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20. Januar 2016
Thomas Vorwerk
für satt.org


Anomalisa (Charlie Kaufman & Duke Johnson)
(Charlie Kaufman & Duke Johnson)

USA 2015, Buch, Hörspielvorlage: Charlie Kaufman, Kamera: Joe Passarelli, Schnitt: Garret Elkins, Musik: Carter Burwell, Szenenbild: John Joyce, Huy Vu, Leitung Animation: Dan Driscoll, mit den Originalstimmen von David Thewlis (Michael Stone), Jennifer Jason Leigh (Lisa Hesselman), Tom Noonan (everyone else), 90 Min., Kinostart: 21. Januar 2016

  Anomalisa (Charlie Kaufman & Duke Johnson)

Obwohl es seit seinem Regiedebüt Synecdoche, New York etwas ruhig geworden ist um Charlie Kaufman, dürfte er nach Joss Whedon immer noch der bekannteste Drehbuchautor der USA sein (also, ich zähle nur Leute, die damit ihre Karriere begannen, nicht solche, die wie Woody Allen, Quentin Tarantino oder die Coen-Brüder auch Drehbücher schreiben). Immerhin begründeten Kaufmans Drehbücher die Spielfilm-Regiekarrieren von Spike Jonze (Being John Malkovich, Adaptation), Michel Gondry (Human Nature, Eternal Sunshine of the Spotless Mind) und George Clooney (Confessions of a Dangerous Mind). Andere prominente Autoren wie Paul Haggis (Million Dollar Baby), Brian Helgeland (L.A. Confidential), Diablo Cody (Juno) oder Aaron Sorkin (The Social Network) sind meines Erachtens noch eine ganze Ecke weiter davon entfernt, household names (unter halbwegs Filminteressierten) zu werden – falls das für bloße Drehbuchautoren überhaupt möglich sein sollte.

In seinen Skripts geht es oft um (nicht unbedingt positiv ausgehende) Liebesgeschichten unter leicht nerdigen Protagonisten. Und – evident durch das Auftauchen des Begriffs »mind« in 40% seiner Fremddrehbücher – um Gehirnvorgänge. Man schlüpft ins Hirn eines Prominenten, will seine Erinnerungen an eine frühere Liebe loswerden, präsentiert eine reichlich aufgebauschte Autobiographie, Kaufman macht einfach den komplexen Vorgang der Drehbucharbeit für den Zuschauer (scheinbar) erfahrbar oder lässt die kreative Energie ins Göttliche und / oder Wahnsinnige abdriften.

Kaufman erzählt gern von der Liebe, aber nicht von einem Idealbild, einer Disney-Traumhochzeitliebe, sondern von den Makeln, von den Problemen, die Liebe noch viel interessanter erscheinen lassen. Und mit diesem leicht gestörten Blick auf das Thema kommt er manchen Zuschauern viel näher als die soundsovielte RomCom, die mal wieder mit dem üblichen Stammpersonal von begehrten Darstellern zusammengecastet wird.

Anomalisa (Charlie Kaufman & Duke Johnson)

Bildmaterial © Paramount Pictures International

Was bei Kaufman definitiv auch dazugehört, ist ein gewisser Grad von Abstraktion. Man könnte auch sagen, dass Kaufman-Zuschauer zur Transferleistung bereit sind. Andersherum aufgezäumt bedeutet das aber auch, dass Kaufman nie das wirklich große Publikum erreichen wird, weil seine Filme vielen Leuten einfach zu »depressiv« oder zu »spinnert« sind.

In Anomalisa begleiten wir einen nicht besonders sympathischen Herrn durch anderthalb Tage seines Lebens. Michael Stonebesucht das Hotel »Fregoli« (vermutlich Teil einer Kette), um dort einen Vortrag über »customer service« zu geben, eine speziell US-amerikanische (Un-)Art, Kunden in einer manchmal etwas verlogenen Art das Gefühl zu vermitteln, dass man sich in besonderem Maße um sie kümmert. »Customer service« hat in nicht geringem Ausmaß etwas mit Beziehungen zu tun. Wer einem Hotelgast weismachen kann, dass man sich natürlich sofort um seinen Wunsch kümmern wird, der wird auch im Zwischenmenschlichen mehr Erfolg haben. Dies erlebt man im Verlauf des Films anhand der Figur Emily (übrigens ein Meisterwerk der perfiden Mimik und Gestik).

Doch Michael, auch wenn er als Motivationstrainer offenbar Bestsellerautor wurde und eine nicht geringe Popularität bis Prominenz genießt (man hört immer wieder mal aus dem Off »Ist das nicht Michael Stone?«), hat immer mehr Schwierigkeiten, sich mit dem oberflächlichen Schein zufriedenzugeben. Und wir gehen quasi mit seinen Augen durch den Film – und größtenteils durch das Hotel Fregoli, wo uns der Rezeptionist mit einem perfekten Halblächeln in die Augen schaut, während er auf seinem Computer ein Ausweichzimmer sucht – wohlgemerkt, ohne jemals auf den Bildschirm zu schauen.

Anomalisa (Charlie Kaufman & Duke Johnson)

Bildmaterial © Paramount Pictures International

Hinweis: Ich bemühe mich in meinen Kritiken meistens, nicht zu viel über die Filme zu verraten. In diesem Fall aber werde ich so ziemlich alles ausplaudern, und wer den Film lieber mit eigenen Augen entdecken will, sollte JETZT sein Kinoticket besorgen und dann meinethalben nach dem Film weiterlesen. Dies ist und bleibt die einzige Warnung.

Die Welt des Michael Stone ist irgendwie gruselig. Nicht genug, dass hier nur Puppen unterwegs sind (er selbst ist auch eine, denn der Film ist in Stop-Motion-Manier animiert), nach und nach wird es auch immer deutlicher, dass alle Personen um Michael herum fast die selben Gesichtszüge haben (zwischen Mann und Frau gibt es noch einen gewissen Unterschied) – und die selbe (männliche) Stimme.

Als er dann mal, er kommt gerade aus der Dusche, eine andere – dezidiert weibliche – Stimme vernimmt, klingt diese für ihn wie Magie, und er klopft an wildfremde Hoteltüren, um die Person hinter dieser Stimme zu finden. Es folgt dann das holprige Kennenlernen Michaels mit dieser Lisa, die er als »Anomalie« seines sonst so monotonen Lebens zur »Anomalisa« erklärt. Lisa ist schüchtern, hat Selbstzweifel, versteckt immer wieder eine Narbe an ihrem Auge hinter dem dafür passgerechten Haarvorhang. Aber es entsteht eine zarte Liebesgeschichte inmitten der kafkaesken Paranoia. Scheinbar wollen alle anderen ihr Glück sabotieren – aber das ist dann doch nur ein Alptraum. Und als die beiden quasi die allumspannenden Gegenspieler (und -innen) überwunden haben, bemerkt Michael, wie Lisa sich auch nach und nach in eine »der anderen«, der unbemerkenswerten gleichen, zu verwandeln scheint (wobei das auch viel mehr über Michael und seine manchmal aalglatt erscheinende Art aussagt).

Anomalisa (Charlie Kaufman & Duke Johnson)

Bildmaterial © Paramount Pictures International

Anomalisa könnte auch als etwas schräge, aber fast noch positive Allegorie auf das Verliebtsein durchgehen. Man lernt jemanden kennen, und plötzlich scheint alles neu und interessant. Das kann aber sieben Jahre oder ein Schäferstündchen später ganz anders sein, und man begibt sich womöglich auf die Suche nach »der anderen Stimme«, die einem die Möglichkeit gibt, dieses Gefühl des Glücks noch einmal zu erleben. Wobei das Verliebtsein auch immer mehr abstumpft. Übrigens kommt auch an die Filme, in die man sich in den ersten zwanzig Jahren seines Lebens »verliebt«, später fast nichts mehr heran. Und wenn man manchmal zwanzig Jahre später einen Film sieht, der einen früher verzaubert hat, kann das auch sehr ernüchternd sein. Aber das nur am Rande.

Der Film Anomalisa, so wie ich ihn bisher beschrieben habe, hat mir schon mal gut gefallen. Ich mag diese schrägen Liebesgeschichten, wo nicht immer alles perfekt läuft. Filme wie Her, Buffalo '66, Stranger than Fiction oder Punch Drunk Love. Aber Anomalisa ist mehr als nur eine Liebesgeschichte, und deshalb gibt es hier eine weitere Weggabelung, an der viele Personen dem Film den Rücken kehren werden (durchaus ein Problem, da ja nicht unbedingt Massen von Zuschauern Charlie Kaufman die Türen einrennen – aber vielleicht zählt ja die »Qualität« doch noch etwas neben der Quantität).

Ein zentraler Moment meiner Interpretation (Dank an Andreas Hahn, mit dem ich mich vor dem Kino noch lange unterhalten habe!) ist die Abfolge einiger kleiner Szenen. Michael kauft in einem Sexshop ein antikes japanisches Sexspielzeug, das so wirkt wie ein Geisha-Roboter, der für Blowjobs erstellt wurde. Direkt nach der Szene im Sexshop (wir wissen nicht einmal, ob er die Puppe gekauft hat, das wird erst viel später aufgeklärt) steht Michael unter der Hoteldusche, wobei er offenbar mit einem heißen Wasserstrahl kämpft. Beim Verlassen der Dusche sieht man seinen Penis (das erwähne ich nur, weil es die einzige Stelle im Film ist). Nacktheit und Schmerz werden hier mit einer Dusche in eine Szene gesteckt. Nach der Dusche steht er vorm Badezimmer-Spiegel und sein Gesicht scheint sich aufzulösen, auseinanderzufallen. Wichtige Details: Er sieht eine Reflexion von sich selbst und auch, wenn wir den Film hindurch immer gut sehen können, dass Michael auch nur eine Puppe ist (wenn auch mit einer eigenen Stimme), ist dieses Spiegelbild auch irgendwie erschreckend für ihn. Dieser Aspekt taucht dann ja auch in dem Alptraum später wieder auf. Außerdem finde ich es bezeichnend, dass die Sexpuppe zwar in der Welt Michaels keine Person ist, aus der Sicht des Betrachters aber der Unterschied von der Sexpuppe zu den anderen Puppen geringer ist.

Anomalisa (Charlie Kaufman & Duke Johnson)

Bildmaterial © Paramount Pictures International

Anyway, ich glaube, noch während Michael in den Spiegel schaut und auseinanderfallen zu droht, hört er die Stimme Lisas – und dann folgt der Lisa-Teil, den man einfach als längere Halluzination sehen kann. Die Szene mit Michaels Sohn, dem »Geschenk« und dem Samen, der aus der Puppe tropft (ein detail, das einem zunächst nur wie ein ziemlich derber Scherz erscheint), deutet eigentlich recht unmissverständlich darauf, dass Michael Sex mit der Puppe hatte. Hinzu kommen diverse weitere Punkte: die Puppe hat offenbar als einzige »Figur« des Films die gleiche Stimme wie Lisa (auch, wenn im Nachspann etwas anderes behauptet wird), sie singt wie Lisa in einer fremden Sprache – und irgendwo habe ich auch noch gelesen, dass die Sexpuppe eine ähnliche Beschädigung haben soll wie Lisas Narbe. Und dann erfährt man auch noch, dass Michaels Name für Lisa, Anomalisa, der japanische Begriff für »goddess from heaven« sein soll. Da bietet sich doch der Gedankensprung an, dass Michael vielleicht eine Umschreibung aus der »Bedienungsanleitung« in seine ausgedehnte Fantasie eingebaut hat.

Ach ja, ein weiterer zentraler Punkt: Michaels (an den Zuschauer weitergegebener) Eindruck von seiner Außenwelt ist ziemlich seltsam. Der Hotelname Fregoli ist übrigens auch Teil von Charlie Kaufmans Pseudonym Francis Fregoli, unter dem er das nur zweimal aufgeführte Hörspiel Anomalisa schrieb, in dem seine drei Sprecher (Thewlis, Leigh, Noonan) und Komponist Carter Burwell alle bereits mitwirkten. Unter dem Namen Fregoli wird bereits 1927 eine psychische Störung beschrieben, die darin besteht, dass der Betroffene sich einbildet, dass wildfremde Menschen allesamt Bekannte in Verkleidung sind (das Krankheitsbild ist noch etwas komplexer und weiter gefächert, aber ich konzentriere mich mal auf die Punkte, die offensichtliche Verwendung im Film finden).

Die »Fregoli delusion« ist aus meiner Sicht aber nicht in Stein gemeißelt als Interpretationsansatz des Films. Aber sie geht hübsch Hand in Hand mit der gewünschten Illusion der Kundenbetreuung, eines weiteren Kernpunkt des Films.

Anomalisa (Charlie Kaufman & Duke Johnson)

Bildmaterial © Paramount Pictures International

Wer es unbedingt will, kann den Film natürlich als Lovestory sehen und darüber hinwegschauen, dass sowohl Michael als auch Lisa nicht unbedingt Figuren sind, in die man sich ohne weiteres verlieben würde (obwohl ich Lisa ja immer noch zwanzig mal besser finde als Emily). Aber in meinen Augen ist die perfide Finte, aus der Lovestory dann die quasi ultimative kranke Fantasie eines psychisch Gestörten zu machen, noch etwas, was den Film besser macht – ohne den »Zauber« der holprigen Intimität zwischen den beiden komplett zu zerstören. Und das ist dann eben 100% Kaufman. Übrigens ist der Nachspannsong, relativ emotionslos von Tom Noonan dargeboten, von unzähligen Small-Talk-Floskeln unterlegt und mit zentralen Aussagen wie »They're all the same and none« gespickt, auch ein kleines Meisterwerk, das noch in den letzten paar Minuten (meine Interpretation habe ich mir erst später zusammengebastelt) wie ein Faustschlag ins Gesicht wirkt.