West Side Story
(Steven Spielberg)
Originaltitel: West Side Story, USA 2021, Buch: Tony Kushner, Lit. Vorlage: Arthur Laurents, Kamera: Janusz Kaminski, Schnitt: Sarah Broshar, Michael Kahn, Musik: Leonard Bernstein, Songtexte: Stephen Sondheim, Kostüme: Paul Tazewell, Choreographie: Justin Peck, Original-Choreographie und -Konzept: Jerome Robbins, Conductor: Gustavo Dudamel, Music Arranger; David Newman, Production Design: Adam Stockhausen, Supervising Art Direction: Deborah Jensen, Set Decoration: Rena DeAngelo, End Title Design: Steven Spielberg, Adam Stockhausen, mit Ansel Elgort (Tony), Rachel Zegler (María), Ariana DeBose (Anita), David Alvarez (Bernardo), Rita Moreno (Valentina), Mike Faist (Riff), Josh Andrés Rivera (Chino), Ana Isabelle (Rosalia), Brian d'Arcy James (Officer Krupke), Corey Stoll (Lieutenant Schrank), Iris Menas (Anybodys), David Aviles Morales (Aníbal), Paloma Garcia-Lee (Graziella), 156 Min., Kinostart: 9. Dezember 2021
Einer meiner Spießgesellen, die bei den Pressevorführungen meistens so in den ersten drei bis fünf Sitzreihen hocken, war etwas verdutzt darüber, wie langweilig ihm Steven Spielberg Neuverfilmung von West Side Story erschien. Im Ansatz konnte ich ihn insoweit informieren, dass man fast jede Shakespeare-Adaption hochspannend findet, wenn man die ganze Zeit den Shakespeare-Text mitdenkt. Und womöglich noch einen Stapel an früheren Verfilmungen.
Während meines Anglistik-Studiums habe ich nur weniges häufiger erforscht und analysiert als Shakespeare-Verfilmungen. Ob den Farbeinsatz bei Zeffirelli, Kaurismäkis eigentümliche Variation bei der »To Be Or Not To Be«-Szene, Laurence Oliviers Wendeltreppen-Kamerafahrt ins Hirn Hamlets, Captain Picards größtenteils aus Sonnet-Bruchstücken zusammengebastelte Ode an Lwaxanna Troi oder die Küchenpsychologie in Forbidden Planet. Und die Shakespeare-Brocken in Neil Gaimans Comic-Epos The Sandman habe ich hierbei noch gar nicht mitgezählt.
Wenn man bei West Side Story hier und da an »Do you bite your thumb at us, sir?«, »All are punishéd« oder »Two households, both alike in dignity« denkt oder beim Song Maria dessen Wurzeln erinnert, so ist auch eine verschenkte Chance immer von akademischem Interesse.
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Spielberg hat sich dem Realismus-Anspruch verschrieben, den einst auch Robert Wise ins Zentrum stellte. Wobei Spielberg sich (laut Presseheft) kaum darüber einkriegt, dass bei ihm die Sharks, die puertoricanische Jugendgang, tatsächlich durchgängig aus lateinamerikanischen und nicht durchgehend über dreißigjährigen Schauspielern besteht (auch, wenn die immerhin zwei dialog coaches brauchten, weil Kolumbianer eben doch anders sprechen als jemand aus Ecuador).
Wo Wise zum Teil tatsächlich »auf den Straßen« drehte (auch, wenn die abgesperrt gewesen werden), hat Spielberg natürlich das Problem, dass das heutige New York sich nicht mehr durch Cadillacs, Studebakers und quer über Häuserschluchten gezogene Wäscheleinen auszeichnet. Und so musste Adam Stockhausen, Wes Andersons Lieblings-Production-Designer, halt einiges neu kreieren, was immer schon etwas abgeranzt aussehen muss, aber in den schönsten Momenten des Films auch vom Filmmaterial und der Ausleuchtung her aussieht wie aus den späten 1950ern.
Inwieweit die Farbdramaturgie der Kostüme, die sich im Kern an Zeffirelli anlehnt (die Sharks sind gelb bis orange, die kaukasischen Jets eher türkis), irgendetwas mit Realismus zu tun hat, kann zu Streitgesprächen führen, aber immerhin gelingt es Spielberg, sich hier und da etwas von der Theatralik des Stoffs zu entfernen. Und stattdessen einer Spielberg-typischen eigenen Theatralik zu frönen. Meine Lieblings-Szene ist hier ein im größten Gekloppe auf einen Zaun gekletterter Kämpfer, der von der gegnerischen Gruppe zum Sturz genötigt wird, wobei er direkt »in die Kamera« fällt, ehe die anderen Tänzer ihn auffangen. Dass er zuvor auf den Zaun kommen musste, wobei die Bemühungen der anderen, ihn davon abzuhalten, schon etwas hilflos choreographisch einstudiert wirkten, vergisst man hier schnell.
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Bei Spielbergs Farbeinsatz ganz interessant ist die eine Szene, in der Juliet - pardon, María! ein blaues Kleid trägt, als hätte sie sich bereits für die andere Fraktion entschieden. Man mag mir verzeihen, dass ich da jetzt nicht alle früheren Versionen durchgegangen bin, um sicherzugehen, dass es dies nicht schon mal gab. Auf jeden Fall ein neuer Ansatz ist der auffällige Einsatz von Flares (ihr wisst schon, diese mittlerweile gezielt eingesetzten Lichtbrechungen, wie man sie von Spielberg-Epigone J.J. Abrams kennt...) und einer besonderen Beleuchtungs-Farbigkeit, wenn es um das Thema Liebe geht. Also unter anderem beim »Ball« oder bei der Möchtegern-Hochzeit. Besonders interessant ist hier, dass Spielberg dieses Stilmittel auch bei einigen Todes-Szenen einsetzt, als läge ihm daran, die überhöhte Todes-Sehnsucht des Stoffs (»Kill me, Chino!« --- »Drunk all, and left no friendly drop to help me after?«) besonders zu betonen. Über einen Aspekt wie diesen kann man vortrefflich diskutieren oder alle entsprechenden Szenen im Detail vergleichen.
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Bei allem Akademiker-Enthusiasmus muss ich aber zugeben, dass ich spätestens nach einer Stunde auch nicht mehr sah, warum diese Version des Stoffs eine so notwendige Ergänzung darstellen soll. Ansel Elgort hat zwar inzwischen sein babyface aus The Fault in Our Stars oder Baby Driver abgelegt, aber sein Gesang ist jetzt auch nicht das Nonplusultra an musikalischer Unterhaltung. Und von den übrigen jungen Darstellern ist es fast nur der schon durch seine besondere Physiognomie auffallende Mike Faist (Riff, bei Shakespeare Mercutio), den man möglichst bald mal wieder auf der Kinoleinwand sehen möchte.
Die junge María (Rachel Zegler, bei Disney schon als nächstes Schneewittchen vorgemerkt) ist zwar eine klassische Schönheit mit jugendlichem Enthusiasmus, aber irgendwie merkt man bei ihren Auftritten, dass Spielberg wahrscheinliche alle Kniffe kennt, wie man Liebe schön cineastisch visualisieren kann, aber in seinem Werk spielt dieses Thema auch nicht unbedingt eine übergeordnete Rolle. Ein bisschen wie bei Eliots beschwipstem hollywood-inspiriertem Tanz mit der jungen Erika Eleniak in E.T. - The Extraterrestrial. Das Herz fehlt.
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Wo Spielberg - ziemlich überraschend - all sein Herz hineinsteckt, ist der Auftritt von Rita Moreno, die vor sechzig Jahren die Anita spielte, am 11. Dezember übrigens 90 wird und zum illustren Kreise der EGOTs gehört, also jenen Unterhaltungskünstlern, die bereits mit einem Emmy, Grammy, Oscar und Tony ausgezeichnet wurden. Ganz genau genommen waren es hier sogar zwei Emmys.
Moreno erhält die neu dazuerfundene Figur Valentina (bei Wise gehörte der Drugstore noch einem älteren Herrn, ich bin mir nicht sicher, ob man den als easter egg in eine alte Fotografie hineingebastelt hat), die auch einen Song singen darf, der eigentlich ein Ballettstück im Originalmusical war. Und sie liefert fast im Alleingang eine Rutsche Metaebene: Eine Szene, die schon in der alten Fassung ziemlich unmissverständlich eine bevorstehende Vergewaltigung impliziert, wird bei Spielberg noch deutlicher. Was man auf youtube immens verharmlosend »The Montagues Mock the Nurse« nennt, bekommt hier noch einen Prolog, bei dem die »Jet Girls«, die ungeachtet ihrer Verachtung aller Puertoricaner plötzlich so etwas wie eine weibliche Solidarität entwickeln, einfach mal ausgesperrt werden, damit die Kerle mit der jungen Anita »allein sein können«, wie der in diesem Zusammenhang ziemlich widerliche Euphemismus lautet.
Hier taucht dann Morena als Valentina auf, rettet quasi die Frau in jener Rolle, die sie damals spielen durfte, benennt unmissverständlich das Problem (»I've watched you grow up and you have grown into rapists.«), und als wäre diese Wortwahl aus damaliger Sicht nicht schon undenkbar genug, prägt ein Satz diesen Film, wie man ihn nie in einem Spielberg-Film zu hören geglaubt hätte: »You disgusting pieces of shit«. Starker Tobak.
Das hört sich an, als könnte man den Stoff kaum zeitgenössischer gestalten (#MeToo), aber an anderer Stelle gibt es einen schwarzen Waffenhändler, der in seinem rassistischen Potential nur durch einen Alibi-Weißen, den Spielberg daneben positioniert, etwas abgemindert wird. An anderer Stelle dürfen auch mal zwei exemplarische Vertreter der ansonsten ausgesparten Ethnie auf der Straße mittanzen, aber man hat sich halt festgelegt, welche Missstände man anprangern will und welche eher ignorieren.
Die alte Version der West Side Story besitze ich noch aus Studienzeiten auf VHS - aber dafür den alten Recorder anschließen etc. ist natürlich auch eine Arbeit, die man nicht unbedingt ersehnt. Also schaute ich erstmal, ob ich den Vergleich zweier zentraler Szenen nicht auch durch Buchwissen »ersetzen« könne. Lars-Olav Beier kommt in seinem Buch über Robert Wise (Der unbestechliche Blick, Berlin 1996) auf solche Handlungsdetails nicht recht zu sprechen, aber in Hans-Jürgen Kubiaks »Die Oscar-Filme« gibt es kurze Inhaltsangaben, wo ich nachlesen konnte, wie es zum Ableben von Tony kommt.*
*Wer sich hier beschwert, ich spoilere wichtige Handlungselemente des Films, den weise ich auf ein eindrückliches Kinoerlebnis im Hannoveraner Hochhauskino hin, wo bei Baz Luhrmanns Adaption von William Shakespeare's Romeo + Juliet eine junge Zuschauerin (Teil einer größeren Gruppe von frühen Leonardo-Di-Caprio-Fans) all ihren Gram in einem Klagelied verbalisierte: »Warum hat mir denn keiner gesagt, dass der stirbt?« ... Shakespeare-Tragödien wie Romeo & Juliet, Hamlet, Othello, Macbeth oder King Lear zeichnen sich dadurch aus, dass ein nicht geringer Teil des Personals am Ende des Stücks auf der Bühne liegen bleibt oder vorher weggetragen wurde.
»Tony taucht für einige Zeit unter. Als er von dem Gerücht hört, Maria sei tot, kommt er aus seinem Versteck. Nach kurzer Suche findet er Maria. Er läuft über die Straße auf sie zu und wird von einer nicht erkennbaren Gestalt erschossen.« (Hans-Jürgen Kubiak, Die Oscar-Filme, Frankfurt am Main, 1985)
Hmm... wenn man diese Beschreibung mit der Spielberg-Szene vergleicht, will man schon seinen eigenen Vergleich anstellen, und wie sich schnell herausstellt, muss Herr Kubiak wohl im entscheidenden Moment einmal zu lang geblinzelt haben, denn die Identität des Schützen ist schon erstaunlich klar. Spielberg hält sich an die Vorlage, gestaltet nur das Timing dramatischer (daran rackert sich fast jede Romeo & Juliet-Verfilmung ab), und wo Robert Wise die Topographie der Szene durch einen fragmentarischen Schnitt unklar gestaltet, könnte der »Lauf über die Straße« bei Spielberg kaum geradliniger verlaufen. Was ich übrigens positiv werte.
Die andere wichtige Szene aus dem Film von 1961, die ich mir unbedingt auf youtube anschauen musste (da findet man den gesamten Film in 19 Teilen oder so), ist natürlich die »Vergewaltigung«: in beiden Version verliert Anita durch die sie umringenden jungen Kerle Teile ihrer Bekleidung, wird erst herumgestoßen, landet dann auf dem Fußboden und die Kerle beugen sich in unterschiedlicher Deutlichkeit herunter zu ihr. Valentinas Reaktion und die Frauen-Solidarität habe ich schon geschildert, im alten Film ist nur Anybodys, das Mädchen, das gern ein vollwertiges Bandmitglied wäre, aber nur verspottet wird, dabei. Und sie findet sich ein wenig zu sehr in ihrer Männerrolle zurecht. Dann taucht nach einem kurzen Moment, der nicht elliptisch wirkt und somit die Situation verharmlost, der alte Kioskbetreiber auf und fragt nur »What are you doing here?« - damals durfte man halt bestimmte brenzlige Themen nicht zu deutlich benennen.
Anita ist aber dennoch traumatisiert und sorgt in wahrer Shakespeare-Manier für die folgenden Verstrickungen, die wohl die deutlichste Abkehr vom Originaltext bedeuten. Aber Anitas Äußerung, dass sie die Sharks-Mitglieder am liebsten anspucken würde (»Don't touch me!«) thematisiert das soeben geschehene und kulminiert in ein paar achtlos hingeworfenen Sätzen, die die angesammelte Pein dieser Frau wie Galle herausrotzen. Mit der Witzfigur der Nurse bei Shakespeare hat das nicht mehr viel zu tun und Rita Moreno hat für diese vielleicht tragischste Rolle des Films ihren Oscar durchaus verdient.
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Spielbergs Ehrerweisung an Moreno ist definitiv die eine unumstößliche Existenzberechtigung für das Remake, nur ist zu befürchten, dass ein Großteil der Zuschauenden sich gar nicht so eindringlich mit dem Film befassen wird, um dies überhaupt wahrzunehmen...