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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




13. Juni 2024
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Alles steht Kopf 2 (Kelsey Mann)


Alles steht Kopf 2
(Kelsey Mann)

Originaltitel: Inside Out 2, USA 2024, Buch: Meg LeFauve, Dave Holstein, Kamera: Adam Habib, Jonathan Pytko, Schnitt: Maurissa Horwitz, Musik: Andrea Datzman (Originalthemen von Michael Giacchino), Production Design: Jason Deamer, Character Art Director: Keiko Murayama, Graphics Art Director: Laura Meyer, Sets Art Director: Joshua West, Lighting Art Director: Rona Liu, Color & Shading Art Director: Bill Zahn, mit den Original- / deutschen Synchronstimmen Amy Poehler / ? (Joy / Freude), Kensington Tallman / ? (Riley), Phyllis Smith / ? (Sadness / Kummer), Kyle MacLachlan / Leon Windscheid (Dad), Diane Lane / ? (Mom), Maya Hawke / Derya Flechtner (Anxiety / Zweifel), Liza Lapira / ? (Disgust / Ekel), Lewis Black / Hans-Joachim Heist (Anger / Wut), Bill Hader / Olaf Schubert (Fear / Angst), Adèle Exarchopoulos / ? (Ennui), Paul Walter Hauser / ? (Embarassment / Peinlich), Ayo Edebiri / ? (Envy / Neid), Grace Lu / ? (Grace), Sumayyah Nuriddin-Green / ? (Bree), Lilimar / Tahnee (Valentina »Val« Ortiz), Yvette Nicole Brown / ? (Coach Roberts), Ron Funches / Bastian Pastewka (Bloofy / Pouchy), Yong Yea / ? (Lance Slashblade), June Squibb / ? (Spoilervermeidung), John Ratzenberger, Paula Pell, Flea, Frank Oz, Dave Goelz u.v.a., 97 Min., Kinostart: 12. Juni 2024

Seit Inside Out sind neun Jahre vergangen, Hauptfigur Riley, die damals ihren zwölften Geburtstag feierte, ist zwar nur ein Jahr älter geworden, aber die große Veränderung namens Pubertät dräut. Die fünf personifizierten Emotionen, die in Rileys Kopf ihr Geschick vorantreiben (Joy, Sadness, Disgust, Anger und Fear) bekommen »Unterstützung« in Form von Anxiety, Embarrassment, Ennui und Envy (ein weiteres Gefühl hat zwei kurze Gastauftritte, ist aber etwas früh im Rennen).

Die meisten Filmprämissen machen es einem Sequel leichter als das gut durchdachte Spiel mit den farbcodierten Gefühlen, die im fantasievollen Innenleben eines Kindes dafür sorgen wollen, dass Riley durch ihre Gefühlsmischung nicht traumatisiert wird, sondern sich zu einem gefestigten jungen Menschen entwickelt.

Wenn sich die Filmemacher einst längere Zeit darüber den Kopf zerbrachen, welche Gefühle für den menschlichen Emotionscocktail notwendig sind, dann kann man diesen (auch innerhalb der Sonderregeln der Pubertät) nicht einfach einige Nachzügler hinzugesellen, ohne sich in die Gefahr zu begeben, das fragile Gleichgewicht zu zerstören.

Alles steht Kopf 2 (Kelsey Mann)

© 2023 Disney / Pixar. All rights reserved.

Auf der Suche nach einem neuen Kinoerfolg »vergisst« man einfach mal, dass man im ersten Film ja ausschließlich mit den fünf Gefühlen gearbeitet hat, und auch in den Köpfen von Rileys Eltern, einer Lehrerin, eines Jungen, eines Clowns, eines Hundes und einer Katze (vermutlich habe ich noch wen vergessen) gibt es jeweils diese fünf Gefühle. Und es wird auch nirgends in Inside Out 2 versucht zu erklären, dass die »Neuen« vielleicht nach der Pubertät wieder »verschwinden« oder Neid plötzlich wieder keine Rolle mehr spielt. Ohne zu viel verraten zu wollen, Anxiety gesellt sich am End des Sequels zumindest in zwei Fällen zu Fünfergruppen - aber das Ganze wirkt einfach nicht so durchdacht oder zumindest konsequent durchgezogen. Eher wie eine halbherzige Geschichtsklitterung.

Das sind jetzt keine Kriterien, die zwischen Gelingen und Versagen (oder auch nur Erfolg und Misserfolg) des Films entscheiden - aber ich kann (und will) diese Punkte nicht einfach ignorieren. Weil es mir nicht um den notwendigen finanziellen Erfolg eines Filmprodukts geht. Sondern darum, ob der neue Film für seine eigene Existenz-Rechtfertigung (abgesehen von finanziellen Erwägungen) sorgen kann - und nicht einfach nur das vorhergehende verwässert.

Der neue Film ist unterhaltsam, aber die neuen Figuren können weder von einer psychologischen »Durchdachtheit« noch von der reinen Figurenchemie mit den ersten fünf mithalten. Das kann ich einfach nicht schonender formulieren. Es gibt andere Sequels (auch von Pixar), die das einfach besser umsetzen. Oder die zumindest auf interessante Art neue Aspekte in den Vordergrund stellen (Cars 3). In Richtung neue Aspekte gibt es hier die Pubertät. Okay, die war auch schon Hauptthema anderer Filme, und das Detail, das Riley den kompletten Film lang neben der verhassten Zahnstellungskorrekturhilfe einen knospenden kleinen Pickel auf ihrem Kinn präsentiert, ist zwar ambitioniert, aber eine Art Kirsche auf der Schlagsahne - kein neuer Eisbecher mit variierter Geschmacksrichtung.

Alles steht Kopf 2 (Kelsey Mann)

© 2023 Disney / Pixar. All rights reserved.

Ich kann nachvollziehen, dass man mehr Zeit mit den etablierten Figuren verbringen will, aber alles, was neu dazuerfunden wurde, ist nicht die Offenbahrung, die der erste Film war, sondern im günstigsten Fall eine unterhaltsame Fingerspielerei.

Die Botschaft, die der Film seinem Publikum bietet (und hier finde ich einen Blick auf das jüngere Publikum deutlich interessanter), ist zum Beispiel, dass der Wunsch, ein guter Mensch zu sein, im direkten Widerspruch zu den sozialen Regeln während der Pubertät zu stehen scheint, wo man halt nicht auffallen, sondern irgendwie cool wirken will und jederzeit bereits sein muss, die eigenen Ideale zu verraten, um akzeptiert zu werden. Nur mit dem hinreichenden Wissen aus den Jahren danach hat man eine (meines Erachtens nicht umsetzbare) Chance, den üblichen Fallstricken zu entgehen. Inside Out 2 versucht zwar, gewisse Aussagen zu machen, aber Geld verdienen und ein paar gute Gags sind für die Macher irgendwie viel wichtiger. Dass Pete Docter, der Regisseur von Inside Out, rein zufällig auch Monsters, Inc., Up und Soul drehte (alle bei imdb mit 8 oder mehr von 10 Punkten bewertet), Kelsey Mann hier indes sein Langfilm-Regiedebüt abliefert, liefert kein Argument für das Sequel oder ein besonders auf den ... ich scheue mich nicht vor diesem Begriff! »Innovationsgaranten« Docter aufbauendes Qualitätsmanagement.

Zwei Figuren, die zumindest aus der Sicht eines Filmwissenschaftlers mit Faible für Animationsfilme hochinteressant sind, verpuffen am Rande, weil sie für die eigentliche Handlung (oder die Themen des Films) nicht hinreichend Gewicht haben. Da hatten im ersten Film beispielsweise Bing Bong oder der idealisierte Boyfriend viel mehr emotionalen Impetus und verkommen nicht nur zu Sparwitzen am Rand.

Die größte Veränderung zum ersten Film ist aber analytisch gesehen nicht, was im Kopf von Riley passiert (leider beschränkt man sich beim Bildangebot für die Startpresse komplett darauf), sondern die Welt um sie herum. In der Pubertät sind Freunde (oder was man dafür hält) wichtiger als die Familie, und Grace, Bree und Valentina sind sehr wichtig für die gesamte Geschichte - doch sie bleiben nur Platzhalter, bekommen keinen wirklichen Raum, ein eigenes Profil zu entwickeln. Vielleicht erwarte ich einfach zu viel, aber anstelle von etwa 12 neuen Figuren, die bis auf Anxiety jeweils kaum über 20 Dialogsätze (und zum Teil deutlich weniger) haben, wären »echte« Freunde, die nicht nur vorbildlich divers gecastete Stichwortgeber sind und sich gefügig dem Drehbuch unterordnen, hier die Lösung. Und das können selbst die meisten konsequent auf Erfolg gebürsteten deutschen Kinderfilme liefern.

Natürlich, und das will ich nicht herunterspielen, gibt es auch vieles im Film, was gelungen ist. Wie die Konsole im Hauptquartier plötzlich auf die geringste Berührung sehr sensibel reagiert, ist schön beobachtet und umgesetzt. Das neue Hockey-Team hält einer eingehenden Betrachtung der Unterschiede zwischen Kindheit und Pubertät statt (Firehawks statt Foghorns), Embarassment ist auf seine Art eine sehr liebenswerte Figur, weil sie Raum gibt, sich in ihr wiederzuerkennen.

Alles steht Kopf 2 (Kelsey Mann)

© 2023 Disney / Pixar. All rights reserved.

Und weil ich mir den ersten Film am Vortag noch mal angeschaut hatte, ist auch der Moment, wo Riley feststellt, dass ihr nach einem Wachstumsschub das Lieblings-Shirt nicht mehr passt, von einer anrührenden Emotionalität. Aber mir konnte auch nicht entgehen, dass man beispielsweise nicht die Chance genutzt hat, all das »Broccoli-Bashing« mal zuende zu bringen. Um Dramatik in die Handlung zu bringen, werden die Taten der in die Schurkenrolle gepressten neuen Figur Anxiety hier und da etwas überzogen, das war beim Handlungsbogen rund um Sadness im ersten Film deutlich nuancierter. Aber wenn alles auserzählt ist, wird Anxiety genau so verziehen - gerade, wenn man beide Filme innerhalb von 24 Stunden gesehen hat, kommt man nicht umhin, das zu bemerken.

Rileys Selbstfindungs-Erleuchtung am Ende des Films benötigt nur einen einzigen Satz:

»I need to fit in, but I wanna be myself.«

Diese Zurückbesinnung auf die eigenen Werte kann der Film nicht im selben Umfang liefern. Er bleibt vor allem ein Sequel, das ohne Kenntnis des ersten Films vielleicht funktionieren kann, aber nicht im selben Maße berührt. Vermutlich ist die Kindheit ein Thema, das sich mehr zur Sentimentalität eignet als die Pubertät, aber meine Herangehensweise ist: man darf sich halt nicht aus Profitgründen zu so etwas zwingen lassen. Das Sequel als vorherrschendes Geschäftsprinzip ist ähnlich schrecklich wie ein einstiges Marktforschungsergebnis, dass Fernsehzeitschriften mit 'nem Kerl auf dem Cover sich immer schlechter verkaufen werden als solche mit 'ner Frau druff. Seither wagt es niemand mehr, das zu hinterfragen. Isso! Sexismus und Kapitalismus wären vielleicht auch zwei interessante Hauptfiguren in einem animierten Buddy-Movie. Wenn auch eher von Matt Stone und Trey Parker als von Pixar.

Das Pixar, mit dem ich aufgewachsen bin (ja ja, Toy Story kam sechs Jahre nach meinem Abi raus, aber trotzdem hat mich das Studio die größere Hälfte meines Lebens begleitet), hatte höhere Ziele. Es gab zwar auch Filme, die den schnell hochgeschossenen Erwartungen nicht nachkommen konnten (A Bug's Life), aber mittlerweile hat Pixar die einstigen Ideale etwas aus den Augen verloren. Ich bin zwar voller Hoffnung, dass auch mal wieder ganz tolle (neue) Filme aus Emeryille kommen werden, aber der Erwartungsdruck ist im heutigen Filmbusiness einfach ein ganz anderer. Alles muss ein Blockbuster sein, und ein Blockbuster muss auf vorbestimmte Art liefern. Dieser Umstand ist eine viel bissigere Metapher auf die Pubertät als alles in Inside Out 2.

Mein trauriges* Fazit: Nur die wenigsten Filme sagen sich beim »Aufwachsen« noch wie Riley: »I wanna be a good person.«



* (Und wir wissen ja alle: Traurigkeit soll man zulassen!)