May December
(Todd Haynes)
Originaltitel: May December, USA 2022, Buch: Samy Burch, Alex Mechanik, Kamera: Christopher Blauvelt, Schnitt: Affonso Gonçalves, Musikthema: Michel Legrand (aus »The Go-Between«, zusätzlicher Score: Marcelo Zarvos, Kostüme: April Napier, Production Design: Sam Lisenco, Art Direction: Eric Dean, Set Direction: Jess Royal, mit Natalie Portman (Elizabeth Berry), Julianne Moore (Gracie Atherton-Yoo), Charles Melton (Joe Yoo), Gabriel Chung (Charlie Atherton-Yoo), Elizabeth Yu (Mary Atherton-Yoo), Cory Michael Smith (Georgie), Chris Tenzis (Aaron [voice]), Piper Curda (Honor Atherton-Yoo), Andrea Frankle (Rhonda), Drew Scheid (Cameron), D.W. Moffett (Tom Atherton), Kelvin Han Yee (Joe Sr.), Lawrence Arancio (Morris Sperber), Allie McCulloch (TV Movie 'Gracie'), Evan Zhu (TV Movie 'Joe'), Christopher Nguyen (Tyler Ko), Adam Woods (Benny Kim / Boy Actor #3), 117 Min., Kinostart: 30. Mai 2024
May December ist ein hochinteressanter, reifer Film, der komplex miteinander verwobene Geschichten mit vielen Facetten nach und nach auseinanderdröselt, dabei aber nie (wie der typische Krimi) zu einer Auflösung führt. Denn das wäre so ziemlich das letzte, was der Film beabsichtigt. Entsprechend ist es schwierig, sich mit dem Film zu beschäftigen, ohne sich in die Gefahr zu begeben, entweder zu viel vorwegzunehmen oder Dinge als klar zu definieren, die es nicht sind.
Zu jedem Zeitpunkt des Films haben die unterschiedlichen Figuren (über die wir nach und nach mehr erfahren) ganz konkrete Ziele, die sie unterschiedlich umzusetzen versuchen. Und unterschiedliche Perspektiven. Es gibt hier keine klaren Täter-und-Opfer-Dichotomien - aber einige der involvierten Personen bilden sich das gern mal ein. Die Figuren sind unterschiedlich manipulativ und unterschiedlich verletzbar, und ich werde in diesem Text laaangsam immer weiter ins Detail gehen...
Wann immer sich ein Bild zwischen die Textpassagen schiebt, können die Lesenden damit rechnen, dass nach dem Bild weitere Details zumindest angedeutet werden. Ich kann nur jedermann raten, sich möglichst früh aus dem Text zu verabschieden und dem Film lieber eine Chance zu geben, seine Geschichte selbst zu erzählen. Denn das machen der Film und sein Regisseur Todd Haynes (Velvet Goldmine, Far from Heaven, I'm not there, Mildred Pierce, Carol, Dark Waters) verdammt gut.
© François Duhamel / Netflix
Kurzinhalt: Die TV-Schauspielerin Elizabeth Berry (Natalie Portman) besucht aus Recherchegründen die Familie Atherton-Yoo. Gracie (Julianne Moore) hatte in den 1990ern eine Affäre mit dem Siebtklässler Joe (in der Gegenwart des Films: Charles Melton), landete damals als sex offender im Gefängnis, mittlerweile sind Gracie und Joe glücklich miteinander verheiratet, und Elizabeth soll die Gracie von damals darstellen.
Die durchaus etwas komplexe Zeitlinie des Film hat bei den Basisdaten den Vorteil, dass man mit einem sehr heruntergebrochenen »1 x 12« das meiste bis auf wenige Jahre leichtverständlich und gut zu merken skizzieren kann. Damals (1992-94 ist die Zeitphase, die der im Film vorbereitete Film nachspielen soll), war Joe etwa 12 (streng genommen 13), Gracie 36 (deduziertes Alter), 24 Jahre später ist Joe 36, Gracie also ca. 60, und Elizabeth sagt zu Joe, sie sei im gleichen Alter wie er, also auch so alt wie Gracie einst, als sie mit Joe zusammen kam. Zum Ende des Films (also in der Gegenwart, es gibt nirgends Flashbacks, höchstens alte Fotos oder Nachrichtenausschnitte) gibt es einen festlichen Highschool-Abschluss, da wird erwähnt, dass es 2017 ist (also 24 Jahre nach 1993, dem »Mitteljahr« der früheren Zeitphase). Mir hat das sehr geholfen, dass man mit den Zahlen 12, 24 und 36 den Großteil der Altersangaben und Unterschiede fixieren kann.
Warum der Film May December heißt, ist mir aber entgangen. Ich muss zugeben, dass ich mich nicht vorher informiert habe über die Filmhandlung und wie meist weit vorn im Kino saß. Und wenn dann klar wird, weshalb Natalie Portman Julianne Moore besuchen will (zu dem Zeitpunkt waren mir die Filmnamen noch nicht geläufig), fingert sie mit alten Zeitungsschlagzeilen, gleichzeitig gibt es alte Nachrichtenmitschnitte, und die Untertitelung von Text und Ton ist nicht hilfreich, wenn man einige Meter vor der Leinwand sitzt, mit Informationen überschüttet wird und sich am liebsten noch Notizen machen will. An der Stelle war für mich klar: es gab eine »verbotene Liebe«, in die Gracie verwickelt war, und während ihrer Haftstrafe gab es eine Geburt (ich glaube, die Schlagzeile war nur geringfügig weniger alliterativ als »Baby born behind bars«).
Ich bleibe kurz bei den Kindern. Zu erwähnen ist noch, dass Gracie bei der Affäre mit Joe verheiratet war und bereits mehrere Kinder hatte. Das Kind im Knast ist offenbar von Joe und heißt Honor (kommt im Film erst später ins Spiel), etwas später hatten die beiden noch Zwillinge namens Mary und Charlie, die beide noch bei den Eltern wohnen, wenn die Schauspielerin zu Besuch kommt. Bei einer Familienzusammenkunft tauchen auch Gracies Ex-Mann Tom auf und der älteste gemeinsame Sohn Georgie (der spielt eine gewisse Rolle, weil er mehrfach mit der Schauspielerin sprechen wird). Es gibt weitere Kinder von Gracie und Tom, ich schätze mal auf insgesamt drei, und eine Enkelin existiert auch. Der Kontakt damit ist aber wohl deutlich runtergefahren, und für die Filmhandlung sind die auch nicht so wichtig (prägen aber natürlich auch irgendwie das Leben von Gracie und Joe).
© Netflix
Apropos Gracie und Joe. Zu Beginn des Films taucht Elizabeth passend zu einer Gartenparty auf, bei der gute Freunde der Familie (u.a. auch Klassenkameraden von Mary) gemeinsam grillen. Das Bild der Familie wird dadurch anfänglich sehr geprägt, und Gracie und Joe wirken noch so verliebt wie am ersten Tag. Aber nach und nach wird immer deutlicher, dass diese Fassade bröckelt, dass hier einiges verborgen bleibt. Und sowohl Gracie als auch Joe stehen unter psychischem Druck, was natürlich zur Haupterzählung des Films gehört.
Ich greife an dieser Stelle mal zurück auf den Vorspann des Films. Es gibt einiges an Produktionsfirmen mit aufwendigen Intros, der Ton fehlt aber, und das ist auffällig. Erst mit der Einblendung der Namen der beiden Hauptdarstellerinnen in großen Lettern (gefolgt von den weiteren Filmschaffenden) kommt Ton ins Spiel, und zwar die dramatische Klaviermusik von Michel Legrand aus dem Film The Go-Between (Ich gebe frei zu, der Filmtitel war mir ein Begriff, aber ich habe den Film von Joseph Losey nach einem Buch von Harold Pinter nie gesehen. Die Erzählweise scheint ähnlich...)
Das dräuende pa-DIM pa-DIM hat Todd Haynes übernommen und es prägt die Atmosphäre des Films, setzt auch Akzente. Zu Beginn sieht man einige Schmetterlinge in Großaufnahme, und plötzlich scheint es im Kino so heiß und drückend wie im Dschungel oder Gewächshaus. Es gibt zwar auch fröhlichere Klavierpassagen, aber das pa-DIM pa-DIM gibt dem Publikum immer wieder das Gefühl, dass etwas Schlimmes passieren könnte. Ein Swimming Pool ist noch im Aufbau, in der Nähe soll irgendwo ein Kind gestorben sein, und Mary und ihre aufgedrehten Teenagerfreunde sollen beobachtet werden, damit sie nicht vom Vordach fallen oder ähnliches.
Aber Haynes spielt auch gern mit dieser Dramatik (der ganze Film hat einen perfiden, satirischen schwarzen Humor). Etwa wenn Gracie gedankenverloren eine schwere Kühlschranktür öffnet (pa-DIM pa-DIM!), sie hineinblickt (dem Publikum der Blick aber verwehrt wird) und sie dann mit einer gewissen Schwere verkündet »I think we need more hot dogs!«.
Das Grenzgeniale an dieser Szene: der aufgeladene Moment bleibt in der Erinnerung, auch wenn es wie ein Sparwitz wirkt... und im Verlauf des Films wird mancher Betrachter erkennen: Ja, für Gracie ist das dramatisch! Ich will nicht ins Detail gehen, aber sie hat später einen mittelschweren Nervenzusammenbruch wegen eines ... na, ich sag mal: Lebensmittels.
© Netflix
Ein Großteil des Reizes des Films (der selling point) besteht natürlich darin, dass zwei eher unterschiedliche Oscarpreisträgerinnen (Portman für Black Swan, Moore für Still Alice) hier als Hauptdarstellerinnen wie Gegensätze präsentiert werden, sich aber gleichzeitig auch ähneln. Nicht zuletzt, weil Elizabeth ja Gracie darstellen soll und dies auch fast plakativ durchzieht. Schauspielerei, etwas vortäuschen, das zieht sich durch den Film wie ein roter Faden. Und dabei leidet das Menschliche oft. Das ist kein Vorwurf an den Film, sondern im Kern seine Geschichte. Gracie fühlt sich geschmeichelt, von einer bekannten Schauspieler besucht zu werden, und von ihr porträtiert zu werden. Sie ist sich aber auch allzu bewusst, dass ihre Rolle im Film nicht vorbehaltlos positiv ausfallen wird, und entsprechend gibt sie sich Mühe, das zu beeinflussen.
Elizabeth ihrerseits recherchiert umfassend, spricht auch mit Zeugen, die Gracie ihr gerne vorenthalten hätte, und ist im subtilen Manipulieren ziemlich geschickt. Die größte Herausforderung für Schauspieler ist glaube ich, wenn sie gleichzeitig besonders gut agieren sollen, dabei aber auch die Schwächen der dargestellten Figuren zeigen sollen. Denn wenn die nicht so gut darin sind, sich zu verstellen, will man das ja so darstellen, dass das Versagen nicht auf die SchauspielerInnen zurückfällt. Und wenn man dann noch Schauspieler oder ähnliches spielt, wird es halt ziemlich komplex und man erreicht schnell eine gewisse Fallhöhe. Mein Lieblingsbeispiel für so etwas in der Filmgeschichte ist vermutlich Ernst Lubitschs To be or not to be, der seinerzeit auch aufgrund seines gewagten Sujets kolossal durchfiel, und bei dem nicht nur Jack Benny als »The great Joseph Tura« als selbstverliebter Schmierenkomödiant mit Größenwahn tolles leistet, sondern der Film durch diverse Verkleidungen und Vorgauklungen ebenfalls ziemlich komplex ausfiel. Dass es dabei noch vortrefflich gelang, zwischen all den kleinlichen und opportunistischen Figuren eine klare Unterscheidung zwischen den historischen Opfern und Tätern einzubringen, ist höchste Filmkunst.
Meine liebste Szene in May December ist die, aus der das dritte Bild stammt. Gracie besorgt zusammen mit ihrer Tochter Mary (Elizabeth Yu, eine Perle in einem strahlenden Ensemble) ein Kleid für die bevorstehende Abschlussfeier, Schauspielerin Elizabeth begleitet die beiden dabei. Hier fällt besonders auf, wie die Schauspielerin auf eine für den unbeteiligten Betrachter schon fast beleidigende Art die Körpersprache von Gracie spiegelt, während sie nebenbei mehr herauszukriegen versucht. Gracie ist vermutlich auf ihre Art eine liebevolle Mutter, aber hier spielt sie auch die Vorbildmutter, denn Elizabeth hatte ihr erzählt, dass auch die Person 24 Jahre nach der Straftat etwas über die Gracie von damals aussagen kann (oh ja!).
Und während Gracie ihre Tochter lobt, ihr Selbstvertrauen bestärkt und alles so macht, wie man es nicht besser erwarten könnte, zeigt sie dann auf eine hinterhältige Art ihre manipulative Ader (was Elizabeth offensichtlich nicht entgeht, Mary vielleicht schon). Bei einem Kleid, das Marys Arme zeigt, geht ein Lobgesang von Gracie etwa so »Mary, you're a modern woman! You don't care about unrealistic beauty ideals!« Ganz so modern ist Gracie nicht, und so gibt sie ihrer Tochter auf subtile und vermeintlich unterstützende Art zu verstehen, dass sie »dicke Arme« hat, die in diesem Kleid unvorteilhaft betont werden...
© Netflix
Im Wettkampf zwischen Elizabeth und Gracie, wer in diesem Film manipulativer, unschuldiger, gewitzter oder kaputter ist, kommen unterschiedliche Kinobesuchende vermutlich zu unterschiedlichen Ergebnissen. Meines Erachtens geht es aber nicht um den Sieg, sondern um den Kampf (also auch um den Film). Todd Haynes (und seine Drehbuchautoren) sind unbarmherzig, die Schauspielerinnen lassen sich voll darauf ein, und wenn man sich auf diesen schwarzhumorigen, leicht satirischen Tonfall einlässt, in dem Menschen zwar vorgeführt werden, aber man sich dennoch (größtenteils) mit ihren Problemen beschäftigt und mit ihnen mitfühlt, wird man reich beschenkt.
Für mich ist May December bisher der beste Film des Jahres (und ich war schon ein paar Mal wirklich begeistert), während des Films bestand für mich ein Teil der Spannung aber auch darin, wie weit man gehen würde. Mehrfach werden mögliche Abgründe skizziert und man fragt sich: wird jetzt nur am Klippenrand getänzelt oder fallen auch mal fette Felsbrocken herab?
Und wenn diese Fragen dann geklärt sind, kommen die Schluss-Szenen, die in ihrer lang vorbereiteten und sehr pointierten Belanglosigkeit dem Publikum noch mal den Teppich unter den Füßen wegreißen. Aber auch da bin ich mir sicher, dass manch andereR das ganz anders bewertet.
Und dafür liebe ich den Film: er ist zwar bis ins letzte Detail durchdacht, lässt dem Publikum aber trotzdem die Entscheidung, begeistert, angewidert oder gelangweilt zu sein. Aber wer die nötige Reife hat*, May December aufmerksam betrachtet und immer mal wieder die Perspektive einer anderen Figur einnimmt, sollte zumindest einen aufregenden Kinoabend und ein Fest der Filmkunst erleben. Ein ziemlich aussagekräftiger Fakt ist für mich übrigens, dass der Film bei der zugehörigen Oscar-Verleihung bis auf eine Nominierung für das Originaldrehbuch komplett übergangen wurde (zumindest Charles Melton wurde bei einer Handvoll anderer Preisverleihungen als vielversprechender Newcomer etc. ausgezeichnet). Die werten Mitglieder der Academy, die in der letzter Zeit ja mit Diversitätspreisen nicht geizten, konnten offenbar mit dem nuancierten Spiel und der mal nicht klaren Aussage hier nicht so viel anfangen... und auch die Diversität der Familie Atherton-Yoo, die hier mal weder plakativ zur Schau gestellt wird noch einer dem Zeitgeist entsprechenden Alibi-Quoten-Funktion entspricht, konnte (womöglich auf Grund der Wurzeln der Familie) nicht triggern.
*Wer sich bei meinem Spruch über die »Reife« (manchmal spreche ich auch von »sittlicher Reife«) vorkommt wie ein Vorschulkind, dem die Mutter verbietet, Cola zu trinken: ich kann euch ganz im Vertrauen sagen: ich habe selbst nicht die Reife für jeden Film oder jedes Buch. Und ich finde es auch okay, wenn man sich dagegen entscheiden will, die extra distance zu gehen und sich zu sensibilisieren, damit man auch bei Bergman, Greenaway, Tarkowskij oder Bela Tarr immer danach sagen kann: »Ich habe alles durchdrungen und verachte Mindergebildete!«. Jeder darf ein Schnösel oder Snob sein, aber wenn Du keine Snobs mehr über Dir hast, biste für mich eine arme Sau :-)