Pochoirs
und
negative
Hände
Die Idee, Bilder mit Hilfe einer Schablone herzustellen, ist uralt. Schon in
den steinzeitlichen Höhlenmalereien haben die Künstler die in ihrem Speichel
aufgelösten Farbpigmente gegen ihre an die Höhlenwand gelegte Hand geblasen,
so dass die Fläche der Hand aus dem Farbauftrag ausgespart blieb und die
Farbe auf der Wand eine so genannte negative Hand umrandete.
Um das Jahr 1980 herum kam in Paris der Trend auf, Graffiti mit Hilfe von
Schablonen anzufertigen. Sie wurden "Pochoirs" genannt, nach dem
französischen
Wort für Schablone (wobei "pochoir" sowohl die Schablone als auch das damit
erzeugte Bild bezeichnet).
Einige Pochoirs und ihre Urheber sind seitdem weithin bekannt geworden, etwa
die Banane von Thomas Baumgärtel oder die kunstvollen, oft lebensgroße
Menschen darstellenden Schablonen von Blek le rat (Künstlername von Xavier
Prou).
Längst sind Schablonen-Graffiti auch in Berlin weit verbreitet.
Schablonen dienen dazu, gleichartige Grafiken in größerer Stückzahl zu
erzeugen; sie ermöglichen höhere Auflagen des gleichen Motivs.
Schablonen-Bilder
sind reproduzierbar und auf Vervielfältigung angelegt. Gleichwohl entsteht
bei
jeder Verwendung der Schablone ein Unikat. Kein Schablonen-Graffiti fällt
aus wie das andere: Die Untergründe, auf die die verschiedenen Abbilder
derselben Schablone aufgetragen werden, unterscheiden sich in Färbung und
Textur,
werden rissig und bröckeln hier und da ab. Die Sprühfarbe wird dicker oder
dünner aufgetragen; manchmal verläuft sie ein wenig, und mit der Zeit
verblasst
sie.
Mich interessiert das Einzigartige, Unverwechselbare an der
Serienproduktion, die zufällige Abweichung von der Norm, die unbeabsichtigte
Variation in
einer auf gleichförmige Ergebnisse ausgerichteten Vervielfältigungsmethode.
Deswegen habe ich mich hier auf verschiedene Abbilder derselben Schablone
beschränkt.
Pochoirs sind - ihrer Reproduzierbarkeit ungeachtet - eine vergängliche
Kunstform. Nicht selten werden die Schablonen-Graffiti von anderen Menschen
weiterbearbeitet - mit Auklebern oder Plakaten überklebt, mit Filzstiften
oder
Kreide überschrieben oder kommentiert, durch eigene Graffiti ergänzt oder
überlagert. Andere Pochoirs werden schon bald nach ihrer Anfertigung wieder
übergestrichen oder entfernt; die übrigen verblassen infolge natürlicher
Alterungsprozesse. Einige der hier abgebildeten Pochoirs existieren
mittlerweile nicht
mehr.
Seit etwa fünf Jahren dokumentiere ich die Pochoirs fotografisch, die mir
bei meinen Streifzügen durch Berlin auffallen. Meine Fotos dienen jedoch
nicht
nur der Dokumentation einer vergänglichen Kunstform. Das Pochoir wirkt in
grellem Licht anders als im Schatten, im rötlichen Licht der Abenddämmerung
anders als im blauweißen Neonlicht einer Straßenlaterne, so dass von einem
und
demselben Exemplar eines Pochoirs verschiedene Abbilder auf Fotomaterial
entstehen. Meine Fotografien der Pochoirs fallen daher - zum Beispiel je
nach den
Lichtverhältnissen und dem Alter des Pochoirs - unterschiedlich aus. Dadurch
geraten auch meine Fotos - als Reproduktionen des Reprodukts - wiederum zu
Unikaten.
Neben Pochoirs interessieren mich auch andere Formen der Gestaltung von
Wänden und Mauern im öffentlichen Raum, zum Beispiel alte kommerzielle
Fassadeninschriften ("Brot und Butter") und die Décollagen, die mehr oder
weniger
zufällig entstehen, wenn in mehreren Lagen übereinandergeklebte Plakate
teilweise
wieder abgerissen werden.