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10. April 2019
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Border (Ali Abbasi)


Border
(Ali Abbasi)

Originaltitel: Gräns, Schweden / Dänemark 2018, Buch: Ali Abbasi, Isabella Eklöf, John Ajvide Lindqvist, Lit. Vorlage: John Ajvide Lindqvist, Kamera: Nadim Carlsen, Schnitt: Olivia Neergaard-Holm, Anders Skov, Musik: Christoffer Berg, Martin Dirkov, Szenenbild: Frida Hoas, Maske: Göran Lindström, Visuelle Effekte: Peter Hjorth, Sounddesign: Christian Holm, mit Eva Melander (Tina), Eero Milonoff (Vore), Jörgen Thorssen (Roland), Ann Petrén (Agnetha), Sten Ljunggren (Tinas Vater), Kjell Wilhelmsen (Daniel), Rakel Wärmländer (Therese), Andreas Kundler (Robert), Matti Boustedt (Thomas), 108 Min., Kinostart: 11. April 2019

Den Film Gräns habe ich jüngst herbeigezogen, um zu erklären, was mich in Filme zieht und was mich von der Sichtung von Pressevorführungen abhält. Der Debütfilm des Regisseurs Ali Abbasi, Shelley, war nicht unbedingt ein Meisterwerk, das einem das Gefühl gibt, nie wieder einen Film von ihm verpassen zu wollen. Laut Einschätzung des iranischstämmigen Regisseurs haben in seinem Heimatland Dänemark etwa 40 Personen den Film gesehen - und er war fortan als Horrorregisseur stigmatisiert.

In meinem Fall habe ich dem Regisseur eine zweite Chance gegeben, weil der Filmtitel (meinetwegen auch in der »deutschen« Übersetzung Border) mir dezidiert das Gefühl gab, dass er sich diesmal mit einem anderen Genre beschäftigt. Ich lag da, weil ich nicht immer schon alles im Voraus über Filme wissen will, etwas daneben. Gräns ist zwar kein Horrorfilm per se, beinhaltet aber durchaus Elemente, wie auch aus Märchen / Fantasy, Krimi und allegorischem Coming-Out einer unerwarteten Weise (wegen Spoiling-Gefahr werde ich da nicht im Detail drauf eingehen).

Border (Ali Abbasi)

Foto: Christian Geisnæs © Meta Spark - Kärnfilm

Der Film basiert auf einer 50seitigen Kurzgeschichte von John Ajvide Lindqvist, den man vor allem durch die gleich zwei Verfilmungen eines Romas kennt, die in Deutschland unter den Titeln So finster die Nacht (von Tomas Alfredson) bzw. Let me in (von Matt Reeves) liefen. Da ist die Horror-Affinität viel deutlicher zu erkennen, auch wenn Abbasi sich gar nicht als Genre-Regisseur sieht. Und seinen Film nicht vorrangig als Genre-Mix wahrnimmt. Ein Zitat von ihm: »Wenn man eine Wagner-Oper sieht, kann sie Brutalität, Romantik, seltsamen Humor und groteske Elemente enthalten, die ein zusammenhängendes Werk bilden. Welchem Genre entspricht Wagner?« Damit stapelt er nicht unbedingt tief, und Gräns erinnert auch kaum an eine Wagner-Oper, selbst, wenn man die beschriebenen Elemente wiedererkennt. Aber trotz der Abstecher in verschiedene Genres (der Krimi-Umweg nimmt etwa vielleicht eine halbe Stunde im Film ein) muss man Gräns auf jeden Fall eingestehen, ein »zusammenhängendes Werk« zu sein. Der Film offenbart nur nicht sofort, in welche Richtung die Geschichte geht. Und das ist auch ein wirklich spannender Aspekt der Geschichte.

Border (Ali Abbasi)

© Meta Spark - Kärnfilm

Der für einen Make-Up-Oscar nominierte Film schildert zunächst den Arbeitsalltag von Tina (Eva Melander), die eine eigenartige Physiognomie zeigt und auch klar als Außenseiterin markiert ist. Tina arbeitet beim Zoll und hat die seltsame Fähigkeit, Gefühle wie Angst, Scham oder Wut »wittern« zu können. Bei ihrer Zolltätigkeit ist sie also so etwas wie ein zweibeiniger Rauschgifthund, ein Geschenk für ihre Kollegen, die sich ganz auf ihre Gabe stützen. Damit wird dann auch die Krimi-Story angetriggert, denn Tina soll bei den Ermittlungen zu einem Kinderporno-Ring mithelfen.

Bei einem anderen Grenzübergänger (der Filmtitel ist natürlich auf mehrere Arten zu interpretieren) ist Tina jedoch etwas überfordert, denn der verhaltensauffällige Vore (Eero Milonoff) hat sich beim Grenzübergang nichts zu schulden kommen lassen, verunsichert aber Tinas Riechorgan. Es ist aber auch kaum zu übersehen, dass die beiden ein ähnlich »geschwollen« wirkendes Gesicht haben (wenn nur eine der Hauptfiguren so aussehen würde, würde man es nicht unbedingt als Masken-Leistung wahrnehmen, weil Tina zwar eigentümlich, aber doch eindeutig menschlich aussieht). Und aus dieser seltsamen Anziehung / Abstoßung entwickeln sie die Kernhandlung des Films.

Border (Ali Abbasi)

© Meta Spark - Kärnfilm

Im Presseheft nutzt man zur Beschreibung des eigenwilligen Paares gern das Wort »animalisch«, was ich aber als irreführend auffasse. Nur, weil man sich mehr auf die olfaktorischen Sinneseindrücke verlässt als die zivilisationstechnisch verkümmerten Menschen, macht dies Tina und Vore nicht »tierähnlicher«. Dann könnte man auch sagen, ein Wolf sei mehr »Tier« als ein frisch vom Hundefriseur kommender Zwergpudel. Die beiden sind vor allem naturverbundener, laufen gerne barfuß über Mooslandschaften oder finden eher Zugang zu Waldtieren als Menschen (während Hunde sie generell eher nicht mögen). Wenn dann mal ein Fuchs in der Geschichte auftaucht, sieht man deutlich, dass die Sache mit der Zivilisation sie deutlicher definiert als so was wie eine »Gattung« oder ähnliches (ich habe übrigens einen Großteil meines Lebens nicht im Entferntesten begriffen oder auch nur erahnt, dass Füchse rein biologisch eine Art Hund sind).

Border (Ali Abbasi)

© Meta Spark - Kärnfilm

So, weiter will ich gar nicht in die Geschichte eindringen. Gräns erzählt eine ganz eigentümliche Geschichte, scheut auch vor gewissen Grenzüberschreitungen (nicht nur beim Genre) nicht zurück, und allein dadurch ist der Film Lichtjahre besser als der atmosphärisch interessanten, aber reichlich verquaste Shelley. Es gibt zwar immer noch einige inszenatorische Entscheidungen, über die man geteilter Meinung sein kann, aber hier zeigt Abbasi einen gut entwickelten Instinkt, und die Vorlage triggert seine besten Qualitäten. Dass der Film dabei insbesondere die lang etablierten Regeln des Krimigenres mit unglaublicher Missachtung straft (Stichwort Fingerabdrücke), ist zwar ein bisschen ärgerlich, aber da dieser Umweg des Films vor allem dafür notwendig ist, das Publikum in die Geschichte hineinzuziehen, ist das gestattet. (Ich kann manchmal so großzügig sein ;-))