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Januar 2003
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Enno Stahl
für satt.org | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
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Deutschlands Stagnation |
1 vgl. meinen Aufsatz: Das Hartz-Papier und die sozialen Folgen, satt.org, Gesellschaft |
Über das Hartz-Papier wird viel geredet, umgesetzt wird es nur in Rudimenten, ohnedies bedeutete es, in seiner ursprünglichen Form, bloß eine einseitige Verschärfung für die Arbeitslosen1. Es richtet sein Augenmerk nicht auf die Schaffung neuer Stellen, sondern lediglich darauf, den Druck auf die Erwerbslosen zu erhöhen, sie zu zwingen, schneller eine Arbeit zu finden und sei es eine, die weit unter ihrer Qualifikation liegt. Die Arbeitsvermittlung soll von denselben Arbeitsamtmitarbeitern geleistet werden, die sich bereits als unfähig dazu erwiesen haben. Der zentrale Widerspruch bleibt unaufgelöst: Wie sollen jene Millionen eine Arbeit finden in einer Gesellschaft, die keine mehr zu vergeben hat?
Damit wir uns recht verstehen, die Rede ist von der größten europäischen Volkswirtschaft. Nicht die Produktivität der Wirtschaft ist der Grund für die Regression, sondern das Festhalten an einem überkommenen Modell, das der heute nötigen, wirtschaftlichen Dynamik Rechnung trägt. Immer wieder spricht man vom Mittelstand als Motor der Beschäftigung. Dieser Motor leidet offensichtlich an „Maschinen-Asthma“, das Warum ist längst kein Geheimnis mehr. Die Mittelstandssprecher weisen seit Jahrzehnten darauf hin, dass sie geknebelt sind von Bürokratie und Vorschriften, dass jeder kleine Unternehmer Hunderte von Formularen auszufüllen hat, bevor er überhaupt tätig werden kann. Die Politik hat es in 20 Jahren nicht zu bewerkstelligen vermocht, diesen Blätterwald zu lichten2.
2 Ob Wolfgang Clement nun wirklich ernsthafte Vorschläge einbringt, das Dickicht zu roden? |
Um auf eine noch kleinere Ebene zu gehen: auch der Einzelne, der sich selbstständig machen will, sieht sich ungünstigsten Bedingungen ausgesetzt: hohe Besteuerung, immense Krankenkassenbeiträge, keine Absicherung, aber großes Risiko, das einseitig auf ihn, den potentiellen Selbstständigen, zurück fällt. Es ist kein Wunder, dass Deutschland eine der niedrigsten Gründungskeitsraten in der EU aufweist.
Möglichkeiten, die abhängige Beschäftigung zu reformieren, wurden seit fast 20 Jahren nur diskutiert, umgesetzt wurde nichts oder nur laue Luft: so gibt es keine wirklich durchschlagenen Konzepte zur Realisierung der Teilzeitarbeit, kein Job-Sharing, keine Rotations-Prinzipien, keinen Überstunden-Abbau.
Ein Grund dafür ist, dass man weiter an einem überkommenen Arbeitsbegriff und -ethos festhält, und so die ökonomische Flexibilität stark eingrenzt. Heute aber handelt es sich nicht mehr überall um klar konturierte 8-Stunden-Tage und ebenso wenig um traditionelle Beschäftigungsverhältnisse, sondern mit ansteigender Tendenz um freie Mitarbeiterschaften, Werkverträge, Befristungen. Das Gesetz gegen die Scheinselbstständigkeit mag oberflächlich zwar gerecht erscheinen, aber es zeugt von einem starken Realitätsverlust, weite Teile der Erwerbswelt funktionieren eben nun mal auf dieser Basis oder sie funktionieren nicht. Verbietet man solche Beschäftigung, gibt es keine: sind Firmenpleiten ebenso die Folge wie das Absinken solcher (ehemaliger) freier Mitarbeiter in die Sozialhilfe.
Natürlich ist der hohe soziale Standard der Arbeit in Deutschland prinzipiell begrüßenswert. Da eine solche Ausstattung aber sehr teuer ist, kann sich eine Gesellschaft das nur so lange leisten, wie sie sowohl wettbewerbsfähig bleibt als auch genügend Menschen zu beschäftigen vermag, um die nötigen Arbeiten auszuführen und selbst zu überleben. Wenn die Situation sich dahingehend ändert, dass beides so nicht mehr gegeben ist, dass die Konkurrenzfähigkeit leidet und die Unternehmen allein an der Abschaffung von Arbeitsplätzen noch verdienen, in der Folge immer weniger Menschen immer mehr Arbeit verrichten müssen, dann muss es im Interesse aller, im Interesse des sozialen Friedens und der Ausgewogenheit, sein, die individuellen Bedingungen stückweise zu verschlechtern, um dafür mehr Menschen daran teilhaben zu lassen. Letztlich geht es hier auch um die Qualität der Arbeit und der daraus resultierenden Produkte, was wiederum auf die Wettbewerbsfähigkeit rückschlägt. Der eigentlich verständliche Kampf der Gewerkschaften gegen den Abbau der Errungenschaften wird somit reaktionär und ist sogar unmittelbar gegen die sozial Schwächsten, die Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger, gerichtet. Die Gewerkschaften sind nichts anderes als Arbeitslobbyisten: sie sind nicht Lobby der Arbeitslosen, auch wenn sie so tun, sondern Repräsentanten allein der Arbeitsplatzinhaber und damit einer der größten Bremser bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze (bekanntestes Beispiel: die 5000 VW-Arbeitsplätze).
Angesichts manifester, regionaler Strukturunterschiede etwa ist auch der Flächentarifvertrag ein unrealistisches Auslaufmodell und dient lediglich als letzte Legitimation der Gewerkschaften. Ihre rückständige Position ist aus diesem Grund zwar logisch, denn die Gewerkschaften kämpfen um ihre eigene Existenz. Wenn sie aber nicht von sich aus eine Erneuerung ihrer Strukturen und Angriffspunkte anstreben, müssen sie eben durch Druck von außen (Mitgliederschwund!) den aktuellen Bedingungen angepasst werden.
Das liegt häufig schon daran, dass jeder noch so geringe Anstoß von Lobbyisten und Seilschaften sofort torpediert und mundtot gemacht wird - seien es die Gewerkschaften, wie gesagt, beim Komplex Arbeit, oder die Pharma-Riesen in Sachen Gesundheit. Es rührt sich nichts. Wenn z.B. einerseits die Kostenexplosion im Gesundheitswesen beklagt wird, werden andererseits teurere Produkte mit identischer chemischer Zusammensetzung häufig am Markt bevorteilt (durch Ärzte und Apotheken unter dem Druck der Konzerne), werden Vorsorgemöglichkeiten immer weniger gefördert und auf die Patienten selbst abgewälzt, werden alternative, z.B. homöopathische Therapien, die billiger und effektiver sind, in ihrer Verbreitung durch die Konzerne massiv unterdrückt, um den Absatz von deren teuren Herz-, Allergie- oder Krebsmitteln weiter zu gewährleisten. Jeder Veränderung des Status Quo schiebt die Pharma-Lobby den Riegel vor.
Lange Zeit blieb es unbemerkt, wie sehr Deutschland unter der Fuchtel der Verbände steht. Bei jeder gesellschaftlichen Veränderung, bei jeder Gesetzesvorschrift treten sie auf den Plan, ob es sich das Dosenpfand dreht oder um Tiere. Ist etwa das Wohl deutscher Pitbulls in Gefahr, geht die Hundebesitzer-Lobby erfolgreich auf die Barrikaden. Ob die Maulkorbpflicht nun befolgt wird oder nicht, kümmert im Endeffekt niemanden, am wenigsten die Polizei, sei es aus Überforderung oder, weil sie selber mehrheitlich aus Hundefreunden besteht.
Wenn jemand bis an die Zähne bewaffnet Amok läuft und alle Welt dadurch erst erfährt, dass eine simple Schützenvereins-Mitgliedschaft den Besitz von Pump-Guns etc. gestattet und einige zarte Stimmchen laut werden, diesen Zustand vielleicht geringfügig zu ändern, macht die Waffen-Lobby mobil und alles bleibt beim Alten.
Die desaströse Verkehrssituation ist aus ähnlichen Gründen kaum zu lösen - nicht einmal Geschwindigkeitsbegrenzungen sind durchzusetzen, weil die Automobillobby (als Vertreter der deutschen Leitindustrie) rebelliert, ganz zu schweigen von einem - ökologisch wahrscheinlich sinnvollen - Spritpreis von 3 Euro, wie ihn die Grünen einmal forderten. Dies dürfte jedoch schon deshalb nicht funktionieren, weil der öffentliche Nahverkehr im Chaos versinkt und überdies selbst ein Preisniveau erreicht hat, das in Europa einzigartig ist. Die Verkehrspolitik ist eingepfercht in dieser Mischung aus Lobbyismus und Missmanagement - die Deutsche Bahn, die eigentlich eine Trendwende in der Verkehrsplanung herbei führen sollte, bringt immer mehr Güter von der Schiene auf die Straße, erhöht die Preise ins Astronomische, dass das ökologisch höchst bedenkliche innerdeutsche Fliegen sich mittlerweile als preiswertere Variante geradezu aufdrängt. Der Servicebereich ist katastrophal, der DB-Vorstandschef Mehdorn fantasiert in irgendwelchen abgehobenen Visionen über den Zugverkehr der Zukunft und verrrät mit seinen Äußerungen einen vollkommenen Realitätsverlust. Überforderte, unterqualifizierte Beamte wähnen sich heute noch im monopolistischen Staatsunternehmen, wo man sich dem Kunden gegenüber alles erlauben kann. Der ungeliebte Nahverkehr wird preislich wie ausstattungsmäßig in einem Maße gehandikapt, dass der Einzelne für seinen Autoverzicht eine gehörige Portion Opfermut aufbringen muss, um die komplett überfüllten Züge auszuhalten, die zu selten mit zu wenigen Plätzen fahren. Die ständigen Verspätungen der Bahn wie auch der kommunalen Verkehrsmittel sind mehr als nur ein individuelles Ärgernis, sie unterwandern die allgemeine Stimmung, sie führen bei Tausenden und Abertausenden von Berufstätigen zu täglichen Verspätungen, zur Störung des Betriebsklimas und passen sich nahtlos in das Image, das der Deutsche sich heute selbst von seinem Land macht, dass nämlich nichts mehr recht funktioniert, wahrlich eine selbsterfüllende Prognose! Hier hilft wohl nur die Zerschlagung des Molochs Deutsche Bahn in verschiedene unabhängige Unternehmen, die jeweils für Nah- bzw. Fernverkehr zuständig sind. Noch besser wäre die forcierte Zulassung von Wettbewerbern.
Die Übergang vom Lobbyismus zur Korruption ist fließend. Schon deshalb, weil es in Deutschland - anders als etwa den USA und Großbritannien - keine Unvereinbarkeit zwischen Amt und wirtschaftlichen Funktionen gibt (wie Beratertätigkeiten). Wenn ein Politiker im Aufsichtsrat dieses und jenes Unternehmens sitzt, ist es klar, dass er selbst bei höchster Integrität Schwierigkeiten bekommen muss, wenn er gleichzeitig im Zuge seines öffentlichen Mandats z.B. für Ausschreibungen zuständig ist, bei der seine Firma mitbietet. Vorteilsgewährung oder Freundschaftsdienst, genau das bezeichnet diese zweideutige Grenze zwischen Lobbyismus und Verbrechen, um es einmal harmlos zu formulieren. Der Kölner Müllskandal hat gezeigt - beispielhaft für eine weit verbreitete Praxis -, dass diese Prozesse ganz so zufällig und absichtslos eben nicht über die Bühne gehen.
Es ist höchste Zeit, solche Nebentätigkeiten für Politiker zu verbieten, sie verdienen genug, erhöhen sich jährlich die Diäten, ohne dafür extra streiken zu müssen, und von den Ruhestandsgehältern der Ex-Abgeordneten können Normalbürger nur träumen.
In derartigen, hier nur exemplarisch angerissenen Hemmnis-Bündeln steckt die deutsche Gegenwartsgesellschaft, zudem sind diese miteinander verwoben, der Blick darauf vermittelt ein Gefühl der Ohnmacht, dass man ohnehin nichts daran machen könnte, dass hier die Politik gefragt sei, ohne dass man auf weiter Flur auch nur einen einzigen politischen Kopf ausmachen könnte, der genügend Format besäße, den gordischen Knoten zu lösen, den Mut, sich mit den Lobbyisten anzulegen (wenn Politik denn heute überhaupt noch dazu fähig sein sollte).
Es ist nicht verwunderlich, dass eine solche Situation ein denkbar schlechtes Klima für Innovationen und Fortschritt abgibt. Wobei sich hier die Frage stellt, was war eher da, das Huhn oder das Ei?
Natürlich beeinträchtigt der deutsche Gesellschaftsbeton auch die Möglichkeiten, neue Ideen und Technologien an den Start zu bringen. Lobbyismus und Parteienproporz haben in den letzten zwei Jahrzehnten dazu geführt, dass nicht immer die kreativsten Köpfe an die Positionen gelangt sind, wo die Weichen für zukünftige Entwicklungen gestellt werden. Und das führt ins „logistische“ und ethische Zentrum der Stagnation.
Für Mittelmaß bedeutet das Bizarre und Hochbegabte stets Gefährdung. Denn nur daran kann man Mittelmaß erst wirklich ermessen. Daher ist diese Konkurrenz auszuschalten oder gleichzuschalten, wegzudrängen, zu verhindern, womit auch der Fortschritt, das „andere Denken“, das Kreative ausgemerzt wird, der Mainstream, das Hergebrachte und Angepasste dagegen wird begünstigt. Das entspricht im übrigen dem generellen deutschen Argwohn gegenüber dem Intellektuellen, dem Kreativ-Abseitigen, das hierzulande nie als Chance, sondern stets als Risikofaktor angesehen wurde.
In diesen Kontext gehört auch die Ausgrenzung der Geisteswissenschaften. Natürlich studieren zu viele in diesen Fachbereichen und zumal, weil ihnen nichts Besseres einfällt. Der kontinuierliche Abbau der Humanwissenschaften jedoch, auch was die gesellschaftliche Akzeptanz angeht, ist für die idelle und begriffliche Leere der deutschen Gegenwartsgesellschaft mit verantwortlich. Welchem menschlichen, welchem gesellschaftlichem Ideal, welchem Ziel soll das gesamte Getriebe dienen? Das deutsche, romantische „Gemüt“, die klassizistische Teleologie, beides mag überkommen sein, sie wurden ersatzlos gestrichen. Weder eine Gesellschaftsvorstellung ist (nach dem Zusammenbruch des Sozialismus) geblieben noch eine individualphilosophische. Allein Gewinn ist übrig. Doch so sehr dessen Apologeten sich damit brüsten, in Habitus und äußerer Symbolik, die Leere überwinden sie nicht.
Das ist kein Plädoyer für den Wertkonservativismus, denn welche Werte sollten denn wie bewahrt werden? Verloren sind sie ohnehin. Jene Begriffe, die sich etwa Teile der Christdemokraten auf die Fahnen schreiben, Familie, Ehe, Christentum, man kann davon halten, was man mag, aber eines sind sie sicher nicht, nämlich gesellschaftsbildende Faktoren, die als Ferment der (scheinbar) klassenlosen Gemeinschaft von Wertschöpfern dienen könnten. Dass die Familie als Minimaleinheit sich einpassen könnte in das große gesellschaftliche Ganze, das dergestalt als Superstruktur aus einer Vielzahl von Familien-Monaden hervorgehen würde - ist eine alberne Illusion. Familien-Zugehörigkeit oder Singletum, Ehe oder Nicht-Ehe, die religiöse Ausrichtung, das sind jeweils beliebige Verzierungen in einer ebenso komplexen wie heterogenen Gesellschaft. Die westeuropäischen Staatengemeinschaften bestehen aus einer Vielzahl von ethnischen, kulturellen, sozialen Perspektiven und Praxen, die sich nicht mehr unter das Paradigma christlich-abendländischer traditierter Zivilisationsformen zwängen lassen. Ob die CDU-Familien-Apologeten etwa auch türkische Großfamilien und deren innere Struktur im Sinn haben??
Es müssen also neue Werte formuliert werden, die Identifikationsmuster für diese vielgestaltigen Gesellschaften entwerfen, worin Demokratie und Menschenrechte, ethnische und soziale Emanzipation berücksichtigt werden. Es muss ausgearbeitet werden, was bei aller Heterogenität das Gemeinsame und Verbindende in den sozialen Verbünden der Gegenwart sein könnte. Das wäre neben der Soziologie auch eine Aufgabe für Philosophie, Anthropologie, Ethnologie, Historie und Religionswissenschaft, aber auch die ästhetischen Wissenschaften: Kunst-, Literatur-, Musik, Film- und sogar Mediengeschichte.
Nur ein Zusammenwirken der Humanwissenschaften bei gleichzeitiger Anerkennung ihrer Leistungen (bessere finanzielle Ausstattung und auch Medienpräsenz), ihrer Begriffsfindungen und gesellschaftsförderlichen Resultate könnte eine ethische Evaluation bewirken.
Welthaltigkeit, Realitätsbezug, soziale Relevanz bleiben den Künsten anderer Länder vorbehalten, auf dem größten europäischen Binnenmarkt wird kurzerhand all das importiert, was der eigenen Kultur fehlt. Die monopolistischen Konglomerationen im Medienbusiness forcieren die Situation zusehends. Nur was unmittelbar Erfolg hat, findet den Weg auf den Markt, Erfolg, Gewinn, Profit, das ist auch hier einziger positiver Existenzbeleg. Seit gut hundert Jahren sind Kulturgüter auch Waren, heute sind sie nichts anderes mehr.
Die didaktische Funktion, mitzuwirken am wertebildenden Prozess in der Gesellschaft, können sie so nicht erfüllen. Das erweist einmal mehr, dass nicht nur Kultur und Wissenschaft, sondern auch das, wofür sie stehen: zvilisatorischer Fortschritt, menschliche Emanzipation, in Deutschland luxuriös sind, das, was man sich leistet, wenn noch ein paar Groschen übrig sind.
Dieses Gesetz gilt allerdings nicht, wenn Kultur staatstragend wirkt, wenn sie der Repräsentanz allein sich unterordnet. Kaspar Maase hat in einem Aufsatz auf die Kongruenz zwischen den pomphaften Inszenierungen des Kaiserreichs und denen der Berliner Republik hingewiesen3. Hier ist nun nichts zu teuer, seien es die Abgeordneten-Häuser und -Wohnstätten im Spreebogen, das neue National-Museum oder große Ausstellungsprojekte als Leistungsschau deutscher Gegenwartskunst.
3 vgl. Kaspar Maase, Des Kanzlers Scorpions sind des Kaisers Weiße Rößl. Über populäre Kultur als repräsentative Kultur, in: Merkur 632, 55. Jg. (Dezember 2001), S. 1138-1143, hier besonders: S. 1139 |
Leider ist Kunst als bloße Repräsentanz hohl, sie entbehrt der Reibungsflächen und damit jeglichen Inhalts. Alles, was der Glättung widersteht, fällt durch den Rost. Der eigentliche Humus des Fortschritts, des unmittelbaren, sozialen Kontakts, die jungen, subkulturellen Szenen der Großstädte, sie bleiben wie traditionell ausgesperrt. Nur einzelne kommen in den Genuss gewisser Förderungen, wenn sie von vornherein ihr Einverständnis mit Marktdiktat, Stromlinienförmigkeit des Ausdrucks und Affirmation erklären, Vorstufe dessen, Teil zu werden, Teil eines mediokren Zirkelschlusses, welcher der Selbsteinebnung aller gesellschaftlichen Widersprüche dient.
Das aber ist vollkommene Illusion. In der Sackgasse löst sich nichts auf, sondern alle Widerparts stoßen verstärkt aufeinander. Selbst erfolgreichste, kulturelle Äußerungen werden darauf keinen Einfluss haben, oder besser: gerade sie nicht. Die Ubiquität der Bestseller-Produzenten gleichwelcher Sparte, ihre dauernde mediale Anwesenheit, das Merchandizing, das sich mit seuchenhafter Folgerichtigkeit daran anschließt, bringt jegliche deutende und bedeutende Kraft zum Erliegen, passt das Produkt ein in die Beliebigkeit des Warencharakters, Buch oder Waschlappen - das ist lediglich eine Frage des Covers.
Beides hält niemanden von Kriminalität oder Gewalt ab, Anarchie verhindert es nicht. Aber mit dem Lesen ist es wie mit dem Waschen, Hauptsache, man tut es. Dann ist die Leseförderung zufrieden, und der/die Resozialisierte kann sich nach durchstandener Prozedur wieder der BILD-Zeitung zuwenden. Die Gesellschaft kommt damit nicht weiter, das ist klar, aber das wäre ohnehin zu viel verlangt.
Als ungutes Gefühl bleibt nur, wo soll der positive Impuls denn überhaupt herkommen, wenn das für alle Teilsysteme eigentlich zuviel verlangt ist: Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Wissenschaft, Kultur? Sollen wir uns denn abfinden? Sackgasse und Niedergang akzeptieren? Sollte man nicht doch versuchen, in allen Teilsystemen etwas zu ändern, Bewegungen in Gang zu bringen? Damit irgendwann der Koloss, die Gesamtgesellschaft, mählich mählich wenigstens ein bisschen ruckt?
4 womit hier NICHT wie sonst, wenn im gesellschaftlichen Diskurs vom „Kürzertreten“ die Rede ist, die Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger gemeint sind, sondern die (weitaus größere) Masse derer, die tatsächlich noch etwas haben. |
Fragen über Fragen. Zumal die wichtigste aller Fragen noch fehlt: Wie?
Die Antwort darauf ist: überhaupt einmal anfangen, etwas ausprobieren, notfalls improvisieren und nachbessern, nicht schon von vornherein jegliche mögliche Initiative so lange zerrreden, bis sie nicht mehr aktuell ist, bzw. sich gleich lieber dafür zu entscheiden, gar nichts zu tun. Die Antwort hat mit umdenken, anders denken, neu (durch)denken zu tun. Nicht vom Status Quo, sondern vom nötigen Wandel ausgehen. Es schnell tun, Kompromisse akzeptieren, nicht selber Veränderungen im Weg stehen, Befindlichkeiten zurück stellen4 , mehr Risiko übernehmen, nicht nur auf Profit, sondern auch auf ideellen Nutzen hinarbeiten, andere miteinbeziehen, dafür etwas abgeben, wenn es sein muss.
Utopisch? Illusionär? Gewiss, aber ohne Utopien und Illusionen ist der Absturz sicher.
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