Raum
(Lenny Abrahamson)
Originaltitel: Room, Irland / Kanada 2015, Buch, Lit. Vorlage: Emma Donoghue, Kamera: Danny Cohen, Schnitt: Nathan Nugent, Musik: Stephen Rennicks, Kostüme: Lea Carlson, Production Design: Ethan Tobman, Art Direction: Michelle Lannon, mit Brie Larson (Ma), Jacob Trembley (Jack), Sean Bridgers (Old Nick), Joan Allen (Nancy), William H. Macy (Robert), Tom McCamus (Leo), Cas Anvar (Dr. Mittal), Amanda Brugel (Officer Parker), Joe Pingue (Officer Grabowski), Jack Fulton (Jack's Friend), 118 Min., Kinostart: 17. März 2016
Eigentlich gehe ich fast davon aus, dass man irgendwie schon mitbekommen hat, dass Room von so einer Natascha-Kampusch-Geschichte handelt, wobei hier die 17jährige Joy aka »Ma« (die durchaus verdiente Oscar-Gewinnerin Brie Larson, von man nach ihrem Auftritt als »Envy Adams« in Scott Pilgrim vs. the World nicht unbedingt solche darstellerischen Meisterleistungen erwartet hätte) vor sieben Jahren von einem bösen Mann in einen schalldicht ausgebauten Gartenschuppen eingesperrt wurde und mittlerweile einen fünfjährigen Sohn namens Jack hat (wegen der langen Haare habe ich die Figur bei den Ausschnitten während der Oscar-Verleihung auch eher für ein Mädchen gehalten, aber man sah ja Jacob Trembley im schnieken Anzug neben seiner Film-Mami sitzen).
In der Romanvorlage von Emma Donoghue (nach Reinlesen in die ersten Seiten gleich bestellt), die auch das Drehbuch schrieb, erlebt man die ganze Geschichte aus der Sicht von Jack. Und auch im Film bleibt die Kamera immer bei ihm und er bekommt einige Voice-Over-Passagen, in denen er sein Leben erzählen kann, als wäre es ein Märchen. Es beginnt mit »once upon a time« und kurz vor Filmende heißt es »and we will live forever. Until we die.«
Bildmaterial © 2016 Universal Pictures International
Ich wüsste keinen guten Grund, diesen Film zusammen mit Kindern anzuschauen, aber gewisse Zusammenhänge werden zwar deutlich impliziert, aber dennoch nicht effekthascherisch aufbereitet. Ich bin übrigens trotz meiner großen Liebe für Kameramann Michael Ballhaus nicht zum Kampusch-Film 3096 Tage gegangen, weil ich zum einen jedem Bernd-Eichinger-Drehbuch sehr suspekt gegenüberstehe und ich zum anderen von einer Szene im Trailer vergrault wurde, in der der böse Mann die kleine Natascha vom Bürgersteig wegreißt, und man in Zeitlupe (!) beinahe noch unter ihr Röckchen schauen konnte. Und das ist exakt nicht die Art von filmischer Aufbereitung solch eines Themas, die mir angemessen erscheint. Beim Thema Vergewaltigung ist in meinen Augen immer noch Lukas Moodyssons Lilja 4-ever das Nonplusultra der keineswegs die falschen Individuen bedienenden Herangehensweise. Da ist Titelheldin Lilja zwar ein durchaus gutaussehendes junges Mädchen, aber man sieht ihren Alltag in der Zwangsprostitution in einer so harten wie jugendfreien Montagestrecke aus ihrer Sicht: schnaufende, unbekleidete, nicht eben sympathisch wirkende Männer rackern sich oberhalb der Kamera ab. Vielleicht funktioniert ein über alle Zweifel erhabener Antikriegsfilm auch nur auf ähnliche Art.
Als ich den Film sah (Dank an die Veranstalter der Filmstarts-Preview - der Verleih hat der Presse die Originalfassung mal wieder vorenthalten), störten sich einige Kinogänger an einer überraschenden Wendung des Films, die ich nicht ignorieren kann in der Kritik (die ausführlichen Stabangaben oder das angebotene Bildmaterial fördern klar das Prinzip Hoffnung).
Bildmaterial © 2016 Universal Pictures International
Aus meiner Sicht ist aber gerade die zweite Hälfte des Films diejenige, die die besondere Stärke von Lenny Abrahamson (Adam and Paul, What Richard did, Frank) zeigt. Er stellt sich unangenehmen Umständen und bringt damit die Zuschauer zum Nachdenken. Und riskiert dabei auch, manche Zuschauer vor den Kopf zu stoßen, die über bestimmte Dinge lieber nicht nachdenken wollen.
Bei realen Fällen ist es ja aus der Sicht der nicht direkt betroffenen Personen (nennen wir sie mal die »Zeitungsleser«) so, dass man vielleicht mitbekommt, dass irgendwo mal wieder ein Kind oder eine Frau verschwunden ist, aber selbst zum zehnten Jahrestag einer solchen »vermutlichen« Straftat würde keine Zeitung davon berichten. Und wenn die Personen dann wieder auftauchen (insbesondere, wenn sie überlebt haben), beginnt der Presserummel, in dem dann die Vergangenheit aufbereitet wird. Im Spiegel erscheint der Grundriss des Gefängnisses, in der Bild gibt es Exklusiv-Ausschnitte des rasant geschriebenen Buches (nicht immer von einer Person geschrieben, die dabei gewesen ist), und die Geschichte beginnt eigentlich erst, wenn sie aus einer gewissen Perspektive eigentlich zuende ist.
Bildmaterial © 2016 Universal Pictures International
Doch bei so einem »Happy End« ist es ja nicht so, dass die befreiten Opfer sich augenblicklich einen seltsamen zu großen Hut kaufen und den Rest ihres Lebens »Happy« pfeifend über den Bürgersteig tänzeln. Und diesen Teil der Geschichte erzählt Room auch, und zwar wie im Buch weiterhin aus der Sicht des Kindes, das zwar auch viele positive Erfahrungen macht (zum ersten Mal einen Hund streicheln, zum ersten Mal mit einem Gleichaltrigen Fußball spielen etc), aber teilweise auch Dinge, die der Film mal wieder nicht SO erklärt, dass auch ein Kind sie verstehen würde. So ist Jacks Großvater (William H. Macy) zwar sehr bedacht darauf, mittels seiner Anwälte zu helfen, aber irgendwann merkt man, dass der Opa den Enkel eigentlich kaum beachtet, woraus der erste handfeste Streit entsteht. Dem Wunsch, Jack doch wenigstens mal anzuschauen. kommt der Opa nicht nach und der Film liefert auch keine direkte Erklärung. Die man sich aber ohne Probleme zusammenreimen kann: Jack ist quasi der lebende Beweis dafür, was seiner Mutter passiert ist und wie letztendlich auch die gesamte Lebensplanung des Karriere-Opas in tausend Stücke zerbrochen ist. Das ist Jack gegenüber natürlich sehr unfair, aber das dieser Film sich nicht um Fairness dreht, dürfte jedermann klar sein.
Und so folgt ein zweites Martyrium, das aber wie das der Gefangenschaft auch viele positive Momente hat. Und unabhängig davon, wie der Film ausgeht (siehe die quasi letzten Worte Jacks weiter oben), ist das Großartigste an Room, wie weit das Spektrum der Emotionen ist.
Bildmaterial © 2016 Universal Pictures International
Noch ein Wort zum Thema Fairness: Die Story zwischen Jack und dem Opa findet man übrigens in der ersten Hälfte des Films noch einmal wieder. Kurz drüber nachdenken, dann weiß man, was ich meine. Und ob diese Stelle so auch schon im Roman vorkommt oder nicht: selbst Jack wird irgendwann seinen Opa verstehen, weil er einst ähnlich handelte. Wenn man sich nur ein wenig Mühe gibt, wird man durch diesen Film trotz mancher unschöner Umstände sehr viel positive Energie erfahren. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass mancher noch in einem halben Jahr beim Erblicken eines matschigen Herbstblattes, das am Scheibenwischer klebt, den bedeutsamen Perspektivwechsel des Films erneut durchlebt.
Ich könnte noch seitenlang vom cleveren Einbeziehen gewisser Kinderbücher quasseln, vom nahezu genialen Namen »Old Nick«, vom Symbolismus der »egg-snake« oder der recycleten Klopapierrollen. Je länger ich darüber nachdenke, umso besser wird der Film. Während ich dies schreibe, habe ich gerade entschieden, dass Room bisher mein Lieblingsfilm des Jahres ist (Anomalisa und Brooklyn rutschen je einen Platz runter) Und deshalb gibt es jetzt auch zum zweiten Mal in drei Monaten zwei »Filme des Monats«. So viel Fairness muss sein.