Capernaum -
Stadt der Hoffnung
(Nadine Labaki)
Originaltitel: Caphernaüm, Libanon 2018, Buch: Nadine Labaki, Jihad Hojeily, Michelle Kesrouani, Kamera: Christopher Aoun, Schnitt: Konstantin Bock, Laure Gardette, Musik: Khaled Mouzanar, mit Zain al Rafeea (Zain), Yordanos Shiferaw (Rahil), Boluwatife Treasure Bankole (Yonas), Kawthar al Haddad (Souad), Fadi Kamel Youssef (Selim), Cedra Izam (Sahar), Alaa Chouchnieh (Aspro), Nadine Labaki (Nadine), 123 Min., Start: 17. Januar 2019
Zain (Zain al Rafeea) ist etwa zwölf, eine medizinische Untersuchung hat jedenfalls die Erkenntnis gebracht, dass er keine Milchzähne mehr hat, und deshalb wird er auf dieses Alter geschätzt. Seine Eltern wissen auch nicht genau, wie alt er ist. Zu denen komme ich gleich noch.
Aktuell büßt Zain eine fünfjährige Haftstrafe ab, weil er, so seine persönliche Definition, einen »Hurensohn« getötet hat. Nun mag man sagen, dass er etwas jung für solch eine Strafe ist, aber Zain klagt gleichzeitig zu seiner Haftstrafe auch seine Eltern an, weil sie Kinder wie ihn in die Welt setzen, sich aber nicht um sie kümmern (können). Während dieses Gerichtsverfahrens erzählt Zain auf Wunsch des Richters seine Geschichte.
© Alamode Film
Die Parabelhaftigkeit dieser Fabel über die Ungerechtigkeit wird gleich zu Beginn sehr hoch gestapelt, wo es der Geschichte mehr Raum gegeben hätte, sich ohne diesen Aufbau frei zu entwickeln. Fernab seines Elternhauses muss sich Zain irgendwo in Beirut selbst durchschlagen, wobei er eine Zweckgemeinschaft mit der jungen Mutter Rahil aka Tigest (Yordanas Shiferaw) eingeht, die ohne Arbeitserlaubnis um ihren Lebenserwerb kämpft, und den kleinen Zain unter seine Fittiche nimmt, wobei sich dieser dadurch revanchiert, dass er auf Rahils Sohn Yonas (Boluwatife Treasure Bankole) aufpasst. Alle drei sind durch die Situation überfordert, schlagen sich »von der Hand in den Mund« durch, und als Zuschauer beobachtet man mit bösen Vorahnungen, was jetzt wohl schief gehen wird.
Ähnlich wie im letzten Jahr bei The Florida Project lebt Caphernaüm davon, dass man den halbimprovisierten Aktionen charismatischer Kinder beiwohnt, die sich, weil sie es nicht anders kennen, auch den widrigsten Umständen anpassen können. Solche Filme (ich muss auch an Kore-Edas Nobody Knows denken) haben einen ganz besonderen Charme und Reiz, können neben kleinen Glücksmomenten auf eine enorme emotionale Fallhöhe zählen.
© Alamode Film
Wie der deutsche Titel auch zeigt, schwingt selbst in den traurigsten Kinderschicksalen immer die Hoffnung auf die Zukunft mit. Schon der Vorspann zeigt laufende Kinder in Zeitlupe, die Regisseurin vertraut ganz auf die Wirkung ihrer kindlichen Protagonisten, baut aber um sie herum einen ungleich komplexere Handlung auf (wobei nicht zuletzt auch mehrere Erwachsene ihre Rollen spielen), was sich hin und wieder etwas beißt, aber durchaus seinen Reiz hat.
Man hat ein wenig den Eindruck, dass alle Kerle hier kurz davor sind, zu Kinderschändern oder vergleichbarem (Kinderhändler etc.) zu werden, aber diesen Aspekt von Zains Vorgeschichte blende ich mal aus. Er trägt zwar viel zum charakterlichen Reifeprozess der Hauptfigur bei, ist aber ansonsten nur unangenehm und soll hier nicht breitgetreten werden. Belassen wir es dabei, dass sich die Eltern die Anklage durchaus verdient haben.
© Alamode Film
In diesem Umfeld muss sich der durch den Flash Forward verflucht wirkende, aber dennoch »unschuldige« Zain durchschlagen und nebenbei auf seinen Schutzbefohlenen Yonas aufpassen, was im Verlauf des Films immer problematischer wird, weil Rahil mit eigenen Problemen kämpfen muss. Dass die beiden sich irgendwann im selben Gefängnis wiedersehen, gibt einem einen guten Einblick, wie sich die Geschichte entwickelt.
Mit einfachen Mitteln erzählt der Film vor allem vom Kampf der beiden alleingelassenen Kinder, die sich gegenseitig bei Laune halten. Ein schön umgesetztes Bild ist hierbei etwa die von Zain eingesetzten Spiegelscherben, um Yonas ein animiertes Kinderprogramm zu bieten, dass er dann spontan synchronisiert. Das Improvisationstalent kleiner Kinder ist ein kräftiges Standbein des Films, der in Cannes übrigens den Preis der Jury absahnte.
© Alamode Film
Wenn Zain für Yonas erst einem anderen Kind die Milchflasche stiehlt, ehe man auf Milchpulver mit Eiswürfeln (!) umsteigen muss, ist sehr traurig, dabei aber auch immer von einer tiefen Hoffnung durchsetzt.
Ich hätte auf die teilweise aufdringliche Filmmusik (Streicher!), manche Montagesequenz oder den Einsatz einer wackligen Kreiselkamera in besonders dramatischen Momenten durchaus gern verzichtet, aber der Film hat trotz solcher Kinderkrankheiten emotionale Kraft und Potential. Kurz: Hoffnung, mit traurigen Untertönen, personifiziert.
Der Filmtitel hat übrigens auch eine Bedeutung, aber weil ich mich wenig um religiöse Belange schere und diese Bibelstelle für die Handlung auch keine größere Rolle spielt, mag der geneigte Leser sich diesen Teil selbst recherchieren. I just don't care about this part.