Vom Ende einer Geschichte
(Ritesh Batra)
Originaltitel: The Sense of an Ending, UK 2017, Buch: Nick Payne, Lit. Vorlage: Julian Barnes, Kamera: Christopher Ross, Schnitt: John F. Lyons, Musik: Max Richter, Kostüme: Odile Dicks-Mireaux, Production Design: Jacqueline Abrahams, Art Direction: Max Klaentschi, mit Jim Broadbent (Tony Webster), Charlotte Rampling (Veronica Ford), Billy Howle (Young Tony), Freya Mavor (Young Veronica), Harriet Walter (Margaret Webster), Michelle Dockery (Susie Webster), Emily Mortimer (Sarah Ford), James Wilby (David Ford), Edward Holcroft (Jack Ford), Joe Alwyn (Adrian Finn), Karina Fernandez (Eleanor Marriott), Peter Wight (Colin Simpson), Jack Loxton (Young Colin Simpson), Hilton McRae (Alex Stuart), Timothy Innes (Young Alex Stuart), Matthew Goode (Mr. Hunt), Andrew Buckley (Adrian Junior), Nick Mohammed (Postman Danny), Charles Furness (Ben Ryder), Oliver Maltman (Shop Customer), Guy Paul (Andrew), David Horovitch (Headmaster), Evelyn Duah (Nurse Emma), Kelly Price (Café Waitress), 108 Min., Kinostart: 14. Juni 2018
In Julian Barnes' 2011 mit dem Man Booker Prize prämierten Kurzroman The Sense of an Ending geht es u.a. um den unverlässlichen Erzähler Tony. Bei der vor dem Film wiederholten zweiten Lektüre fiel mir dies auf, als er einen Abschnitt mit dem Satz »After we broke up, she slept with me.« beginnt (S. 36), nur um in den weiteren Zeilen zu schildern, dass a) die Reihenfolge der beiden Vorgänge exakt andersherum ablief und b) das »we« kaum passend wirkt, weil er offenbar die Entscheidung über die Trennung allein fiel. Tony schildert sich als Opfer, aber man bekommt den Einblick, dass er eher der Täter ist.
Solch einen deutlichen Hinweis auf das Erzählerproblem kann man in der Verfilmung nicht auf die selbe Art einbringen, weil in Filmen ungeachtet von etwa einer Voice-Over-Stimme eigentlich die Kamera (natürlich wie immer zusammen mit dem Schnitt) die eigentliche Erzählerrolle übernimmt. Entsprechend versucht Regisseur Ratesh Bitra diesen Umstand visuell umzusetzen, was ihm auch gut gelingt.
Der deutlichste und als erstes auffallende Unterschied zwischen Roman und Film ist die unterschiedliche Erzählchronologie. Im Roman erzählt Tony von seiner Schulzeit und seinen zunächst zwei, etwas später drei besten Freunden, mit denen er mehrere Jahre zusammen verbringt, dann schildert er unter anderem seine Erfahrungen mit der oben erwähnten, aber nicht benannten Veronica, und erst im Verlauf der Geschichte stellt sich heraus, aus welchen Gründen er manche Details (vermeintlich?) akribisch schildert, während anderes (z.B. eine Ehe) eher nebenbei abgefertigt wird. Ehe man sich versieht, ist Tony ein alter Mann und etwa in der Mitte des Buches erhält er einen mysteriösen Brief, der ihn dazu bringt, seine zuvor geschilderte Biographie im Grunde für den Leser noch einmal neu zu überarbeiten. Wobei die vordergründige »Geschichte« um den Brief herum gerade in der Wechselwirkung mit den Eigenarten von Tonys Erzählung den Reiz des Buches ausmacht.
© Wild Bunch Germany
Im Film rasselt man fast im schnellen Vorlauf durch Tonys Leben, wohl um sicherzustellen, dass der alte Tony (also Jim Broadbent) als Hauptfigur erkennbar ist, die sich mit dem hier bereits nach wenigen Minuten eingeführten Brief beschäftigt. Das liegt zum einen am Umstand, dass man in einem Film das Altern innerhalb einer Biographie durch verschiedene Darsteller oder Alters-Makeup dauernd vor Augen geführt bekommt, während man im Buch halt die Geschichte und insbesondere Tony imaginiert, der halt nebenbei ein »drei Jahre später« oder »ich war in meinen Dreißigern, als ...« einstreut und man als Leser entsprechend das Alter »korrigiert«, sich aber nicht im Detail mit etwaigen kosmetischen Veränderungen befasst. Solange Erzähler Tony es nicht dezidiert erwähnt, setzt man vermutlich den Verlust des Haupthaars (um mich Jim Broadbent anzunähern) unbewusst dort an, wie man ihn im eigenen Leben oder bei Vater oder Großvater erlebte. Die Identifikation ist in Büchern meist ausgeprägter als beim Erzählmittel Film. Man selbst ist (sorry, blödes Beispiel) James Bond, man beobachtet nicht George Lazenby oder wer gerade dran ist.
Wenn man die Verfilmung in exakt der selben Reihenfolge wie im Buch gedreht hätte, hätte das nicht nur jene Zuschauer, die nicht sofort anhand der Erzählerstimme Jim Broadbent erkennen, verwirrt (so geht jedenfalls die Mär in Hollywood, der Hauptdarsteller muss immer recht schnell eingeführt werden), man hätte sich auch darüber gewundert, welche vermeintlich uninteressanten Details hier nacheinander abgearbeitet werden, während man lange Zeit keine Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Episoden erkennt (außer, dass es immer um Tony geht). Im Roman ist das kein Problem, man vertraut darauf, dass Barnes schon weiß, worauf er hinaus will.
Mein Lieblingssatz im Buch stammt etwa aus einer Szene, in der ein Lehrkörper in der Schule vom Tod (Selbstmord) eines Mitschülers informiert, den man im Film nicht einmal zu sehen bekommt, weil die eigentliche Figur nicht so wichtig ist, wie die Konfrontation mit dem Freitod eines Gleichaltrigen. Im Film, der wie gesagt visuell erzählt und die Geschichte von »hinten«, also mit Flashbacks, aufrollt, gibt es irgendeiner Stelle mal einen eingestreuten Filmschnipsel, der insbesondere für Zuschauer, die das Buch kennen, über eine Badewanne und eine gewisse Atmosphäre schon die (zweite) Selbstmordszene anreißen, bevor man (im Film) überhaupt die Person kennengelernt hat, um die es dabei später gehen wird.
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Nur der Vollständigkeit halber hier kurz mein erwähnter Lieblingssatz, der fällt, als man nach dem Tod des Schülers im Geschichtsunterricht versucht, Geschichte als solches zu definieren, und Adrian Finn (Tonys dritter Freund, der später bei Veronica Tonys Nachfolger werden wird, was wiederum etwas mit dem mysteriösen Brief zu tun hat) nach seiner (ausgeliehenen) Geschichtsdefinition »History is the certainty produced at the point where the imperfections of memory meet the inadequacies of documentation.« gebeten wird, dies mit einem Beispiel zu untermauern, und er dies mit folgenden Worten beginnt: »Robson's suicide, sir.«
(Trommelwirbel, jetzt folgt »mein« Satz.)
»There was a perceptible intake of breath and some reckless headturning.« (S.17)
(Die entsprechende Filmszene war übrigens enttäuschend, das mild ironisch eingesetzte »reckless headturning« kann man aber vermutlich auch nur durch Close-Ups und ein mittelschweres Schnittspektakel umsetzen, während man beim Lesen eigene Inszenierungsmittel einsetzt, die parallel zur Arbeit des Autors stattfinden, aber den eigentlichen Satz nicht verändern.)
Zur Visualisierung des Erzählprinzips (unreliable narrator) setzt man im Film gerne kurze Filmschnipsel ein, die dem informierten Leser der Vorlage schon recht früh einweihen, während der reine Filmbetrachter nicht einmal beim zweiten Betrachten des Films unbedingt die entsprechenden Zusammenhänge erkennt. Auch, weil die betonten »Höhepunkte« der Geschichte andere sind. Ein gewisses Spiegelei taucht etwa im Film auf, aber es ist dort nicht so wichtig wie im Roman.
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Dafür erfand Drehbuchautor Nick Payne neue Filmmomente hinzu, die es im Roman gar nicht gibt. Größtenteils auch, um die Hauptfigur Tony, die sich nicht auf die Identifikation des Lesers stützen kann, positiver darzustellen. Dies geschieht etwa dadurch, dass Tonys Tochter (Michelle Dockery) im Film hochschwanger ist und ihr Vater sich bemüht, ihr zur Seite zu stehen (Möglichkeit einer positiven Charakterentwicklung). Im Roman wird nebenbei mal erwähnt, dass Tochter Susie zwei Kinder hat, die aber keine besondere Bedeutung für die Geschichte haben.
Das Thema Erinnerung wird im Film auch dadurch visuell umgesetzt, dass Tony (auch noch im Rentenalter) einen kleinen Kameraladen führt, er zwischendurch mal einen Schuhkarton voller Fotos hübsch von einer Brücke aus entsorgt, und irgendwann auch noch eine Verbindung von diesem (für den Film dazuerfundenen) Teil Tonys Leben zur Exfreundin Veronica gezogen wird. Damit der Kamerashop nicht zu sehr als filmische Ergänzung auffällt, die kaum im Zusammenhang mit dem narrativen Gerüst des Romans steht, erfindet man sogar noch einen etwas merkwürdigen Kunden, bei dem der gewiefte Zuschauer sofort annimmt, dieser würde später noch eine Rolle spielen, lässt diesen aber dann komplett fallen. Es ging ja nur um die Ablenkung des Zuschauers. Manchmal muss man als Autor oder Regisseur eben wie ein Zauberer arbeiten.
Eine weitere Ergänzung zum Buch fällt indes kaum auf. Da es ja unter anderem um jenen Brief geht (von der »eigentlichen« Geschichte des Film berichte ich erstaunlich wenig), gibt es hier auch einen Briefträger, den Tony aber kaum beachtet (und wir als Zuschauer entsprechend auch nicht). Erst gegen Ende, als Tony durch die Geschichte gereift ist, behandelt er »Postman Danny« wie einen Menschen.
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Wenn man sich das Filmplakat anschaut, das durch eine wabernde blaue Wolke ganz vage das Thema des Geschichtenerzählers andeutet (Tinte im Wasserglas), so sieht man dort sieben der Darsteller untereinander, gefolgt von den Zusätzen »mit Matthew Goode« sowie »und Charlotte Rampling«. Jim Broadbent steht bei den Darstellern ganz oben und ist auch mit einem besonders großen Konterfei daneben vertreten. Genauso groß neben Broadbent steht Charlotte Rampling, die wie er in blauen Farbtönen angezogen ist, während die vier Personen »aus der Vergangenheit« alle in Sepia-Tönen und deutlich kleiner zu sehen sind.
Es ist mir ein inneres Verlangen, klarzustellen, dass Charlotte Rampling hier nicht die zweite Hauptrolle spielt (auch, wenn das beim Verkaufen von Kinotickets durchaus hilfreich wäre). Sie spielt zwar die mehrfach in meinem Text erwähnte Veronica, doch der überwiegende Teil der Veronica-Geschichte findet halt in der (nicht immer auf Anhieb akkurat geschilderten) Vergangenheit statt, und die Bedeutung von Billy Howle (aktuell in einer sehr ähnlichen Rolle auch in On Chesil Beach) und Freya Mavor (mir zuerst im Proclaimers-Musical Sunshine on Leith aufgefallen) als junge Versionen von Tony und Veronica sollte man nicht unterschätzen. Auch, weil es im Kopf von Tony natürlich um die Figuren und nicht um die mehrfach gesplitteten Darsteller geht. Obwohl mich die Casting-Entscheidung bei den beiden Hauptfiguren rein visuell nicht unbedingt überzeugten, funktioniert das Zusammenspiel von jung und alt dennoch ziemlich gut im Film.
Das größte Problem ist, dass die Geschichte, so wie sie präsentiert wird, im Roman weitaus stärker funktioniert (die Vergangenheit scheint präsenter, auch durch die chronologische und somit »miterlebte« Erzählung), während es im Film so wirkt, als ginge es vor allem um ein durch den Brief entdecktes »Geheimnis«, das aber für sich genommen (also irgendwie etwas von der Vergangenheit losgelöst) gar nicht so einen Paukenschlag darstellt, wie man es durch die Erzählweise suggeriert bekommt.
Wenn man nicht ganz konkret auf Details zu sprechen kommt, klingt das alles etwas schwammig. Meine Empfehlung ist es, sich den kurzen Roman vor dem Kinobesuch schnell zu besorgen und zumindest die erste Hälfte zu lesen. Allerdings sollte man dabei im Hinterkopf behalten, dass der Film trotz WM, Sommer und somit wenig Kinokonkurrenz vermutlich nicht in jedem Kino eine zweite Woche erleben wird.