen kann.

Ein interessanter Film mit ein paar Schwächen, der immerhin sehr neugierig auf das Buch macht.