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4. Januar 2024
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Der Junge und der Reiher (Hayao Miyazaki)


Der Junge und der Reiher
(Hayao Miyazaki)

Originaltitel: Kimitachi wa dô ikiru ka, Japan 2023, Buch: Hayao Miyazaki, Kamera: Atsushi Okui, Schnitt: Rie Matsubara, Takeshi Seyama, Akane Shiraishi, Musik: Joe Hisaishi, Art Direction: Yôji Takeshige, mit den Originalstimmen von Soma Santoki (Mahito Maki), Masaki Suda (Graureiher), Kou Shibasaki (Kiriko), Aimyon (Lady Himi), Yoshino Kimura (Natsuko), Takuya Kimura (Shoichi Maki), Keiko Takeshita (1. Magd, Izumi), Jun Fubuki (2. Magd, Utako), Sawako Agawa (3. Magd, Eriko), Karen Takizawa (Wara Wara), Shinobu Ôtake (4. Magd, Aiko), Jun Kunimura (König der Sittiche), Kaoru Kobayashi (Alter Pelikan), Shôhei Hino (Großonkel), 124 Min., Kinostart: 4. Januar 2024

Der japanische Animations-Großmeister Hayao Miyazaki (Mein Nachbar Totoro, Kikis kleiner Lieferservice) hat in seiner langen Karriere als verantwortlicher Regisseur immer Themen gewählt, die ihm besonders am Herzen lagen. Vergleichsweise früh thematisierte er Umweltverschmutzung und des Menschen Raubbau an der Natur, gern im Kontrast zu einer mythisch überhöhten, magischen Tier- und Pflanzenwelt. Damit gelang ihm auch der internationale Durchbruch, der sich plötzlich nicht mehr nur auf das seinerzeit noch überschaubare Anime-Fandom beschränkte (Prinzessin Mononoke, Chihiros Reise ins Zauberland). Ähnlich wie beim back catalogue der Disney-Studios nutzte auch das Studio Ghibli zu DVD-Zeiten die Verzauberung durch frühe Filme, die nach der stiefmütterlichen Erstverwertung im Westen umso spektakulärer von einem neuen Publikum »wiederentdeckt« werden konnten, während Miyazaki und seine Mitstreiter trotz der langen Produktionszeiten der zu großen Teilen klassisch animierten neuen Werke den verstärkten Fokus auf die Disney und Pixar gleichwertigen Ghibli-Filme (Das wandelnde Schloss, Ponyo - Das große Abenteuer am Meer) genossen.

Im Presseheft zu Der Junge und der Reiher versucht man Miyazakis Karriere noch etwas zu sezieren, analysiert (im Presseheft-Stil) die Bedeutung seiner Wettbewerbs-Teilnahmen bei der Berlinale, und weiß zu jedem Film etwas zum Hintergrund beizutragen. Miyazakis letzten Film Wenn der Wind sich hebt sieht man hier als »leidenschaftliches Plädoyer für Frieden und Pazifismus«, was per se nicht falsch ist, aber doch die nicht geringe Kritik an dem Film völlig außer Acht lässt. Denn Miyazakis Interessengebiete sind auch nicht ohne Fehl, sein Faible für die Luftfahrt (Porco Rosso) heroisiert auch gerne mal militaristische Trends (selbst, wenn er diese hinterfragt) und auch seine Begeisterung für junge ProtagonistInnen kann man mit einem Familien-Zielpublikum erklären, kann man aber hier und da auch kritisieren (selbst, wenn er im Vergleich zu gewissen japanischen Fetischen wirklich harmlos wirkt).

Der Junge und der Reiher (Hayao Miyazaki)

© Studio Ghibli 2023

Genug über seine (filmische) Vergangenheit, nachdem Miyazaki mit der Veröffentlichung von Wenn der Wind sich hebt mal wieder seinen Rücktritt verkündete, und es dem Studio finanziell auch nicht mehr so gut ging wie in seinen besten Zeiten, arbeitete der Regisseur mit Jahrgang 1941 publicity-arm an einem weiteren Film, der nun auch etwa zehn Jahre nach seinem Vorgänger in die Kinos kommt. Und um es vorwegzunehmen: diesmal handelt es sich um das reife Alterswerk, dass man bei Wenn der Wind sich hebt noch vermisste.

Nie zuvor verarbeitete Miyazaki so viele autobiographische Einflüsse in einem seiner Filme. Das fängt schon gleich zu Beginn des Films an, der davon erzählt, wie der junge Mahito seine Mutter in einem Brand verliert. Die Figur des Jungen passt nicht genau zu Miyazakis möglichen Kindheitserinnerungen an den zweiten Weltkrieg, aber die schemenhafte Erinnerung an die Ereignisse, die auch den weiteren Film prägen, scheinen eher zu einem Vorschulkind zu passen, als zu der wohl elfjährigen Filmfigur, die außerordentlich scheu auf die quasi im Schnitt dem Film zugeführte Stiefmutter Natsuko reagiert, die, wie es so putzig im Presseheft heißt, »zufällig auch die jüngere Schwester seiner verstorbenen Mutter ist« und ihr extrem ähnelt. Ich sag mal so, die Vaterfigur wächst einem aufgrund solcher »Zufälle« nicht unbedingt schnell ans Herz...

Der Junge und der Reiher (Hayao Miyazaki)

© Studio Ghibli 2023

Ich muss zugeben, dass ich zu Beginn des Films einiges nicht gleich verstanden habe, wenn etwa ein naheliegender Zeitsprung zwischen dem brennenden Krankenhaus und dem fern der Stadt liegenden Anwesen, in das die Familie dann einzieht, erklärt wird, wie viel Zeit vergangen ist, dann habe ich es nicht mitbekommen. Okay, die schnell ausgetauschte Stiefmutter ist bereits schwanger, bei allen Regeln des Anstands sollte also ein Jahr oder so vergangen sein, aber der Zustand der Erinnerungsfetzen Mahitos lassen mich eher auf mehrere Jahre schließen. Im Presseheft macht man es sich leicht und behauptet schlichtweg, der Junge habe seine Mutter im Alter von elf Jahren verloren, und der »Elfjährige« ziehe dann aufs Land. Das kann sogar einer offiziellen Synopsis des Films entlehnt sein, und ich habe auch keinen riesigen Unterschied in der Animation des Kindes wahrgenommen, aber irgendwie erscheint mir das alles diffus. Was aber dem Film nicht eigentlich schadet. Ich glaube, selbst, wenn ich den ohne Untertitel gesehen hätte, die wichtigen Prozesse innerhalb der Handlung hätte man auch intuitiv erkannt.

Der Graureiher, der sich einen prominenten Platz im deutschen Filmtitel gesichert hat (der japanische Originaltitel ist weitaus unklarer und von einem Roman stibitzt, der aber gar nicht verfilmt wurde) wird sehr effektiv eingeführt in den Film. Abermals lässt Miyazaki die Grenzen zwischen der (schon etwas skurrilen) Realität und einer mythischen »Traumwelt« verschmelzen, und der neugierige Reiher scheint von Anfang an mit dem Jungen kommunizieren zu wollen, aber erst, wenn Mahito sich ermüdet auf sein Bett legt, Joe Hisaishis vertrautes Klavier mit einem »ping ping ping« ertönt, der Reiher sich ans Fenster wagt und reinschaut, während die Stiefmutter von außen (wie eine Verlängerung des Klaviers) an die Tür klopft und der Reiher wieder eilig verschwindet ... erst an dieser Stelle erkennt man, wie virtuos Miyazaki hier wieder die filmischen Mittel einzusetzen weiß.

Das sind die Momente, wo selbst Ungläubige begreifen werden, dass der Animationsfilm keinesfalls zweitrangig innerhalb des Mediums einzustufen ist. Man muss nur wissen, wie man etwas daraus macht. Statt sich auf einem jungen Zielpublikum auszuruhen, kann man auch dem etwas bieten, was auch Erwachsene verzaubert.

Der Junge und der Reiher (Hayao Miyazaki)

© Studio Ghibli 2023

Die Handlung des Films ist, wie gesagt, auch intuitiv verständlich. Aber ungeachtet dessen lädt Miyazakis Alterswerk auch dazu ein, interpretiert und analysiert zu werden. Nur ist eine Startkritik dazu nicht immer der beste Ort, denn man will den Zuschauenden ja auch die Chance geben, den Film mit ihren eigenen Augen zu erfahren.

Wer ein Faible für Miyazaki-Filme hat, wird sich auch in diesen verlieben. Der fantasievolle Figuren-Reichtum schließt zwar an früheren Filmen an (es gibt wieder seltsam verhutzelte Vetteln und kleine Fantasiewesen, die Kinderherzen zum Schmelzen bringen), Aber Miyazaki hat immer noch reichlich neue Ideen. Das Vogelthema zieht sich auch durch den Film, so gibt es seltsam tollpatschige, aber dennoch bedrohliche aufrecht gehende bunte Sittiche, angeführt von einem Sittich-König, der so ziemlich das selbe Kostüm trägt wie David Gahan im Video zu »Personal Jesus«.

Der Junge und der Reiher (Hayao Miyazaki)

© Studio Ghibli 2023

Eine andere Vogelschar, die Pelikane, tritt hier auf wie eine Horrorvision des Klapperstorchs, und wenn man im Hinterkopf behält, dass Mutter-Kind-Beziehungen und das Yin-und-Yang-Mantra, dass der Tod auch zum Leben gehört, zu den zentralen Themen des Films gehören, so wirkt das ungeheuer sinnig. Entsprechend gilt das auch für die Warawaras, die sowohl den Tod als auch das Leben symbolisieren.

Ich bin kein Experte für Kindererziehung, aber trotz des Themas Tod, das manche Eltern gern totschweigen, ist der Film auch kindertauglich. Schon aufgrund der Filmlänge nicht für Vierjährige, aber Kinder mit ein bisschen Kino- und Lebenserfahrung werden es schätzen, wenn man ihnen mal einen Film gönnt, der nicht ganz so aggressiv in den Medien umworben wirbt.