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15. Oktober 2019 | Thomas Vorwerk für satt.org | ||||||||||
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USA 2019, Buch: Scott Z. Burns, Kamera: Eigil Bryld, Schnitt: Greg O'Bryant, Musik: David Wingo, Kostüme: Susan Lyall, Production Design: Ethan Tobman, Art Direction: Max Wixom, Set Decoration: Rich Devine, mit Adam Driver (Daniel Jones), Annette Bening (Senator Dianne Feinstein), Jon Hamm (Denis McDonough), Corey Stoll (Cyrus Clifford), Linda Powell (Marcy Morris), John Rothman (Senator Sheldon Whitehouse), Victor Slezak (Senator Jay Rockefeller), Guy Boyd (Senator Saxby Chambliss), Evander Duck Jr. (Off Site Security Guard), Sandra Landers (Senate Intelligence Committee Clerk), Alexander Chaplin (Sean Murphy), Joanne Tucker (Gretchen), Maura Tierney (Bernadette), Michael C. Hall (Thomas Eastman), Ian Blackman (Cofer Black), Fajer Kaisi (Ali Soufan), Tim Blake Nelson (Raymond Nathan), Sarah Goldberg (April), Ted Levine (John Brennan), 119 Min., Kinostart: 7. November 2019
Passend zur Handlung dieses Films wirkt es so, als sei bereits der Filmtitel zensiert. Sowohl bei der Einblendung des Titels im Film als auch auf dem Plakat kann man unterschiedlich deutlich ein drittes, eingeschwärztes Wort erahnen, das einen inoffiziellen Titel »The Torture Report« erahnen lässt. Und analog dazu wird auch gleich zu Beginn des Films klargemacht, dass alles »based on the C.I.A.s detention and interrogation program« sei.
Dass man aus Sachbüchern Spielfilme macht, war vor einem Dutzend Jahren (Fast Food Nation) noch etwas besonderes, inzwischen ist das fast so selbstverständlich wie Videospiele als Basis von Verfilmungen. Für mich macht es bei solchen Filmen immer einen Unterschied, inwiefern man tatsächlich Spielfilmstrukturen erkennt, oder ob, wie hier, vage eine Spielfilmhandlung angedeutet wird, man die laufenden Bilder aber eigentlich dafür benutzt, eine womöglich schockierende Enthüllung mit manchmal eher skizzenhaftem Beweisverlauf an ein deutlich größeres Publikum »verkauft«. Die Zeiten, wo sich der Großteil einer angestammten Leserschaft etwa durch einen acht- bis zwölfseitigen Bericht in einem Periodikum wie Der Spiegel kämpft und man danach noch jemanden findet, mit dem man sich darüber unterhalten kann - diese Zeiten scheinen vorbei, da werden eher Spielfilme mit eingeschränktem Kinoeinsatz über eine internationalen Streaming-Service (hier Amazon) zum Gesprächsthema.
Und mögen sogar etwas bewirken.
Ich muss natürlich zugeben, dass der Inhalt dieses »Reports« auch mich nur deshalb erreichte, weil man es in einen Film verwandelte, aber ich bin nur bedingt dankbar für diesen Vorgang, weil mir einfach der Spielfilm als solches ans Herz gewachsen ist, und solche Hybriden, die eher an szenisch inszenierte Dokumentarfilme erinnern für mich auch eine Spur vom Niedergang des Kinos erzählen.
Hier steht im Zentrum der idealistische Mitarbeiter (Adam Driver) einer Senatorin (Anette Bening), der sich in einen Wulst von CIA-Materialien verbeisst, die implizieren, dass man kurz nach den Terroranschlägen vom 11. September willentlich Foltermethoden eingesetzt hat (inklusive eines vermeintlich »wissenschaftlichen« Leitfadens, den »Enhanced Interrogation Technics«), um schnell Ergebnisse zu liefern. Dass dabei auch unschuldige Opfer leiden mussten, ist aus heutiger Sicht keine Überraschung mehr, allzu oft wurden vergleichbare Schicksale schon ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt.
In einem konventionellen Spielfilm würde man den Kampf des von Driver gespielten Daniel »Dan« Jones vielleicht mit Eheproblemen oder einer Liebesgeschichte kombinieren, in The Report taucht zwar eine entsprechende junge Kollegin an seiner Seite auf, doch ich habe nicht einmal ihren Namen mitbekommen und sie verschwindet an einer Stelle sang- und klanglos aus dem Film, weil sie nicht ganz so obsessiv mit der Suche nach einer Wahrheit, die niemand hören will, umgeht.
Nun mag es sein, dass diese Figur 1:1 authentisch in den Film übernommen wurde und man vielleicht sogar ihren Namen schützen wollte - aus meiner Sicht ist es so, dass man die Erzählstrukturen erkennt (wie es unbewusst auch den meisten Zuschauern passieren würde), sie aber nur benutzt werden, um einen in den Film hineinzuziehen, der aber eher damit beschäftigt ist, wie ein Sachbuch oder langer Zeitungsartikel die Fakten darzulegen. Es mag unsachgemäß sein, aber ich fühle mich durch dieses Vorgehen ein wenig »betrogen«.
Das passiert zwar mit guten Absichten und didaktisch cleveren Mitteln (wie ein Zeichentrickfilm für Vorschulkinder, der diesen beibringen soll, wie man sich am besten die Zähne putzt), aber als Filmliebhaber und studierter -Wissenschaftler ist mir halt das Medium als solches wichtiger als seine Zweckentfremdung auf nicht unclevere Art.
Eine Sehnsucht nach alten Schemata aus sich verselbständigenden Drehbuchkursen wirkt (auch für mich) wie das Abnicken eines vielleicht größeren Übels, das über Jahrzehnte das Medium Film zersetzte, aber bei aller Analyse stehe ich zu meinem Bauchgefühl, was es mir versagt, diesen Film trotz des Fehlens erkennbarer Mängel wirklich in mein Herz zu schließen. Bis zu einem gewissen Grad will ich vielleicht auch diese verlogene Hollywoodscheiße mit Lovestory und Happyend.
Oder mein Widerwillen hängt damit zusammen, dass man diese »neue Form« des filmischen Erzählens auf den selben alten Klischees aufbaut. Nahezu jedes geheime Treffen mit einem höherrangigen Informanten, der zwar die Suche nach der Wahrheit unterstützen will, aber dafür nicht bereit ist, Job, Kariere und seinen guten Namen zu opfern, findet wie die guten alten Deep-Throat-Szenen aus All the President's Men oder später The X-Files in vereinsamten Parkhäusern statt.
Und auch die Drehbuchstrukturen um Schurkenfiguren kann man leicht wiedererkennen (»Your bullshit report will never see the light of day!«).
Gleichzeitig wirken die Szenen, die die Vorgänge bei den sanktionierten Foltermethoden visualisieren, fast wie aus Hostel übernommen (nur mit Versicht auf die Großaufnahmen der Splattereffekte).
Man spielt sozusagen ausgiebig mit der Klaviatur des Filmfans, zerrt ihn dabei aber in eine Art Geschichtsstunde, um zu seiner politischen Bildung beizutragen. Trotz der guten Absichten und der durchdachten Methodik erscheint mir das irgendwie falsch.
Trotz meiner Vorbehalte hatte ich aber auch meinen Spaß mit der teilweise sehr schwarzen Comedy oder der Konfrontation Daniels mit dem Kinostart von Zero Dark Thirty, der die Geschichte im Grunde genommen komplett anders erzählt und dafür gefeiert wird.
Und dass man als »Lärmfolter«, die den zu befragenden »Verdächtigen« Schlafentzug beschert, bevorzugt Slayer und Marilyn Manson benutzt, hat auch einen gewissen Charme ... ja, ich beschäftige mich mit der Geschichte des Films lieber auf einer fiktiven Basis als mit den menschlichen Abgründen. So bin ich eben gestrickt!
USA 2019, Buch: Ernest Riera, Johannes Roberts, Kamera: Mark Silk, Schnitt: Martin Brinkler, Musik: tomandandy, Production Design: David Bryan, mit Sophie Nélisse (Mia), Corinne Foxx (Sasha), Brianne Tju (Alexa), Sistine Stallone (Nicole), Dav Santos (Ben), John Corbett (Grant), Nia Long (Jennifer), 91 Min., Kinostart: 10. Oktober 2019
Ich mag Haifilme, habe aber keine besondere Vorliebe für Trash à la SchleFaz, sondern gehe immer mit hohen Erwartungen an solche Filme heran. Die Art von Effektfilm, wo die Rechner-Haie (oder die Saurier aus dieser einen Fernsehserie) nicht nur schlecht generiert wurden, sondern auch allenfalls durch den Schnitt mit den realen Personen des Films interagieren, ertrage ich nicht.
Bei diesem Film habe ich mir zur Entscheidung, ob ich mir den Film anschauen will, mal den Trailer zu Gemüte getan, was ich eher selten mache - und eigentlich nur, wenn ich schon rein instinktiv fühle, dass der Film vergeudete Lebenszeit bedeuten könnte.
Der Trailer hat bei mir komplett falsche Erwartungen geweckt. Ich dachte wirklich, ich wüsste nach dem Trailer ziemlich genau, wie die Geschichte des Films ablaufen würde: Erst geht es in unterirdischen Katakomben um eine Art Minotaurus-Variation mit einem Hai als Stierersatz im Labyrinth, und später spielt ein Ausflugsschiff mit Partygästen noch eine Rolle.
Ausnahmsweise werde ich bei diesem Film mal einigermaßen hemmungslos spoilern, um den vollen Ausmaß meiner (nicht durchgehend positiven) Überraschung zu schildern. Dies war die erste und einzige Warnung!
Der Film beginnt (abgesehen vom lahmarschigsten Vorspann seit Jahrzehnten) mit einer Wasserszene, in der Mia (Sophie Nélisse), die in ihrer Schule dadurch auffällt, dass sie nicht irgendwelchen oberflächlichen Modetrends hinterherläuft, von einigen weiblichen bullies in einen Pool geschubst wird. Dies wird dazu verwendet, dass ihre dunkelhäutige Halbschwester, die deutlich stärker integriert ist in der Highschool-Party-Szene, eine Gelegenheit bekommt zu sagen »She's not my sister!«, was dann zu einem späteren Zeitpunkt aus der Gegenrichtung wiederholt wird.
Zu diesem Zeitpunkt weiß man also ziemlich sicher, dass die Kerndramaturgie des Films aus dieser durch äußere Einflüsse gestärkten Schwesterbeziehung bestehen wird. So funktionieren Filme nun mal.
Die Halbschwester Sasha wird übrigens von Corinne Foxx gespielt, einer Tochter des Oscargewinners Jamie Foxx, eine weitere der vier Mädchen, die unter Wasser mit Haien konfrontiert wird, ist Sistine Stallone, eine andere Promitochter. Ein kleiner Casting-Coup, der dem Film vermutlich zusätzliche Aufmerksamkeit beschert.
Relativ langatmig wird vorbereitet, dass der gemeinsame Vater der Halbschwestern (John Corbett) eine Art Unterwasser-Archäologe ist und demnächst eine interessante Fundstelle präsentieren will. Verbotenerweise machen die vier Mädchen einen Ausflug dahin, wobei durch Technologie eine drahtlose Kommunikation unter Wasser möglich ist, die aber größtenteils für laute Angstschreie missbraucht wird (irgendwie muss ich an dieser Stelle lächeln).
Es passiert dann eine Menge unter Wasser, man findet uralte Haie, die wegen fehlendem Lichteinfall blind geworden sind, und die Mädchen müssen sich nach dem Einsturz eines Gangs auf die Suche nach dem zweiten Zugang zur Fundstelle umsehen, während die Anzeige ihrer Sauerstoffflaschen nichts gutes verheißt.
Abgesehen vom Bestreben, den Haien abgesehen von den vier Mädchen zusätzliche Opfer zuzuspielen, ist diese Phase des Film vergleichsweise abwechslungsreich umgesetzt, und dieser Haifilm spielt mal mit anderen Regeln. Dass es sich bei 47 Meters Down: Uncaged um ein Sequel handelt, habe ich übrigens erst spät erfahren, ich gehe mal davon aus, dass vor allem die Grundsituation wiederholt wurde, naheliegende Bezüge zum anderen Film sind mir nicht aufgefallen.
Im Trailer sieht man, dass das »Partyschiff« mit reichlich Haifutter eine große Unterwasser-Beobachtungsscheibe hat, auf die in einer Einstellung mal ein beeindruckend großer Hai in großer Geschwindigkeit zuschwimmt. De facto ist es aber so, dass dieses Schiff nur eine geringe Rolle für das Ende des Films spielt, der sich nämlich aus Budgetgründen vor allem auf die Unterwasser-Katakomben und etwaige Überlebende beschränkt.
Einen Film größtenteils im »Unterwasser-Studio« zu drehen (CGI macht es möglich, dass man für einige Szenen nicht mal Wasser brauchte), macht es natürlich möglich sich ganz auf die Inszenierung zu konzentrieren. Und daraus macht man hier einigermaßen viel, zum Teil wirkt Uncaged wie eine Hai-Version eines Films wie Buried, nur mit viel mehr Action und Bewegung (und dem Einsatz diverser Hilfsmittel, die aus einem stockdunklen Labyrinth deutlich mehr machen).
Der Trash-Teil des Films kommt erst mit der Rettung, weil dort einige überzogene Szenen Folgen, die mich so laut im Kino auflachen ließen, wie schon lange nicht mehr. Für die schiere Chuzpe, das Publikum sitzreihenlang synchron die Handflächen an die Stirne zu hauen, verzeihe ich diesem Film einiges. Und auch die Schlussszene, wo Mia wieder auf ihre frühere Peinigerin trifft, zeugt davon, dass Regisseur Johannes Robert (der drehte auch den Film zuvor) sich zwar der Möglichkeiten des Trashkinos bewusst ist und sich auch nicht scheut, Elemente davon aufzugreifen - aber er bietet mehr. Ich will ihn nicht zu einen Regietalent aufblasen (das würde zu weit führen), aber ich habe von diesem Film einiges mitgenommen. Und selbst die vermeintlich unfreiwillig komischen Szenen zeugen letztlich nicht zuletzt auch davon, das man mit Mut und Ambition auch mit einem eher geringen Budget einige tolle Momente umsetzen kann (nicht zuletzt etwa die »Rucksack-Szene« mit Alexa).
SchleFaz plus.
Österreich 2019, Buch: Gregor Schmidinger, Kamera: Jo Molitoris, Schnitt: Gerd Berner, Sounddesign: Thomas Pötz, Cosmix, mit Simon Frühwirth (Jakob), Paul Forman (Kristjan), Josef Hader (Vater), Wolfgang Hübsch (Großvater), Anton Noori (Murat), Markus Schleinzer (Psychotherapeut), Nico Greinecker (kleiner Junge), Max Mayr (Arbeiter 1), Dr. Peter Machacek (Oberarzt), Carl Achleitner (Pfarrer / Museumswärtner), 90 Min., Kinostart: 17. Oktober 2019
Ausnahmsweise möchte ich hier zum Einstieg mal die sogenannte logline aus dem Presseheft benutzen:
»Jakob ist 17, arbeitet als Aushilfskraft in einem Schlachthof und kämpft mit einer lähmenden Angststörung. Als er in einem Sex-Cam-Chat den 26-jährigen Künstler Kristjan kennenlernt, beginnt für ihn eine transpersonale Reise nach Nevrland und zu den Wunden seiner Seele.«
Dazu passend erklärt der Regisseur in einem Kommentar:
»Auch mein Leben wurde zehn Jahre von einer teils sehr lähmenden Angststörung beeinflusst. Nevrland war ein Möglichkeit, mich auch auf eine künstlerische Art mit dem Thema Angst zu beschäftigen und zugleich mit dem Thema der Selbstwerdung.«
Dann fasst er noch den Psychoanalytiker Wilhelm Reich zusammen (»Angst und Sexualität als zwei Seiten einer Medaille und die Triebfedern des Lebens«) und beschreibt einen Teil seiner Herangehensweise (»ich wollte einen Film aus der Post-Gay-Perspektive machen, d.h. die Homosexualität der Hauptfigur nicht ins Zentrum des Films rücken oder sie gar problematisieren bzw. das Coming-Out zu einem großen Thema machen«).
An diesen Statements werde ich mich jetzt abarbeiten, wobei ich bekannterweise eben nicht das Presseheft vor der Sichtung des Films schon aufmerksam lese, sondern lieber möglichst wenig vom Film wissen will und so meine eigenen Einsichten entwickeln kann - oder auch mal nicht.
Ich habe ja sowohl engl. Literaturwissenschaft als auch Filmwissenschaft studiert und unterscheide gern zwischen Primär- und Sekundärmaterial. Wenn ein Buch bei der Erstveröffentlichung bereits ein Vorwort mitliefert, gehe ich davon aus, dass der Autor dies guthieß oder es vielleicht sogar notwendig war, um bestimmte Punkte zum Verständnis des Werk zu liefern. Ein Presseheft gehört aber nicht zum eigentlichen Film »dazu«, egal wie viele Journalisten das dort versammelte, nicht immer fehlerfreie Gedankengut gerne als ihre eigenen Einsichten verkaufen.
Wenn man Nevrland ohne Vorkenntnisse sieht (okay, wenn ich einen Salzgeber-Film sehe, erahne ich eine gewisse Thematik, aber die war auch so im Film unübersehbar), so erkennt man Jakobsprobleme, begreift auch, dass hier viele Bilder nicht 1:1 der Wirklichkeit darstellen. Aber man braucht ein wenig Zeit, alles zu durchschauen. Die so hip klingende »Post-Gay-Perspektive« greift nur zum Teil, die Homosexualität der Hauptfigur ist so dermaßen im Zentrum des Films, dass es mir schwerfallen würde, diesen Eindruck noch zu verstärken (sein »Aushilfsjob im Schlachthof« wirkte auf mich eher wie ein zum Scheitern verurteiltes Praktikum).
Das Thema Angst wird im Film nicht nur bedingt gelungene Psychotherapiesitzungen umgesetzt (»der zweite Stuhl steht für die Angst«), sondern vor allem innerhalb der Inszenierung. Da gibt es reichlich Stroboeffekte (inkl. Warnung zu Filmbeginn), dunkle und knallrot ausgeleuchtete Räume, bei denen man sich nicht ganz sicher ist, ob das »Nevrland« einfach eine Art Bunker-Club ist, sondern ein irgendwie dunkles Fantasieland à la Lewis Carroll - und auch eine Menge grelles Sounddesign und vibrierende Unschärfen. Man erlebt als Zuschauer quasi die Angstzustände mit, und im Nachhinein kann ich nur versuchen, mich darauf zu verlassen, dass Regisseur Schmidinger seine eigenen Erfahrungen und seine künstlerischen Mittel hier gut zu einer Synergie führen konnte.
Wenn dann aber irgendwann der Schlachthof abdriftet in eine Art Darkroom und man beispielsweise einen nackten Mann drapiert auf eine toten Kuh sieht (wohlgemerkt bei einem Film, der sich immens Mühe gibt, bei seinen Einblicken in diverse schwule Chaträume nie irgendwas zu zeigen, womit eine FSK 12 höchstens durch den Kontext in Gefahr geraten könnte, dann habe ich bei allem Respekt für die Ambitionen des Künstlers den Boden in so einer Art unter den Füßen verloren, dass dies nicht eine Einswerdung mit einem Opfer von Angstzuständen bewirkte, sondern eine Distanzierung vom filmischen Material.
Wobei eigentlich nicht der künstlerische Anspruch den Film zersetzt, sondern die vermeintliche Normalität. Etwa das Zusammenleben in einem Drei-Generationenhaus mit drei Männern (darunter Josef Hader als Jakobs Vater), bei dem das Haus wirkt wie ein musealer Nachbau aus den 1970ern, während das Loft des Künstlers Kristjan aus einer völlig anderen Welt zu stammen scheint. Man merkt, wie man versucht, diese Welten zu verbinden, aber man kommt eigentlich nie über den mutigen Aufbau eines Experiments hinaus. Gerade mit der anvisierten »Post-Gay-Perspektive« wurde hier aber viel verschenkt, denn man kann sich gut vorstellen, mit solch einem Film ein viel größeres Publikum zu erreichen, dass tatsächlich etwas über das Thema Angststörung erfahren will, die sich ja vermutlich nicht nur auf gewisse Minderheiten beschränkt. Und auch Zuschauer interessiert, die sich jenseits von Queerfilmnacht und Panorama bewegen.
Der Film stößt jede Art von Publikum öfters mal vor den Kopf, es gelingt aber nur sehr bedingt, dass man mit den Filmfiguren (zumindest den beiden Hauptfiguren) eine Verbindung aufbauen kann. Okay, Regisseur Schmidinger hat hier nur sein Debüt abgeliefert, aber ich kenne so viele Filme rund um Hauptfiguren mit psychischen Störungen, in die man praktisch hereingezogen wird. Dieser Effekt könnte hier allenfalls bei einem stark begrenzten Spartenpublikum einsetzen, und ich befürchte, dass selbst hier all jene, die kein Hardcore-Interesse an Psychoanalyse und Kunst verspüren, ein wenig daneben stehen.
Nevrland könnte aber für ein sehr kleines »Spezialpublikum« eine Art Kultfilm werden. Wenn David Lynch schwul wäre, hätte Eraserhead ganz ähnlich aussehen können...
USA 2019, Buch: Paul Downs Colaizzo, Kamera: Seamus Tierney, Schnitt: Casey Brooks, Musik: Duncan Thum, Kostüme: Stacey Berman, Production Design: Erin Magill, Art Direction: Naomi Munro, Set Decoration: Kim Fischer, mit Jillian Bell (Brittany), Michaela Watkins (Catherine), Utkarsh Ambudkar (Jern), Micah Stock (Seth), Alice Lee (Gretchen), Jennifer Dundas (Shannon), Patch Darragh (Doctor Falloway), Erica Hernandez (Molly), 104 Min., Kinostart: 24. Oktober 2019
Auch dieser Film basiert auf einer realen Geschichte, einer Frau, die Drehbuchautor und Debütregisseur Paul Downs Colaizzo zu seinem Freundeskreis zählt. Brittany (Jillian Bell) ist etwas übergewichtig (laut Arzt »obese«), scheint anfänglich aber mit ihrem Leben größtenteils im Reinen zu sein, auch wenn sie abgesehen von den Trinkgelagen mit ihrer Mitbewohnerin und anderen girlfriends auch keine großartigen Errungenschaften vorweisen kann.
Das Hauptproblem des Films ist: die Hauptfigur ist weder besonders sympathisch noch witzig. Was zunächst wie der Dicken-Humor à la »Angriff ist die beste Verteidigung« wirkt, entwickelt sich nach dem Make-Over (sie hat es sich in den Kopf gesetzt, den New-York-Marathon zu laufen) zu einer Art gehässiger Arroganz, die zwar irgendwann doch durch einige Versöhnungen verringert zu werden scheint - aber die eigentliche charakterliche Veränderung der Figur wird einem als Zuschauer vorenthalten und findet offenbar während eines einjährigen Zeitsprungs statt.
Der am besten funktionierende Teil des Films ist die entstehende Freundschaft Brittanys mit ihren running buddies, darunter eine Nachbarin, über die sie zuvor immer nur lästerte, und ein potentieller love interest, dessen schwuler Freund in der vielleicht emotional stimmigsten und eindeutig subtilsten (ich benutze das Wort im »relativen« Sinn) Szene des Films auftaucht.
Ihre frühere beste Freundin und Mitbewohnerin wird irgendwann abgesägt, weil sie als oberflächlich eingestuft wird (stimmt zwar, aber Brittany steht ihr kaum in etwas nach, Hauptgrund ist eher »I'm not gonna be your fat sidekick anymore!«), und wenn sie dann auf abenteuerliche Art und Weise tatsächlich so etwas wie eine Beziehung aufbaut (erst ein »friend with benefits«, doch dann investiert er auch Gefühle), macht unsere vermeintliche Heldin auch da alles kaputt, und zwar über einen Level hinaus, wie man ihn aus RomComs kennt (»es muss erst einen Knacks in der Beziehung geben, damit beide begreifen können, was sie einander bedeuten«).
Wobei Brittany runs a Marathon für mich auch keine RomCom ist, weil eben der Humor zu sporadisch ausfällt und man von Romantik nur rudimentäre Merkmale ausfindig machen kann.
Dass man sich gegen die Genrekonventionen für einen ganz eigenen Film entscheidet, kann ja manchmal ein Gewinn sein, aber hier habe ich abgesehen von den Bemühungen, die reale Geschichte auf die Leinwand zu bannen (und kurz darauf auf amazon zu zeigen), einfach keine echte Existenzberechtigung des Films ausmachen können.
Die Hauptdarstellerin Jillian Bell war mir übrigens kein Begriff und dies wurde durch einen Ausflug auf imdb auch nicht anders. Ich könnte mir einen ähnlichen Film mit einer jüngeren Melissa McCarthy vorstellen, aber die ist selbst, wenn sie jemanden unsympathischen spielt, einfach unterhaltsamer (wenn man sie nicht generell hasst wie die pest, was ein weit verbreiteter Zustand zu sein scheint, der mich aber noch nicht ereilt hat, weil ich eher wenige ihrer Filme gesehen habe).
Für mich gleicht dieser Film eher einem leicht depressiven Erfahrungsbericht aus einer einschlägigen Frauenzeitschrift (gibt es eigentlich noch »Meine Geschichte« und Konsorten? Das war mal die scripted reality-Version von Arztromanen), angereichert mit ein klein wenig Humor vom oft themenverwandten Stil »Her BMW is high!«.
Das Positivste, was ich über den Film sagen kann: die Personen sehen nicht durchweg genau aus wie typische Hollywood-Schauspieler. Was ich lange Zeit für eine echte Errungenschaft des Films hielt, aber auf diesem Versprechen allein konnte nicht aufgebaut werden.
Deutschland 2019, Buch: Maike Rasch, Ali Hakim, Kamera: Rodja Kükenthal, Schnitt: Janina Gerkens, mit Emma Drogunova (Yara), Sarah Mahita (Kiki), Slavko Popadic (Bekim), Kasem Hoxha (Abaz), Emma Torner (Jeta), Miguel Ribeiro da Saude (Akhi), Arman Kaschmiri (Tufan), Zoran Pingel (Jamal), Ilyane Sina, 88 Min., Kinostart: 24. Oktober 2019
Yara, 17, verwurzelt in ihrer albanischen Familie, trifft bei einem Prank (dieser Jugendtrend spielt leider eine größere Rolle im Film) auf die wenige Jahre ältere (und einen Kopf größere) Kiki, die sich unter anderem bei einem Thekenjob durchsetzt, wo nicht zuletzt Yaras Bruder Bekim sie immer wieder anbaggert. Beide sind verdutzt über die Anziehungskraft zwischen den beiden, aber besonders Yara muss erst mal klar damit kommen, dass all ihre traditionellen heterosexuellen Parameter für die Chance auf echtes Glück umgeschmissen werden müssen.
Wie der etwas unglückliche Filmtitel Bonnie & Bonnie schon andeutete, versandet hier aber der gute Ansatz in einem Meer aus Klischees (ja, mir ist klar, dass man im Meer nicht ohne weiteres versanden kann, bin aber zuversichtlich, dass die werten Lesenden meine mixed metaphors umsetzen können).
Das Kennenlernen der beiden wirkt so aufgesetzt wie nur irgendwas, eine gewisse Grundkriminalität und die sich fast nur auf die muslimischen Figuren erstreckende Homophobie tun auch reichlich weh. Außerdem dreht sich die Welt des hier so berufsjugendlichen Hamburg-Wilhelmsburg offenbar nur um Gangsta-Rap, Pranks und zu viel Augen-Make-Up. Das ist bei mir in Neukölln manchmal ganz ähnlich, aber da komme ich nicht so ohne weiteres rein.
Mir ist auch klar, dass Jugendliche gerne Regeln brechen (ich war bei der Klassenfahrt auch mit dabei auf dem obligatorischen Diebeszug durch den örtlichen Discounter), aber wie hier junge Liebe und Kriminalität gepaart werden, wirkt wie die zum vierten Mal wiedergekäute Version von True Romance (den ich schon damals, als ich im selben Alter war, doof fand).
Zur »Modernität« des Films gehört auch die propagierte Mediennutzung, wobei man aber im Dienste des manchmal etwas an den Haaren herbeigezogenen Plots auch einen vermeintlich besten Freund einfach unreflektiert brisantes Bildmaterial im Web posten lässt.
Gefühlt jede zweite Szene spielt bei einem romantischen Sonnenunter- oder aufgang, dann paart man Themen wie Ehrenmord mit der lesbischen Version von Bonnie & Clyde (die Ähnlichkeit bleibt sehr vage), und for good measure schmeißt man auch noch zwei Strumpfmasken à la Spring Breakers mit rein.
Nur leider kann der Film keinem seiner zahlreichen Vorbilder auch nur im Ansatz das Wasser reichen, aber etwas Selbstironie über das vermeintlich »schönste Verbrecherpärchen Norddeutschlands auf der B4 kurz vor Uelzen« geht dem Film komplett ab.
Das »Nachwuchsprogramm Nordlichter« in allen Ehren, aber auf mich wirkt der Film ein wenig so, als wenn Halbstarke einen auf Hollywood machen, aber noch keine echten Einblicke in das reale Leben erfahren haben. Dazu passt übrigens auch erschreckend gut, dass eine Ärztin im Film »Dr. Sommer« heißt. Ich erinnere mich noch gut daran, wie wie in der zehnten Klasse einen Kurzfilm drehten und auch jeder versuchte, seine vermeintlich guten Gags oder easter eggs mit einzubauen...
Demnächst in Cinemania 206:
Rezensionen zu aktuellen Kinostarts, darunter Pferde stehlen (Hans Petter Moland).
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