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28. September 2022
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Wir könnten genauso gut tot sein (Natalia Sinelnikova)


Wir könnten
genauso gut
tot sein
(Natalia Sinelnikova)

Originaltitel: We might as well be dead, Deutschland, Polen 2022, Buch: Viktor Gallandi, Natalia Sinelnikova, Kamera: Jan Mayntz, Schnitt: Evelyn Rack, Musik: Michael Kondaurow, Maxi Menot, Song: Safe in here (Anna Kühlein), Production Design: Elisabeth Kozerski, Kostüme: Marylin Rammert, mit Ioana Iacob (Anna Wilczynska), Pola Geiger (Iris Anna Wilczynska), Jörg Schüttauf (Gerti Posner), Siir Eloglu (Ursel), Susanne Wuest (Erika Drescher), Knut Berger (Martin Drescher), Moritz Jahn (Wolfram Mantel), Mina Özlep Sagdic (Zeynep), Cristin König (Frau Richards), Jörg Pose (Herr Richards), Felix Jordan (Niklas Drescher), Ludwig Brix (Golfspieler), Lara-Sophie Milagro (Vertreterin Nicole), Rita Feldmeyer (Vertreterin Wiebke), 93 Min., Kinostart: 29. September 2022

Die mit sieben Jahren von St. Petersburg nach Deutschland immigrierte Natalia Sinelnikova lebte gerade in jungen Jahren häufig in Hochhäusern, und dieser Ort hat sie immer fasziniert. Entsprechend wählte sie nach ihrem Abschluss des Regiestudiums an der HFF Konrad Wolf auch dieses Sujet für ihren ersten abendfüllenden Spielfilm. Das Projekt verbindet hohe Ambitionen mit einem überschaubaren Budget und bietet eine anspruchsvolle Gesellschafts-Metapher. In diesem Hochhaus findet man viele Gruppen, die auch die deutsche Gesellschaft ausmachen, quasi minimalisiert auf einzelne Figuren. Alles wirkt runtergekocht, ist aber dennoch komplex in den Zusammenhängen und Synergien.

Ein naheliegendes Problem des Films ist die mangelnde Erfahrung der Regisseurin. Man erkennt viele gute Ansätze, aber bei der Realisierung stieß sie offenbar auf Hindernisse, mit denen sie noch nicht vertraut ist. Ob sich diese Vertrautheit nach drei oder zwanzig Regiearbeiten einstellt, kann ich auch nicht bestimmen, aber dem Film geht dadurch eine gewisse Glaubhaftigkeit abhanden, die es dem Publikum erschwert, voll in die Geschichte einzusteigen.

Ich will das mal gleich mit der Einstiegsszene belegen, die eine Minimal-Familie zeigt, wie sie sich in Richtung des allein auf weiter Flur stehenden Hochhauses bewegt. Immer wieder drehen sie sich ängstlich um, sie vermuten eine Gefahr oder werden wohl verfolgt. Die Gefahr bleibt undefiniert, was vom Drehbuch so beabsichtigt ist. Doch die Protagonisten, die zu Beginn des Films noch wie bessere Statisten agieren, also quasi stumm, bleiben dem Publikum fremd (man befindet sich nicht mit ihnen in dieser Situation, sondern betrachtet von außen), und ihr Verhalten wirkte auf mich wie adäquat ausgeführte Regieanweisungen, aber nicht wie eine stringent nachvollziehbare Reaktion auf das Umfeld.

Wir könnten genauso gut tot sein (Natalia Sinelnikova)

© 2022 eksystent Filmverleih

Die ganze Metapherhaftigkeit des Films musste sich mir als Zuschauer auch erst offenbaren. Okay, die wollen von diesem Hochhaus, wie von einem fremden Land, aufgenommen werden, und werden einer Befragung unterzogen, wie ich sie aus dem Film Die Schweizermacher (dort ironisch gebrochen) kenne. Dass die Frau, die sie befragt, und der gegebenüber sie sich auch etwas entblößen, weil sie auf ihre emotionale Reaktion hoffen, die Hauptfigur dieses Films ist, weiß man auch nicht augenblicklich (wenn man nicht zufällig vor allem wegen der Hauptdarstellerin in den Film gegangen ist).

Apropos bekannte Darsteller: Ich hatte einen gewissen Vorteil, mich mit den exemplarischen Bewohnern langsam vertraut zu machen, weil ich neben dem aktuell im deutschen Kino etwas überrepräsentierten Jörg Schüttauf (Leave no Trace, Das Mädchen mit den goldenen Händen) etwa Susanne Wuest (Max Schmeling, Leave no Trace) kannte und ungeachtet der eigentlich löblichen Herangehensweise der Filmemacher:innen, nicht jede neue Figur mit der Nennung ihres Namens einzuführen, konnte ich mich so an meinen Einblicken (wenn ich einen Film für eine Kritik sichte, mache ich mir gerne Notizen zu den Rollennamen, damit ich später anhand dieser auch die Darsteller identifizieren kann) an der Handlung entlang hangeln.

Das ist nicht die normale Art einen Film zu sehen. Normale Menschen vergessen einmal genannte Rollennamen auch schnell und kümmern sich nicht darum. Im Grunde bin ich so ein Streberschwein, der den Lehrerhinweis »Dazu wird es einen Test geben« verinnerlicht, während andere Zuschauer anders (vielleicht auch weniger) wahrnehmen, und sich nicht darum scheren, wie jetzt der Hausmeister mit Nachnamen hieß.

Wir könnten genauso gut tot sein (Natalia Sinelnikova)

© 2022 eksystent Filmverleih

In der Metapher des Films geht es viel um gesellschaftliche Ängste. Das Hochhaus steht quasi für Deutschland, entsprechend des Backgrounds der Regisseurin nimmt man die Perspektive von »Zugereisten« ein, die nicht fehlerfrei die vorherrschende Sprache beherrschen, aber den Vorteil haben, sich nicht augenblicklich den Eigenarten der Ureinwohner anzugleichen, sondern sie auch mal kritisch hinterfragen. Hier und da stellt sich auch die Frage, wie viel »Integration« notwendig ist, um dazu zu gehören, und ab wann man seine Identität dafür verrät, zum akzeptierten Bestandteil dieser Gesellchaft zu gehören.

Die ganze Hochhaus-Situation hat mich sehr an High-Rise erinnert, wobei ich zu den Leuten gehöre, die schon in den 1980ern die Romanvorlage von James Graham Ballard gelesen habe (und vorm Sichten der Verfilmung habe ich's nochmal gelesen). Nur bleibt Wir könnten genauso gut tot sein viel ernster in seinem Tonfall. Auch die Patrouille gehenden Grüppchen mit den Golfschlägern als Waffe erinnerten mich stark an Hanekes Funny Games (beide Versionen), doch man behält hier auf der Übertragungsebene immer im Hinterkopf, dass die Menschen im feinen weißen Elitesport-Zwirn für die möchtegern-bürgerlichen rechten Bewegungen stehen, die in unserem Land mit Sicherheit werben, aber eigentlich immer nur Angst schüren.

Wir könnten genauso gut tot sein (Natalia Sinelnikova)

© 2022 eksystent Filmverleih

So sehr mich die Metapher faszinierte, konnte ich die erzählte Handlung jedoch nicht für sich stehend überzeugen. Zwar gelingt es der stimmigen Geschichte um die Security-Frau Anna, einen in den Bann zu ziehen, und auch die Neurose ihrer zurückgezogen lebenden Tochter Iris und die Probleme der Familienfreundin Zeynep sind interessant, doch geschieht dies immer im Rahmen der hübsch komponierten sozialen Metapher, jedes Detail steht für ein größeres Phänomen, die dargestellten Personen können als Einzelschicksale keine Identifikation mit den Protagonistinnen erwecken.

Das klappte bei High-Rise zwar auch nicht, aber man kam diesem Ziel, das für »normale« Zuschauer nicht ganz ohne Bedeutung ist, zumindest deutlich näher.

Wir könnten genauso gut tot sein (Natalia Sinelnikova)

© 2022 eksystent Filmverleih

Wir könnten genauso gut tot sein ist ein wenig wie sein etwas überzogener Titel: Mehr ein im Ansatz durchdachter Ideenkomplex als ein faszinierender Einblick in eine stimmige etwas futuristische Gesellschaft. Und jeder Zuschauer kann für sich entscheiden, was er oder sie von einem Film erwartet. Ich persönlich war schon positiv davon überrascht, wie eine erzählerische Volte zum Schluss die von mir immer geschätzte closure erreichen konnte, für große Teile des real existenten Publikums könnte es kaum etwas geben, was für sie von geringerem Interesse sein könnte, die stehen dann durchweg quasi »außerhalb« des Films wie Zuschauer bei einem Autounfall, um auf einen anderen Ballard-Stoff anzuspielen.

Ambitioniert, aber noch etwas wackelig...