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13. Februar 2013 |
Nora Mansmann für satt.org |
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»Das Schloss.
Eine Winterreise«
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Das Schloss. Eine Winterreise von Novoflot nach Franz Kafka Ort: Haus der Berliner Festspiele Regie: Sven Holm Musikalische Leitung: Vicente Larrañaga Komposition: Aleksandra Gryka Posaunenimprovisation: Nils Wogram Bühne und Kostüme: Elisa Limberg Dramaturgie Fadrina: Arpagaus Produktionsleitung: Dörte Wolter Mit Hans-Peter Scheidegger, Hanna Dóra Sturludóttir, Yuka Yanagihara, Nils Wogram, Ines Hu, Ulrich Scheel, dem ensemble mosaik sowie Kinderchor und –statisterie (18). » Berliner Festspiele » Novoflot |
Der Abend beginnt mit einem Prolog, in dem textlich wie auch bildlich bereits einige Versatzstücke aus der Welt des Romans auftauchen. Wir nehmen auf einer Zuschauertribüne Platz, auf Strohsäcken, die ebenso zu den (wenigen) im Roman erwähnten Requisiten gehören wie der große Pferdeschlitten, der die linke Seite der Bühne einnimmt. Auf ihm zahlreiche Kinder verschiedenen Alters, wie schlafend. Die rechte Seite der Bühne ist von den dicht im Viereck zusammengedrängten Musikern des ensemble mosaik besetzt: Ihr Platz ist an den Seiten begrenzt durch Pauke, Vibrafon und ein Klavier, auf dem oben noch ein Keyboard steht; der Keyboarder thront erhöht auf einem Lautsprecher, der auf die offenen Klaviersaiten gerichtet ist, die Pianistin und der Klarinettist sitzen rechts und links eine Ebene unter ihm. In dieser Gedrängtheit wirkt das kleine Orchester mit seinen synchronen Spielbewegungen wie ein großes Tier, ein einziger Klangkörper, der sich auch erstmals bemerkbar macht mit einem gemeinsamen Stoßseufzer. Dieses erste Arrangement, das vervollständigt wird durch eine mit rotem Klebeband verbundene Ansammlung von Ausschnitten aus Kafkas Roman an der Rückwand der Bühne, die im Laufe des Prologs ergänzt werden, ist eines von vielen rätselhaft-eindrucksvollen Bildern des Abends.
Kaum hat das Publikum auf den Strohsäcken Platz genommen, so wird es auch schon selbst als K. angesprochen, mit den Sätzen, die der verhinderte Landvermesser zu Beginn seines Aufenthaltes in dem am Fuße des Schlosses gelegenen Dorf zu hören bekommt: »Gastfreundschaft ist bei uns nicht Sitte, wir brauchen keine Gäste«, so teilen uns freundlich aber bestimmt die inzwischen erwachten Kinder aus dem Schlitten und von den Technikgalerien herab mit. Die kurzen Texte, jeweils nur wenige Sätze aus unterschiedlichen Passagen des Romans, etablieren ein immer wiederkehrendes Hauptthema des Abends: die Ablehnung und den ständigen Ausschluss Ks aus der Gesellschaft des Dorfes, in das er als Fremder kommt.
Die direkte Ansprache erweist sich als wirksames Mittel, um das Publikum gleich zu Beginn in die seltsame und abweisende Welt des Schlosses hineinzuziehen. Während K. bei Kafka den ganzen Roman hindurch versucht, ins Schloss herein zu kommen, sind wir mit Novoflot von Anfang an darin, ja, wir geraten immer tiefer hinein. Denn kaum hat man sich in der Rolle des K gedanklich eingerichtet, da hebt sich die Rückwand, ein Eiserner Vorhang, und wird zum Tor zu einem neuen Raum. Zwei kleine Mädchen locken das Publikum zu diesem weiteren Schritt ins Innere, es geht auf eine weitere Zuschauertribüne; mit Sicht auf eine große Anzahl rustikaler Wirtshaustische und -stühle, die mit Telefonen und Schreibgeräten bestückt sind, und so je nach Bespielung und Situation zugleich Dorfwirtshaus und Kanzlei des Schlosses sein können.
Zu der ausschließlich in braun und weiß gekleideten Schloss- und Dorfgesellschaft (bestehend aus den Kindern, den sich jetzt frei bewegenden Musikern und dem Live-Zeichner Ulrich Scheel), treten nun drei Ks hinzu: Die SängerInnen Hans-Peter Scheidegger, Hanna Dóra Sturludóttir und Yuka Yanagihara, durch ihre grau-rote Kleidung als Fremde, als Außenstehende sofort erkennbar (Bühne und Kostüme: Elisa Limberg).
Das schon zu Beginn angeschnittene Thema der Abweisung und des Ausschlusses wird hier nun wieder aufgenommen mit Franz Schuberts »Gute Nacht«, gesungen von den drei Ks, denen die Kinder immer wieder unbeirrbar kurz vor dem Hinsetzen die Wirtshausstühle wegziehen: eine schöne visuelle Übersetzung der Unbehaustheit. »Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus...«, ein Satz, den man auch dem Landvermesser K. am offenen, Fragment gebliebenen Ende des Romans in den Mund legen könnte, nachdem er im Dorf seine Braut Frieda gefunden und wieder verloren hat. Nach diesem Prinzip funktioniert der ganze Abend, szenisch-bildlich ebenso wie musikalisch: Viele Stränge, viele Versatzstücke, deren oft lockere Assoziation miteinander jedoch stimmig und nachvollziehbar ist. Novoflot erzählen hier keine Geschichte, und dennoch hat der Abend einen roten Faden durch seine konsequente Struktur, zudem bewegt er sich im Ganzen doch chronologisch an den Stationen, den Räumen des Romans entlang. Und die Räume sind an diesem Abend eben auch zentrales Thema, denn es bleibt nicht bei dem einen Ortswechsel vom Beginn: Das Publikum sitzt nun auf der Drehbühne, und bald fahren wir rückwärts in immer wieder neue Räume hinein, die sich durch Heben und Senken oder auch durch ein halbes Öffnen der auf allen Seiten vorhandenen Eisernen Vorhänge noch weiter variieren lassen. So blickt man mal zurück in den Raum mit dem großen grünen Schlitten, oder in einen neuen Raum, der wohl am ehesten den Herrenhof symbolisiert und mit zahlreichen mehrarmigen 50er-Jahre-Deckenlampen ausstaffiert ist, die ebenfalls abgesenkt werden können und so z.B. den Sängern den Weg zurück in den Hauptbühnenraum versperren.
Auch musikalisch werden gewissermaßen drei verschiedene Räume durchschritten, die immer wieder miteinander in Interaktion gebracht werden: Die assoziative Verbindung der »Winterreise« von Franz Schubert mit Kafkas »Schloss« erschließt sich leicht: Wie der Ich-Erzähler in Schuberts Liedern, so bewegt sich auch K. im Roman durch eine verschneite, vereiste Landschaft, ganz konkret in der geschilderten winterlichen Umgebung, aber auch metaphorisch in den zwischenmenschlichen Beziehungen und in der eigenen Gefühlswelt. Die Komponistin Aleksandra Gryka, die schon oft mit Novoflot gearbeitet hat, hat eigene »Schubert-Wiedergänger« und Schloss-Kompositionen beigesteuert, u.a. auch einige Chor-Stücke für den Knabenchor Berlin, dessen Mitglieder sich auch unter den Kindern auf der Bühne befinden. Als drittes musikalisches Element streut der Jazz-Posaunist und Komponist Nils Wogram zahlreiche Posaunen-Improvisationen ein, die dem Abend einen ganz anderen, jazzigen, swingigen Touch verleihen.
Die sehr verschiedenen musikalischen Elemente treten in Beziehung zueinander, die unterschiedliche Musik nähert sich einander an, reibt sich aneinander, reibt sich auf bis zur Sprengung von Struktur und Melodie... Schuberts Musik bildet die Grundlage, wird auch mal in oder nah an der ursprünglichen Version dargeboten, oft neu verteilt auf die drei Sänger, um dann immer wieder durch Umstellungen und neue Instrumentierungen verändert, übermalt zu werden. Die neu komponierte Musik ist recht eingängig, gelegentlich auch gemäßigt atonal, mikrotonal, oder durch Geräusche der Instrumentalisten oder aus der Bühnenhandlung (z.B. klingelnde Telefone) angereichert, aber immer gut zu verfolgen und in Kommunikation mit Schubert. Oft geht die Bewegung von der eher geschlossenen Form zur Improvisation, wenn etwa ein Schubert-Lied, begonnen im Originalsatz mit Soloklavier (Saori Tomidokoro) und Gesang, durch Einwürfe des Orchesters oder durch Wograms Posaune zunächst in einer Nebenstimme zurückhaltend begleitet, dann umspielt, dann schleichend im Rhythmus verändert, verjazzt, wird. Die Posaune wird vom Mit- zum Gegenspieler, übernimmt die Hauptstimme bzw. führt sie auf ihre ganz eigene Art weiter bis hin zur freien Improvisation.
So unterhält man sich gut für eine lange Zeit, im ständigen Wechsel der musikalischen und visuellen Räume. Erwähnt werden müssen in diesem Zusammenhang auch noch die feinen Live-Zeichnungen von Ulrich Scheel, die per riesiger Projektionen die schwarzen Theaterwände aufreißen und erweitern zu Landschaften, Gebäuden, Figuren. Und doch stellt sich nach zwei Stunden schließlich Ermüdung ein; so toll das Fahren auf der Drehbühne sein mag, in seiner Häufung nutzt es sich ab, und als schließlich noch eine Versenkung hinunterfährt, in die Hans-Peter Scheidegger den grünen Schlitten ziehen muss wie in einen Höllenschlund, während die Posaune eben das musikalisch zu illustrieren scheint, da wird es zu viel und vielleicht auch zu konkret, da wird das Bewegen der Theatermaschinerie zum Selbstzweck. An dieser Stelle wünscht man sich, der Abend hätte eine halbe Stunde kürzer gedauert, denn bis dahin gelingen im Verein mit der Musik immer wieder grandiose Bilder, meist rätselhaft und nicht komplett zu dechiffrieren, und als kurz nach der »Höllenfahrt« der Eiserne zum Zuschauerraum sich hebt und dort weit hinten, in den letzten Reihen, im Zwielicht einer Projektion die Sänger nach und nach erscheinen, verloren in dem riesigen Raum, und Schuberts »Wegweiser« erklingt, ist man wieder versöhnt.
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