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Dezember 2005
Bodo Mrozek
für satt.org



»Lost in Seoul«

Verbeugen, Karaoke singen
und in der Sauna ein Ei:
Eine koreanische Nacht

In dem Film „Lost in Translation“ fällt irgendwann der Satz: „Es ist hier alles etwas anders.“ Der Schauspieler und Tokiotourist Bob (Bill Murray) sagt ihn am Telefon zu seiner daheim gebliebenen Ehefrau. Seoul ist nicht Tokio. Aber für den Westler ist auch in Südkoreas Hauptstadt alles etwas anders.

Die Verwirrung der Kulturen beginnt schon mit der Begrüßung: Verneigen oder Hände schütteln? Während in Europa Kratzfuß und Bückling zu den ausgestorbenen Ehrbezeugungen gehören, verneigt sich der Koreaner traditionell. Allerdings nicht immer, und das ist das Problem: Gerade im westlich orientierten Seoul wird inzwischen genauso oft die Hand zum Schütteln gereicht. Was also wann tun? Die Studentin Hwan, die den Fremden für einen Abend durch die Stadt begleiten wird, ist in dieser Frage auch keine Hilfe. Beides sei erlaubt, sagt sie, beides gleichzeitig gehe aber auch: Hand ausstrecken, dabei leicht verneigen. Wie sagt Konfuzius? „Der Edle verneigt sich, aber er beugt sich nicht."

Korea wird das Land der Morgenstille genannt. In seiner Hauptstadt leben zehn Millionen Menschen. Das muss ein Höllenlärm sein, denkt man, aber dann steht man abends auf einem achtspurigen Boulevard und sieht die nagelneuen Autos fast lautlos vorüberschweben wie große dunkle Tiere. Hyundai, Daewoo, Samsung. Seoul ist aus Glas und Stahl gebaut und strebt senkrecht in die Höhe. Am Horizont erheben sich grüne Hügel, die entfernt an das Alpenvorland erinnern. Zwischen den glänzenden Schluchten der Hochhausfassaden tun sich urplötzlich kleine Gässchen auf. Nach Sonnenuntergang strahlen überall bunte Leuchtreklamen. Einzig das deutsche Wort „Hof“ leuchtet in lateinischer Schrift vertraut zwischen den Schriftzeichen. Auf ungeklärten Wegen gelangte das Wort aus Bayern nach Korea und steht dort nun für Bier. Auf dem Tempelplatz hasten kahl geschorene Mönche in weiten grauen Leinenanzügen vorbei.

Der Abend beginnt, wie so ziemlich jede Verabredung in der Stadt, mit einem melodiös piepsenden Handy. Am Apparat ist Hwan, die uns zum Karaoke bestellt. Das kommt zwar aus Japan, ist aber mittlerweile in ganz Asien ein beliebter Zeitvertreib. In Seoul gilt es als ideales Warm-up für die Wochenendgestaltung. Üblicherweise fängt man damit schon am frühen Abend an, weil die meisten Karaoke-Bars keinen Alkohol ausschenken. Das ist schade, denn der hilft ja gegen Lampenfieber. Stattdessen sitze ich nun mit Hwan und ihrem Freund Chong-Kwan stocknüchtern und vollkommen verkrampft in einer dieser ufoartigen Kabinen.

In Seoul singt man Karaoke im kleinsten Kreis, große Bühnen sind eher unüblich. Unsere Karaoke-Bar versteckt sich im ersten Stock eines Hauses mitten in einer Amüsiermeile. Nebenan im Videospielclub kann man mit einem M-16-Sturmgewehr auf antiamerikanische Terroristen schießen. Großer Beliebtheit erfreut sich auch eine Maschine, die echte Bälle abfeuert, die man mit einem Baseballschläger in ein Netz schlagen muss. Das sieht gefährlich aus, aber Karaoke ist schließlich auch nicht ohne: Durch den langen Gang, an den sich die Kabinen reihen, gellen fanatische Schreie. Hinter schwarz getönten Scheiben sieht man Karaoke-Junkies in Ekstase. In der Kabine nebenan schreien zwei junge Frauen in Schuluniform aus voller Kehle um die Wette, ein Geschäftsmann mit gelockerter Krawatte hüpft vor Vergnügen in blitzenden Lackschuhen auf den Sitzpolstern herum. So kontrolliert die Koreaner im Straßenverkehr auch erscheinen – in der Karaoke-Kabine lassen sie ihren Gefühlen freien Lauf.

Diese Ausgelassenheit will sich in unserer Kabine noch nicht so recht einstellen. Wahrscheinlich um die Stimmung aufzulockern, schlägt Chong-Kwan vor, ein paar Frauen zu mieten. Nein, nein, keine Sorge, wehrt er ab, als er das bestürzte Gesicht des Deutschen sieht, die sind nicht teuer. Das war auch nicht die Sorge. Man erklärt ihm das Unbehagen. Seine Miene hellt sich auf. Nein, die Frauen würden nur für das Singen bezahlt. Die seien nun mal Professionelle. Im Karaoke.

Chong-Kwan will an der Theke seine Bestellung aufgeben, kommt aber kurz darauf enttäuscht zurück. Keine Frauen verfügbar. Ich bin erleichtert, doch nur für einen Moment, denn nun müssen wir selber singen. Auf Knopfdruck dröhnt Musik aus den Boxen und ein Video flimmert über den Monitor. Ein Mädchen weint darin in einem Regen aus Rosenblättern, im Hintergrund posiert ein Schönling auf einem Motorroller. Die Studentin Hwan singt das koreanische Lied mit Inbrunst. Dann bin ich an der Reihe. Die Auswahl ist reichlich, sogar ein Stück von Max Raabe ist dabei. Ich entscheide mich für ein Lied von Tom Jones und greife entschlossen zum Mikrofon. Die Lichtorgel blitzt auf, diesmal kämpfen Kung-Fu-Typen auf dem Monitor.

Die eigene, mit kräftigen Hall-Effekten verstärkte Stimme ist ein Schock, an den man sich bald gewöhnt. Die anderen klatschen dazu den Takt mit bereitliegenden Rasseln. Am Ende verkündet eine Computerstimme die erreichte Punktzahl: neun Points. Ich fühle mich, als hätte ich soeben den Grand Prix de Seoul gewonnen. Ein paar Lieder und einige Büchsen Litschi-Brause später ist der Stimmungspegel bei uns fast so hoch wie nebenan bei den Schulmädchen. Dann geht plötzlich das Licht an und ein Leuchtschild fordert dazu auf, 20000 Won (etwa 16 Euro) nachzuwerfen. Die Stunde verging wie im Fluge.

Hwan bekommt einen Anruf. Ein Freund. Er sei gerade mit einigen Journalisten der größten Zeitung von Seoul (Auflage: zwei Millionen Exemplare) in einem Restaurant. „Wir trinken Schnaps und essen als Beilage Schweinefleisch. Willst du vorbeikommen?“ Kurz darauf steht man in einem rustikal eingerichteten Restaurant. Tischgrills verströmen eine wohlige Wärme, die Gesichter des Reporters Chung und seiner Kollegin Il-Kang glühen bereits. Alle sind bester Laune. Man verneigt sich wie gelernt. Chung reicht die Hand.

"Ihr Deutschen seid immer so verkrampft. Mach dich mal locker", ruft er fröhlich und kippt den Inhalt eines Schnapsglases mit 22-prozentigem Reiswein in ein großes Bier. Ich sitze auf dem Ehrenplatz hinten links am Tisch, denn ich bin der Älteste. Der Älteste wird immer zuerst bedient. Die Kellner erkundigen sich erst nach dem Alter der Gäste, bevor sie einschenken. In guten Restaurants rollen sie einem auch kleine Pfannkuchen oder Salatblätter zusammen und füllen sie mit dem Feuerfleisch Bulgoki, was sehr hilfreich ist. Korea ist nämlich das einzige asiatische Land, in dem Essstäbchen aus Metall benutzt werden. Die sind so glatt und dünn, dass selbst dann alles herunterrutscht, wenn man es gewöhnt ist, Sushi mit Holzstäbchen zu essen. Es gibt eher ungewohnte Leckerbissen wie Seetangsalat, getrockneten Fisch und rohe Taschenkrebse. Sie schmecken großartig.

Das nun beginnende Spiel heißt Bombdrinking und geht so: Reihum leert jeder sein Glas in einem Zug. Hat man die Bombe runtergewürgt, erweist einem die Runde ihren Respekt mit dröhnendem Applaus. Der Älteste muss den Anfang machen. Die Funktion des Bombdrinking erklärt Chung so: „Dabei finden wir heraus, ob jemand ein guter Journalist ist. Die besten Informationen bekommen wir, wenn wir mit unseren Gesprächspartnern Alkohol trinken. Wer nicht trinkt, bekommt bei keiner Zeitung einen Job. Wer zu schnell betrunken wird, auch nicht. Wer sich aber total besäuft, bis er nicht mehr geradeaus gehen kann und sich hinterher trotzdem an jedes gesprochene Wort erinnern kann, der ist unser Mann.“ Als Chung den ersten Satz ausspricht, kribbelt es bereits leicht unter der Kopfhaut. Dann dringen seine Sätze nur noch mühsam durch einen Nebel, in dem sein Lächeln bereits wie weichgezeichnet verschwimmt.

Anwälte betreiben das Bombdrinking übrigens ebenso exzessiv und auch bei Handwerkern und Versicherungsangestellten ist es sehr beliebt. Chong-Kwan erklärt die Funktion des Bombdrinking deshalb etwas allgemeiner: „Wir Koreaner sind sehr förmlich. Es gibt viele Hierarchien, die man strikt einhalten muss. Nur beim Trinken dürfen wir uns vollkommen danebenbenehmen, ohne dass es uns jemand übel nimmt. Darum sind wir sehr gerne und oft betrunken.“ Die Steigerung des Bombdrinking bleibt uns zum Glück erspart. Sie heißt H-Bombdrinking und geht genau so wie Bombdrinking. Nur ist das Mischungsverhältnis von Reiswein und Bier dabei umgedreht.

Etwas später rümpft der Dozent Chong-Kwan die Nase, als man vom Besuch im Kloster erzählt. „Der Tempel? Das ist einer der Schlimmsten.“ Immer wenn der Abt gewählt werde, so Chong-Kwan, liefern sich die Mönche verfeindeter Lager blutige Straßenkämpfe mit Flaschen und Stöcken. Da die Religionen weitgehende Steuerbefreiung genießen, sei es inzwischen üblich, sein Geld bei den Mönchen zu parken. Man gibt ihnen zum Beispiel ein paar Millionen Won und erhält eine Spendenquittung über den zehnfachen Betrag. Was die asketischen Mönche mit dem Schwarzgeld machen? Chong-Kwan lacht. „Sie kaufen sich teure Autos und Prostituierte.“ Die Mönche sind auch nur Menschen.

Chong-Kwan will nun Tanzen gehen, doch die Suche nach einer Diskothek ist nicht einfach. Rund um die Frauenuniversität gibt es zahllose Clubs und Bars, aber für die meisten sind wir schlicht zu alt. An anderen hängen Hinweisschilder wie: „Hip-Hop. Eintritt nur mit Turnschuhen.“ Durch die Straßen schlendern Hunderte Teenager mit blondierten Strubbelfrisuren, einer trägt ein pinkfarbenes T-Shirt mit dem Aufdruck „Vivian Westwood". Was angenehm auffällt, ist die ruhige Stimmung: Keine Besoffenen, niemand pöbelt, keiner guckt einen dumm an. Am Berliner Hackeschen Markt hätte man um dieselbe Zeit vorsichtshalber schon mehrere Male die Straßenseite gewechselt.

Wir landen schließlich in einer oberschicken Kellerbar, die mit der englischen Leuchtreklame „All waitress 100 % female“ wirbt. Chong-Kwan marschiert entschlossen voran. Die Bar ist in etwa so gemütlich wie das Käferrestaurant an der Reichstagskuppel, nur edler. Hinter der schwarz glänzenden Theke stehen Frauen, die aussehen wie Models, die zur Entspannung in einer Bar arbeiten. Einsame Männer im Anzug sitzen auf den Barhockern und schütten den Schönen ihr Herz aus. Die machen dazu ein aufmerksames Gesicht und lächeln geduldig, wenn einer einen Witz macht. Wird einer zudringlich, so komplimentiert man ihn freundlich hinaus. Wir sitzen in einer Nische um einen großen Tisch. Hwan schlürft einen roten Kokosnusscocktail. Diesmal machen wir zum Glück kein Bombdrinking.

Ich erzähle Chong-Kwan von meinem Besuch an der innerkoreanischen Grenze, wo Touristen heute in 100 Metern Tiefe durch nordkoreanische Spionagetunnel kriechen dürfen. Chong-Kwan kennt die „Frontline“ gut, er hat seinen dreijährigen Wehrdienst dort abgeleistet – eine Erfahrung, um die man ihn nicht beneidet. Einmal verweigerte seine Einheit, die nur aus Katholiken bestand, die protestantische Weihnachtsmesse. Die protestantischen Offiziere kommandierten Geländeübungen im Matsch, bis die Heilige Nacht vorüber war. In Korea gehört jeder zweite einer Religionsgemeinschaft an, davon sind 52 Prozent Christen. Ökumene ist jedoch ein Fremdwort.

Plötzlich schlägt Hwan vor, eine Nudelsuppe essen zu gehen. Alle Koreaner täten dies nachts in Seoul, um sich fürs Tanzen zu stärken. Nudelsuppe isst man im Stehen in einem rund um die Uhr geöffneten Supermarkt. Man holt sich eine Art Fünf-Minuten-Terrine aus dem Regal, gießt bereitstehendes Wasser hinein und schiebt den Becher in eine Mikrowelle. Die Atmosphäre ist sehr entspannt. Alle reden durcheinander, es wird viel gelacht. Koreanisch müsste man können. Normalerweise, wenn man nicht so müde wäre, könnte man jetzt in eine Sauna gehen.

"In eine Sauna", frage ich entgeistert, mitten in der Nacht? Ja, erklärt Hwan, das sei sehr populär. Männer und Frauen schwitzen getrennt, man wird von einem Sauna-Angestellten abgerubbelt, bindet sich ein Handtuch um und trifft sich dann im Ruheraum wieder. Das Handy darf man natürlich auch mit in die Sauna nehmen. Die Aussicht, den Rest der Nacht im Kreise von nur mit Handtuch und Handy bekleideten Menschen zu verbringen, ist verlockend.

"Übrigens", sagt Chong-Kwan, „du kannst in der Sauna bis zum nächsten Morgen schlafen. Das machen viele, dann fahren sie zur Arbeit. Vorher aber essen sie in der Sauna ein Ei.“ Der Fremdling wundert sich. Warum denn ein Ei? Hwan und Chong-Kwan diskutieren die ungewohnte Frage lange auf Koreanisch. „Man isst in der Sauna ein Ei", erklärt Hwan dann ernsthaft, „weil es dort sehr leicht zu kochen ist.“ In einer Sauna gibt es immer heißes Wasser.


(Erstveröffentlichung in: Der Tagesspiegel, 16. Oktober 2005.)