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7. Oktober 2020
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Vergiftete Wahrheit (Todd Haynes)


Vergiftete Wahrheit
(Todd Haynes)

USA 2019, Buch: Mario Correa, Matthew Michael Carnahan, Kamera: Edward Lachman, Schnitt: Affonso Cançalves, Musik: Marcelo Carvos, Kostüme: Christopher Peterson, Production Design: Hannah Beachler, mit Mark Ruffalo (Robert Bilott), Anne Hathaway (Sarah Barlage Bilott), Tim Robbins (Tom Terp), Bill Camp (Wilbur Tennant), Victor Garber (Phil Donnelly), Bill Pullman (Harry Dietzler), Mare Winningham (Darlene Kiger), William Jackson Harper (James Ross), Louisa Krause (Carla Pfeiffer), Jim Azelvandre (Jim Tennant), 126 Min., Kinostart: 8. Oktober 2020

Normalerweise schreibe ich zu Filmen, die mit starker Verspätung nach der Pressevorführung anlaufen, keine Rezensionen. Selbst mit guten, ausführlichen Notizen ist ein halbes Jahr nach der Sichtung einfach vieles verpufft. Wenn man aber selbst über ein halbes Jahr lang nicht mehr im Kino war und miterleben muss, wie Kritiken nicht mehr jeden Donnerstag, sondern etwa jeden Feiertag erscheinen, geht man etwas anders an die Sache heran, um nicht völlig in der Versenkung zu verschwinden.

Eingeführt wurde der Film damals von Dr. Steinhäuser vom BUND, und an einen Satz von ihm kann ich mich noch sehr gut erinnern:

»Corona ist überall, Teflon ist überall.«

Ich habe zu Schulzeiten Chemie so früh wie möglich abgewählt, und will gar nicht erst so tun, als verstünde ich auch nur im Ansatz die Unterschiede zwischen Begriffen wie PFOA (Perflouroctansäure), PFC oder PFOS (letzteres ist ein Oberbegriff für über 4000 verschiedene »forever chemicals«, industriell erzeugte Substanzen, die von der Natur nicht abgebaut werden können). Dr. Steinhäuser ist da besser informiert und informierte uns über die tollen wasser- und ölabweisenden Eigenschaften von Teflon, aber auch über ähnliche Stoffe wie Outdoorkleidung oder auf Flughääfen benutzte Brandschäume.

Vergiftete Wahrheit (Todd Haynes)

© Tobis Film GmbH

Die Hauptfigur im Film ist der Wirtschaftsanwalt Robert Pilott (Mark Ruffalo), der von Farmern um Hilfe gerufen wird, auf deren Land er mal als Kind mit seiner Großmutter zu Besuch war. Wilbur und Jim Tennant sind davon überzeugt, dass vergrabener Chemiemüll zum gahäuften Verenden ihrer Kühe führen, doch der Pilott vertritt nicht nur keine Einzelpersonen, er ist sogar für die Chemiefirma DuPont tätig, die vermutlich irgendwie in den Fall verwickelt ist. Der Interessenkonflikt ist überdeutlich, aber der Fall lässt den Anwalt nicht wieder los, und so dreht sich die Handlung des Films zu einem nicht geringen Anteil um Pilotts Recherchen, die durch variierende Bezeichnungen, bei Verboten eingesetzte ähnliche Stoffe, mundtot gemachte frühere Angestellte und eine große Crew des Industriegiagnten reichlich in die Läge gezogen werden.

In anderen Kritiken würde der Zeitaspekt womöglich negativ gewertet, weil ein anderthalb Stunden langer Film, der die Hintergründe vereinfacht (um Zuschauer ohne Interesse für chemikalische Zusammenhänge - ich bin einer davon! - zu verschonen) vermutlich in der Spannungsdramaturgie gewinnen könnte. Doch in diesem Fall sind Halbwertzeiten und langsam dahinsiechende Lebewesen mit unaufhaltsam wachsenden Tumoren ein Begleitumstand, der die Brisanz des Themas nur unterstreicht...

Vergiftete Wahrheit (Todd Haynes)

© Tobis Film GmbH

Autopsien von Kühen wirken hier wie Horrorfilm-Passagen, der auf Jahrzehnte gedehnte Gerichtsstreit zeigt sich auch am Erscheinungsbild von Bilott und seiner Frau Sarah (Anne Hathaway ohne Effekte à la Les Misérables), aber der am längsten in Erinnerung bleibende Eindruck des Films ist der Einfluss auf die Menschen, den die Chemikalien hinterlassen (da hat Regisseur Todd Haynes - seine besten Filme sind Far from Heaven und Carol - einiges von Soderberghs Erin Brockovich gelernt - und noch ausgebaut).

Wilbur Tennant ist wahrlich kein Sympathieträger, aber wie er um sein Leben käpft, während Dutzende von Aktenschiebern von DuPont den Prozess in die Länge ziehen, das ist auch auf zwei Stunden verteilt sowohl spannend als auch sehr emotional.

Vergiftete Wahrheit (Todd Haynes)

© Tobis Film GmbH

Im Ansatz ähnlich, aber auch als einzelnes Szenenbild visuell sehr einprägsam (erinnerte mich in die Kofferberge in Schindler's List), ist die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen, die Bilott finden soll, als er von DuPont Akteneinsicht fordert - und die ihn schlichtweg unter unzähligen Papierstössen »begraben« (300 Kartons voll!).

Es gibt noch viele kleine Details, die bei diesem Film beeindruckend waren. Es geht nicht nur um den bekannten Kampf David gegen Goliath oder das Dauerthema, wie Profitgier die Natur zerstört und über Leichen geht (»doing something would put the viability of the product segment on the line.«) - am Rand werden viele kleine Punkte angesprochen, etwa die Frauenfeindlichkeit anno 1999, die schwer gebeutelte Ehe der Bilotts usw.

Vergiftete Wahrheit (Todd Haynes)

© Tobis Film GmbH

Ich bin seit fast zwanzig Jahren großer Fan von Mark Ruffalo (schon zu Zeiten von 13 going on 30, In the Cut oder Just like Heaven fiel er mir auf), und unterstützt von Tim Robbins, Victor Garber oder Bill Camp (der Wilbur-Darsteller ist einer jener oft übersehenen Charakterdarsteller), einer Geschichte, bei der das »based on a true story« mal nicht wie ein ausgelutschtes Klischee wirkt - und nicht zuletzt auch D.O.P. Ed Lachman (auch so ein zu selten besungener Künstler, der oft wie »nur« ein Handwerker behandelt wird), macht Dark Waters so ziemlich alles richtig, was man richtig machen kann.

Einzig die dräuend ominöse Musik wird hier und da etwas überzogen...