Die Gleichung
ihres Lebens
(Anna Novion)
Originaltitel: Le Théoréme de Marguerite, Frankreich / Schweiz 2023, Buch: Anna Novion, Mathieu Robin, Marie-Stéphane Imbert, Agnès Feuvre, Drehbuch-Konsultanten: Philippe Paumier, Sara Wikler, Adaption und Dialoge: Mathieu Robin, Anna Novion, Kamera: Jacques Girault, Schnitt: Anne Souriau, Musik: Pascal Bideau, Kostüme: Clara René, Production Design: Anne-Sophie Delseries, Beraterin für Mathematik: Ariane Mézard, mit Ella Rumpf (Marguerite Hoffmann), Jean-Pierre Darroussin (Laurent Werner), Julien Frison (Lucas Savelli), Sonia Bonny (Noa), Clotilde Courau (Suzanne), Xiaoxing Cheng (Monsieur Kong), Idir Azougli (Yanis), Karl Ruben »Rubix« Noel (Tänzer Chris), Camille de Sablet (La formatrice), Ava Baya (Freundin von Chris), Esdras Registe (Kollege), Leïla Muse (Journalistin), 112 Min., Kinostart: 27. Juni 2024
Marguerite (die in der Schweiz zweisprachig aufgewachsene Ella Rumpf, bekannt u.a. aus Chrieg, Jakob Lass' Tiger Girl oder Die göttliche Ordnung, aktuell auch in der Streaming-Serie Tokyo Vice) ist eine aufstrebende Mathematikstudentin, die seit längerem daran arbeitet, die »Goldbachsche Vermutung« zu beweisen. Anhand des Wissens aus dem Film geht es dabei darum, eine Gesetzmäßigkeit nachzuweisen, warum man eine gerade Zahl in einer gewissen Häufigkeit als Summe einer Addition zweier verschiedener Primzahlen erzeugen kann. Kein Wort verstanden? Ich gebe mal die (selbst erstellten) Werte für die Zahlen von 8 bis 58. Nehmt es nicht als Abschreckung, im Film muss man nicht mitrechnen und man kann der eigentlichen Handlung ohne das geringste Mathematikverständnis folgen.
Aber wenn man eine gewisse Affinität zur Mathematik hat, kann man anhand dieser Zahlenkolonnen und der jeweils zu Lücken führenden Vielfachen von 3, 5, 7 usw. schnell erkennen, wie aus einer kleinen Fingerspielerei sehr schnell ein immens komplexes Wechselspiel erwächst. Rechts am Ende jeder Zeile in grün auf schwarz sieht man jeweils, wie viele aus verschiedenen Primzahlen bestehende Additionen es für die jeweilige Zahl gibt. Und in dieser Reihe 1 1 1 1 2 2 2 2 3 2 2 3 2 3 4 1 3 4 3 3 5 4 3 6 4 4 usw. ist die Gesetzmäßigkeit versteckt, die dann auch noch zu beweisen ist. Ich war im Mathe-Leistungskurs und sogar in der Mathe-AG, aber ich bin da so was von raus. Und 58 ist ja nicht gerade eine so riesige Zahl, dass ich sie nicht mehr fassen kann...
Okay, wie schon gesagt: Vergesst den Mathe-Kram am besten gleich wieder. Man kann ja bei der Big Bang Theory auch ganz gut mitlachen, ohne sich mit der String-Theorie beschäftigt zu haben. Oder (so wurde mir gesagt) ohne Experte für Star Trek zu sein.
Marguerite ist, wie so oft bei besonders intelligenten fiktiven Figuren, etwas weltfremd. Ihre Leidenschaft ist die Mathematik, dass sie in Hausschuhen an der Uni unterwegs ist, lässt sie auffallen - aber ob sie jetzt deswegen gemobbt wird oder nicht, ist dem Film keine eigene Thematik wert. Eher geht es um ihr Beziehung zu ihrem Doktorvater (Jean-Pierre Darroussin, als etablierter Darsteller quasi der »Anker« des Films), der kurz vor einem wichtigen Seminarauftritt Marguerites mit einem frisch aus Oxford angereisten »Konkurrenten« kommt. Lucas (Julien Frison) ist das Gegenstück zu Marguerite: ähnlich intelligent, noch ambitionierter - aber ihm ist das Universitätsleben keine Bürde, er scheint bereits kurz nach seinem Umzug diverse Freunde zu haben und engagiert sich nebenbei musikalisch.
Foto: Michaël Crotto © TS Productions
Marguerite hat auch ihre Schwachpunkte wie die sie fordernde Mutter (Clotilde Courau), die sie am liebsten auf Abstand hält (und nicht immer auf dem Laufenden, was ihre akademischen Fortschritte und Rückschläge angeht). Schon früh im Film gibt es einen Knackpunkt, an dem Marguerite aufgrund eines kleinen Fehlers und unzureichender Charakterstärke einen Großteil ihres vorherigen Lebens hinter sich lässt. Enttäuscht vom Doktorvater, brüskiert von Julien (wobei die beiden Herren sich aus ihrer Sicht rein »rein wissenschaftlich« verhalten haben) wirft sie die Mathematik hin, sucht sich einen neuen Job, zieht mit der Tänzerin Noa (Sonia Bonny), die kaum unterschiedlicher sein könnte, zusammen, und erforscht etwa ihre bisher vernachlässigte Sexualität.
Gerade in meiner Nacherzählung erkenne ich sehr gut, wie viele Volten der Film innerhalb kurzer Zeit schlägt, und Ella Rumpf muss im Zentrum alles zusammenhalten, wobei man sich als Zuschauer nicht nur nicht immer mit ihr identifizieren kann, sondern auch nicht jede ihrer Entscheidungen nachvollziehen kann. Aber, so mein eingeschränkter Einblick in das Kino der 20er, das sind in den Zeiten der Diversität, wo jeder die eigene Einzigartigkeit feiert, keine Schwächen, sondern Tugenden.
Foto: Michaël Crotto © TS Productions
Als jemand, der sich auch mal mit dem Mah-Jongg-Spiel beschäftigte, dabei aber eher ans Rommé-Kartenspiel erinnert wurde als an profunde mathematische Hintergrundbewegungen zwischen Kartenzählen und Statistik-Fachwissen, konnte ich mich mit Marguerites etwas zu simplen Einstieg in eine asiatisch geprägte Halbwelt durchaus anfreunden, doch all jene Handlungsfäden aus Marguerites »neuem« Leben driften etwas schnell in den Hintergrund ab, während die Mathematik plötzlich doch wieder ins Zentrum ihres Lebens rutscht. Und Lucas, dem sie zuletzt noch im Vorlesungssaal eine scheuerte.
Ich habe Respekt vor der Entscheidung der Regisseurin, die mathematischen Vorgänge (bei denen ich zu keinem Zeitpunkt mitkam) von einer eigens engagierten Expertin möglichst authentisch zu gestalten, was sich sogar auf die darstellerischen Leistungen der beiden jungen Mathe-Asse ausdehnt.
Foto: Michaël Crotto © TS Productions
Aber zumindest an einer Stelle hatte ich das Gefühl, dass die Untertitelung (mit bekannt geringem Budget) damit nicht mehr mitkam. Meine Französisch-Kenntnisse sind rudimentär, aber als so was wie »strictement positive« gesagt wurde, erschein mir die Übersetzung »echt größer als Null« nicht so richtig dem mathematischen Jargon entsprechend (aber die Experten dürfen mich gern korrigieren).
Ich verrenne mich schon wieder in Mathe-Kram, aber im letzten Drittel des Films war bei den Mathe-Anteilen am wichtigsten, dass sie durch Farben und unterschiedliche Mentalitäten auf der großen Tafel quasi die beiden Hauptfiguren in Formeln verwandelten. Auch, wenn ich aus diesen Formeln nie folgen konnte, fand ich das eine interessante visuelle Umsetzung (die in den unterschiedlichen Entwicklungsphasen von Marguerite immer eine Rolle spielten).
Foto: Michaël Crotto © TS Productions
Die Ambitionen kommen manchmal nicht gegen die konventionellen Regeln des Filmemachens an, aber Ella Rumpf macht den Film sehenswert, und wer auf eine sperrige Figur in einem manchmal zu schnell fortschreitenden Narrativ einlassen kann, der sieht vielleicht auch hinweg über jene Möglichkeiten, die dieser Film leider im Karopapier versanden lässt.
Egal, ob man zu denen gehört, die »ohne Mathe nicht leben können«. Oder zu denen, die begriffen haben, dass »die Mathematik nicht von Gefühlen abhängen darf«. Und das schreibe ich im vollen Wissen, dass ca. 86% der Weltbevölkerung mit beiden Statements wenig anfangen können.
Your loss!