Kindeswohl
(Richard Eyre)
Originaltitel: The Children Act, Großbritannien 2017, Buch, Lit. Vorlage: Ian McEwan, Kamera: Andrew Dunn, Schnitt: Dan Farrell, Musik: Stephen Warbeck, mit Emma Thompson (Fiona Maye), Stanley Tucci (Jack Maye), Fionn Whitehead (Adam Henry), Jason Watkins (Nigel Pauling), Anthony Calf (Mark Berner), Ben Chaplin (Kevin Henry), Nikki Amuka-Bird (Amadia Kalu), Rosie Cavaliero (Marina Green), Eileen Walsh (Naomi Henry), Nicholas Jones (Prof. Carter), Rupert Vansittart (Sherwood Runcie), Michelle Austin (Donna), 105 Min., Kinostart: 30. August 2018
Seit Atonement gehört Ian McEwan zu den 25 oder so aktuellen Schriftstellern, bei denen ich die Ambition verfolge, ihr gesamtes Werk kennenzulernen (zu den etwas unbekannteren Autoren dieser Gruppe gehören etwa Stewart O'Nan, Philippe Claudel, Philip Ridley, Zadie Smith oder David Sedaris, es sind aber auch Bestsellerautoren wie John Irving, J.K. Rowling oder Stephen King darunter oder Genre-Experten wie Patrick Rothfuss, Dennis Lehane und Susanna Clarke).
Bei McEwan habe ich die jeweils aktuellen Neuerscheinungen auch jedes Mal innerhalb von ein bis drei Jahren gelesen gehabt. Mein absoluter Favorit bleibt Saturday, aber auch The Children Act war im Jahr 2016 auf Platz 4 meiner Lieblingsbücher (es zählt das Jahr, wann ich die Bücher gelesen habe, identisch mit dem Erscheinungsjahr - hier 2014 - ist es selten). Dennoch hat das Buch einen vergleichsweise geringeren Eindruck auf mich hinterlassen, im Gegensatz zu On Chesil Beach habe ich mir das Buch auch nicht passend zur Pressevorführung erneut durchgelesen (das mache ich mitunter gerne mal).
© 2018 Concorde Filmverleih GmbH
Angesichts des Films war die Begeisterung meiner Kolleginnen (das Geschlecht ist hier nicht ausschlaggebend, aber ich habe mich aus irgendwelchen Gründen mit nahezu keinem Kerl über den Film unterhalten), die übrigens mit Ausnahme meiner Redakteurin in München das Buch nicht kannten, recht groß. Insbesondere die Darstellung von Emma Thompson wird generell zu einem ihrer prägnantesten Auftritten gezählt. Und Stanley Tucci ist ja eigentlich auch immer gut.
Meine Begeisterung über die (bekannte, wenn auch verdrängte) Geschichte, die verstärkte Rolle, die Emma Thompson als Richterin darin spielt, als auch die Interaktion zwischen der Richterin und dem im Verlauf der Handlung seine Volljährigkeit erreichenden Jungen, um dessen Leben es geht (gespielt von Fionn Whitehead, einem der für mich kaum unterscheidbaren Soldaten aus Dunkirk), hielt sich irgendwie in Grenzen. Ich habe bemerkt, dass mich Geschichten über ethisch-moralische Dilemmas mal stärker angesprochen haben. Inzwischen wirken diese mir oft zu klinisch, zu angestrengt durchdekliniert und deshalb die eigene Empathie eher behindernd.
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Man könnte jetzt auch darüber fachsimpeln, inwieweit Ian McEwan, der hier selbst das Drehbuch nach seinem Roman schrieb, den Übergang in ein anderes Medium vollbrachte. Doch stattdessen hat mich eher Richard Eyre, der Regisseur (Iris, Stage Beauty, The Other Man) überzeugt. Durch seine Schauspielerführung und seine Beteiligung beim Casting.
Wie gesagt, bei Emma Thompson und Stanley Tucci hat man das Gefühl, das man die Leistung auf einem Silbertablett geliefert bekommt. Ein zusätzliches Erlebnis waren aber die kleinen Nebenrollen. Etwa Jason Watkins, der schon in der Fernsehserie The Hollow Crown mit Eyre zusammenarbeitete, als Nigel, dem Assistenten der Richterin (er wirkt ein wenig wie ein etwas älterer Simon Pegg, füllt seine Rolle aber trotz seiner besseren Handlangertätigkeit mit einer immensen Würde aus).
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Oder Nikki Amuka-Bird als überzeugende, in den Bann ziehende Anwältin bzw. die soviel Menschlichkeit einbringende Krankenschwester Helen (beim Durchschauen der Darsteller sah nur Michele Austin der Figur ähnlich, die soll aber eine »Donna« spielen). Diese kleinen bit player versehen die fast etwas zu hübsch zurechtdrapierte Geschichte mit Leben, mit Herz aus. Natürlich würde ich auch Fionn Whitehead als zweitem Dreh- und Angelpunkt dieser Geschichte ein solches Urteil nie versagen, aber vielleicht hatte ich hier auch einen Nachteil dadurch, dass ich das Buch vorher las, und ungeachtet des für manchen bedeutsam wirkenden Umstands, dass ich das meiste wieder vergessen hatte, dennoch ein vages Gefühl davon hatte, was mich erwartete - und, vielleicht wichtiger, was mich nicht erwartete.
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Ich bin nicht der Meinung, dass man jedes gelungene Buch unbedingt verfilmen sollte, aber wer es nicht schafft, hin und wieder mal ein Buch zu lesen (und in der Beziehung fühle ich mich wirklich wie ein Dinosaurier, weil selbst meine einst buchverrückten Kommilitonen und guten Freunde mittlerweile kaum ein Dutzend Bücher im Jahr zu schaffen scheinen) liegen mit The Children Act durchaus richtig. Aus der Geschichte wird schon das Nonplusultra draus gemacht. Dennoch bleibe ich zurückhaltend mit meinem Lob, und letztlich möchte ich auch keine Verfilmung von Saturday sehen. Da gehöre ich dann lieber zum kleineren Kreis derer, die sich am Buch erfreut haben (und auf Nutshell, das neueste McEwan-Buch, das mir deutlich zu hübsch zurechtgelegt erschien, würde ich diese Einstellung noch ausweiten, weil die deutlichen literarischen Anwandlungen und Bezüge auf Hamlet in einer Verfilmung nur verlieren könnten - egal, ob man sie abschwächt oder verdeutlicht).