Anora
(Sean Baker)
Originaltitel: Anora, USA 2024, Buch: Sean Baker, Kamera: Drew Daniels, Schnitt: Sean Baker, Musik: David Wingo, Kostüme: Jocelyn Pierce, Production Design: Stephen Phelps, Art Direction: Ryan Scott Fitzgerald, Set Decoration: Christopher Phelps, mit Mikey Madison (Ani), Mark Eydelshteyn (Ivan), Yura Borisov (Igor), Karren Karagulian (Toro), Vache Tovmasyan (Garnick), Lindsey Normington (Diamond aka Ginger Cunt), Darya Ekamasova (Galina Zakharov), Aleksey Serebryakov (Nikolai Zakharov), Ivy Wolk (Crystal), Vlad Mamai (Aleks), Michael Sergio (Judge), 139 Min., Kinostart: 31. Oktober 2024
Ani (eigentlich Anora) hat russische Wurzeln, spricht aber ungern in ihrer Muttersprache. Sie arbeitet im (offenbar real existierenden) »Herrenclub« »Headquarters« in New York als Stripperin, bevorzugt aber die Berufsbezeichnung »erotic dancer«.
Wer die Filme von Sean Baker (Tangerine, The Florida Project) kennt, weiß, dass er seinen ProtagonistInnen ohne Vorurteile entgegentritt. Sie sind vor allem Menschen.
Bei Ani (Mikey Madison), das zeigt schon mein Einstiegsabsatz, sind der Figur selbst Namen und Bezeichnungen aber sehr wichtig. Ich werde jetzt keine Wissenschaft daraus machen, ob der Euphemismus »erotic dancer« deutlichen Körperkontakt wie bei lap dances in private rooms noch inkludiert, und ob Erklärungen wie »This is not allowed. But I like you.« einfach Geschäftsmethoden spiegeln. Oder ob Ani (auch) im Job Emotionen zeigt / zeigen darf / vortäuscht. Das kann jedeR für sich selbst entscheiden. Sicher ist jedenfalls, dass sie ein klares Selbstbild hat, an dem sie nicht von außen rütteln lässt. Und wer will, darf dem Respekt zollen. Wenn Ani etwa einer Kollegin ihre Schmetterlings-Tattoos zeigt sagt diese »That's so classy! I've got dollar signs, like any hooker.«
Sean Baker lässt sich Zeit, die (Berufs-)Welt von Ani zu zeigen, ehe daraus ganz langsam eine Geschichte entsteht, die 9 von 10 Regisseure vermutlich in unter zwei Stunden abgehandelt hätten.
© Universal Pictures
Doch wo die abgewandelte Prinzessinnengeschichte wie im unglaublich abgefeierten Pretty Woman bis zur Realitätsverleugnung alles romantisiert, fällt Anora zum Beispiel dadurch auf, dass die Vorgeschichte von Annies Heirat mit dem jungen Oligarchen-Sohn Ivan alias Vanya (Mark Eydelshteyn) sich etwa durch mehr (nicht sehr explizite, aber durchaus nicht verhuschte) Fickszenen auszeichnet als manch handelsüblicher Porno. Die gehen dann zwar nur wenige Sekunden und nicht eine dreiviertel Stunde, aber sie illustrieren ein bewegtes Sexualleben, bei dem sich Annie sogar die Zeit nimmt, Ivan Herangehensweisen beizubringen, die seiner Aufmerksamkeit (und eingeschränkten Erfahrung) entgangen waren.
Die Kurzhandlung des Films ist: Oligarchensohn (»My father is Nikolai Zakharov. Google it!«) heiratet Stripperin, was seine Eltern zur Intervention treibt. Was Sean Baker daraus macht, ist sehr viel mehr, nicht zuletzt lässt er seinen Figuren Raum, sich zu entwickeln, und ganz leise und behutsam entsteht dabei auch so etwas wie eine Romanze, aber eine realistische, fragile, keine Hollywood-Lovestory mit fade outs und der vielleicht explizitesten Szene unter 1,5 Kubikmeter Badeschaum.
© 2024 Anora Production LLC
In den romantisierten Versionen der »Rettung« einer Sexarbeiterin aus ihrem Milieu wird der Mann jeweils heroisiert. Oft geht die Heroisierung so weit, dass er die angebotenen Dienste selbst gar nicht in Anspruch nehmen würde, aber die »inneren Werte« der gern »hooker with a golden heart« genannten Figur erkennt, und ihm dafür nicht ausschließlich egoistische Beweggründe unterstellt werden. Vergleiche Irma La Douce, Mad Dog and Glory oder sogar Taxi Driver.
Eine derartige Heldenrolle ist nicht das Ding von Ivan aka Vanya. Der Sex ist für ihn noch süchtigmachender als seine Videospiele, das für seine »Braut« ausgegebene Geld interessiert ihn nicht, und er verfolgt mit der Heirat eigene Ziele. Wobei seine Aufmerksamkeitsspanne gering ist, und die Konsequenz, mit der er Pläne durchdenkt, fast nicht existent. Für das ungeachtet der Ambivalenzen mitreißende Thema »junge Liebe« bedeutet es aber keinen Abbruch, wenn Ivan beispielsweise in einem luxoriösen Hotel mit folgenden Worten empfangen wird:
»Welcome back! Your suite was occupied, but we cleared it.«
(Ich komme aus einer Gastronomen-Familie, drei meiner vier Großeltern waren In Lokalen und Hotels tätig, da schockiert es mich ein wenig, wie man mit den zwischenzeitigen Gästen umgegangen sein muss.)
Foto: Drew Daniels © Universal Pictures
Die (mit Abstand!) romantischste Aussage von Ivan lautet: »I think we would have a great time even if I didn't have money.« Leider erschöpft sich der Wahrheitsgehalt dieser Worte im Fakt, dass Sex durch mehr Geld nicht unbedingt besser wird. Ivans ungeheure Naivität und Selbstverleugnung tritt immer stärker zu Tage.
Die Kernszene des Films dreht sich um den Armenier Toros (eigentlich ein gläubiger Familienvater) und seine zwei Gehilfen, die in Ivans Haus eindringen, um im Auftrag seiner Eltern die Situation nach einer spontanen Hochzeit in Las Vegas stabilisieren sollen. Dummerweise sind sie ebensosehr von Anis Temperament als auch von Ivans Fluchtinstinkt umfassend überfordert (»Be careful, boss!«), und im weiteren Verlauf des Films machen sich Ani und ihre drei Kidnapper auf den Weg, um Ivan zu finden, ehe dessen Eltern auftauchen.
»We all wanna talk to Ivan. We all want the same thing.«
© 2024 Anora Production LLC
Das Eindringen der Fremden war das Kernstück von Bakers Drehbuch, alles davor und danach wurde drumherum erschaffen - was man dem Film als Ganzen aber nicht anmerkt, weil sowohl die Entwicklungen der Figuren als auch die improvisierten, fast dokumentarischen Szenen hier und da alles wie aus einem Guss erscheinen lassen.
Hinzu kommen die schauspielerischen Leistungen (allen voran Mikey Madison) und der unglaublich explosive Humor der Situationen, die immer mal wieder eskalieren, wobei aber auch Platz für ruhige und / oder emotionale Höhepunkte bleibt. Über die emotionalen Momente will ich nicht zu viel verraten, eine tolle, im Kontext totwitzige Dialogzeile ist für mich »I don't have Instagram. I'm a fucking adult!» - Toros kann es fast mit dem klassischen »Machete don't tweet.« aufnehmen.
© 2024 Anora Production LLC
Und über die Eltern und die ziemlich geniale Schlussszene habe ich noch gar nichts geschrieben...
Für mich nach May December der zweitbeste Film des Jahres. Wobei Anora vermutlich ein größeres Publikum anspricht, weil May December ja ziemlich unterkühlt daher kommt und seine Hauptfiguren nicht unbedingt sympathisch sind (womit einige Leute ein Problem haben, während ich mich auch mal eher analytisch verzücken lasse...)