We Live in Time
(John Crowley)
Originaltitel: We Live in Time, UK / Frankreich 2024, Buch: Nick Payne, Kamera: Stuart Bentley, Schnitt: Justine Wright, Musik: Bryce Dessner, Kostüme: Liza Bracey, Production Design: Alice Normington, Supervising Art Director: Thalia Ecclestone, Set Decoration: Sarah Kane, mit Florence Pugh (Almut), Andrew Garfield (Tobias Durand), Grace Delaney (Ella), Lee Braithwaite (Jade), Aoife Hinds (Skye), Adam James (Simon Maxson), Douglas Hodge (Reginald), Amy Morgan (Leah), Niamh Cusack (Sylvia), Lucy Briers (Dr. Kerri Weaver), Robert Boulter (Dr. Hernandez), Nikhil Parmar (Sanjaya), Kerry Godliman (Jane), 108 Min., Kinostart: 9. Januar 2025
Ich quäle meine Lesenden gern mit Dingen, die sie eigentlich nicht interessieren. Hier zum Beispiel mit einer Kurzzusammenfassung zum besprochenen Film, wie ich sie von www.imdb.com übernahm, und die schön demonstriert, wie die KI oder textende Menschen, die mit dem, worüber sie schreiben, nicht vertraut sind (eine Methodik, die ich jahrelang bei einem journalistischen Auftraggeber ertragen musste), aus simplen Zusammenhängen verhunzten Murks fabrizieren können. Damals, kurz nachdem ich den Film sah (Mitte Oktober 2024), fand ich folgenden Text:
»Das Leben eines aufstrebenden Kochs und einer kürzlich geschiedenen Frau verändert sich für immer, als eine zufällige Begegnung sie in einer Jahrzehnte umspannenden, tief bewegenden Romanze zusammenführt.«
Weil imdb meines Wissens keine eigenen deutschsprachigen Texte erstellt, sondern vorhandene aus anderen Sprachen übersetzen lässt (einerlei, ob dies Babelfisch war oder eine echte Person), hier die englischsprachige Fassung.
»An up-and-coming chef and a recent divorcée find their lives forever changed when a chance encounter brings them together, in a decade-spanning, deeply moving romance.«
Selbst in Nichtkenntnis des Films könnte ein geübter Übersetzer die beiden Texte vergleichen und erkennen, worin zwei Probleme bzw. umfassende Sinnentstellungen bestehen könnten: Im englischsprachigen Text geht es um zwei Personen, deren Geschlecht nicht mal ansatzweise vorgegeben ist, in der deutschen Fassung geht es um einen Koch und eine Frau. Wer weiß, wer die Hauptrollen im Film spielt, könnte davon ausgehen, dass es sich um eine heteronormative Beziehung dreht, wer indes folgendes Bild von Florence Pugh sieht, kapiert vielleicht, dass nicht Garfield einen Koch spielt, sondern sie eine Köchin (und um eine geschiedene Frau geht es auch nicht).
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Foto: Peter Mountain ©2024 Studiocanal GmbH
Außerdem wurde beim Übersetzen übersehen, dass es einen Unterschied zwischen »decade-spanning« und (nicht im Text) »decades-spanning« gibt - die im Film beschriebene Geschichte umspannt definitiv nicht »Jahrzehnte« - ich hatte beim Schauen des Films keinen besonderen Fokus auf die vergehende Zeit, und will auch nicht versuchen, hier etwas zu rekonstruieren, was den Lesenden zu viel von der Geschichte erzählt. Ich glaube aber, dass man nicht einmal elf Jahre erreicht (eher so acht oder neun, und ein Gro√üteil davon umfasst das Alter der Tochter).
Im besten Fall sollte man sich nicht den Trailer anschauen und auch keine Inhaltsangaben lesen (die oben ist noch vergleichsweise unspezifisch).
Als ich ins Kino ging - ich mag Florence Pugh (Lady Macbeth, Black Widow) und den Regisseur John Crowley (Kid A, Brooklyn), war ich mir nicht einmal sicher, ob es sich um eine Zeitreise-Geschichte drehen könnte, der Titel bezieht sich aber nur auf die Zeitreise, die wir alle durchleben, und der Film ist zu großen Teilen nicht-chronologisch erzählt. Florence Pugh gibt im Film mal an, ihre Figur sei 35 Jahre alt, man kann aufgrund unterschiedlicher Haarstile recht simpel drei unterschiedliche Passagen unterscheiden, und der Film / sein Autor und Regisseur benutzen das Springen innerhalb der Zeit dafür, die Geschichte auf eine bestimmte Art zu erzählen, die bei »A führt zu B führt zu C« nicht funktionieren würde.
In Beziehungsfilmen wie 5 x 2 kann man umgedrehte Erzählung dafür benutzen, einer Scheidung einen positiveren »Ausgang« zu verleihen. Dieser Aspekt der nicht-chronologischen Erzählung ist hier nur ein Zusatz-, nicht der Hauptgrund.
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Foto: Peter Mountain ©2024 Studiocanal GmbH
Um es gezielt vage zu halten: Hier geht es um zwei Menschen, die sich auf ungewöhnliche Weise kennen lernen, und daraus entsteht eine Beziehung. Zu Beginn dieser Beziehung haben die beiden nicht unbedingt die selben Ziele, aber sie sprechen darüber, das Ganze kommt etwas ins Stolpern, und man arrangiert sich.
Das ist durchaus interessant, und zwischen den beiden Hauptdarstellenden gibt es auch eine gut funktionierende Chemie (ich ignoriere jetzt mal die pünktlich zum US-Start publizierte »Nachricht«, dass Pugh und Garfield bei einer Sexszene auf das »Cut!« des Regisseurs nicht reagiert haben sollen - solche Geschichten werden immer gern benutzt, um einem Film zusätzliche Publicity zu bereiten), aber We Live in Time will nicht nur eine Liebesgeschichte liefern.
Mindestens genauso wichtig ist für den Film, unter welchen Begleiterscheinung es zu einer Familiengründung kommt, und wie auch dabei die unterschiedlichen Lebensentwürfe der Hauptfiguren Probleme entstehen lassen, die den Film als solches noch interessanter machen. Und dafür ist die nicht-chronologische Erzählung sehr hilfreich, denn man muss aktiv schauen, sich bereits gezeigtes merken und in eine Abfolge setzen. Dadurch erkennt man zusätzliche Zusammenhänge, wird aber auch mal ein bisschen ausgetrickst.
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Foto: Peter Mountain ©2024 Studiocanal GmbH
Ich war zu Zeiten von Pulp Fiction schon nicht mehr ein Heranwachsender, der sich größtenteils von der Welt der Gangster, Boxer und Groschenroman-Figuren ablenken ließ, und beim folgenden Boom in Sachen nicht-chronologischer Erzählung ging es mir nicht immer nur darum, die Handlungsfäden zu sortieren, sondern auch darum, zu bewerten, welche Filmemacher diese Art der Narration nur nutzten, um eine oberflächliche Geschichte nur faszinierende erscheinen zu lassen, und welche wirklich einen Mehrwert für den Film erschaffen konnten.
Auch wenn meine KritikerkollegInnen dem Film erstaunlich gleichgültig gegenüber standen, finde ich, dass John Crowley hier wirklich etwas besonderes geschaffen hat. Ich wiederhole mich, wenn ich sage, dass ich halt nicht mehr fünf mal die Woche im Kino sitze, sondern eher fünf mal im Quartal (und nicht mal das!), aber ich bin durch die geringere Dosis viel stärker in der Lage, mich an einem Film zu erfreuen. Ich lache, ich empfinde wieder mehr Spannung, und in mindestens einer Szene von We Live in Time war ich auch sehr emotional getroffen.
Und schäme mich meiner Tränen nicht!
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Foto: Peter Mountain ©2024 Studiocanal GmbH
Denn diese Szene (bei der die Köchin viele überrascht) ist dramaturgisch großartig vorbereitet und man merkt ihr an, dass Crowley nicht darauf aus ist, sein Publikum emotional zu manipulieren (was viele Regisseure zur Meisterschaft erklärt haben). Zwar ergibt alles aus der Sicht der Figuren Sinn, aber auch das Drehbuch wirkt nicht so, als hätte Crowley eine gute Idee gehabt und sie umgesetzt - Nein, ich würde so 150 Euro wetten, dass er lange daran arbeitete, diesen Höhepunkt im Film (einer von einer guten Handvoll) immer wieder zu überdenken, bis er irgendwann den wohl größten Effekt erzielen konnte.
Emotionaler Ausdruck, passende Perle auf dem fortlaufenden Handlungsfaden, und dann auch noch die Kulmination darin, wie man eigene Lebensziele mit dem Familienglück kombinieren kann, denn an der Stelle gab es kurz zuvor mal wieder jenen Vertrauensbruch, wie man ihn aus Hunderten RomComs kennt, nur, dass es hier nicht darum geht, dass die beiden sich finden, sondern dass ein drohender Bruch verhindert werden muss.
Und dass macht Crowley hier auf einem Level, bei dem ich an Filmklassiker wie It's a wonderful life denken muss.
Wer Liebesfilme oder gar »weepies« abfeiert oder sie verachtet - ich bin mir nicht einmal sicher, welche Gruppe empfänglicher für den Charme und die Intelligenz dieses Films ist. Offensichtlich polarisiert We Live in Time. Ohne dabei provokant zu sein.