HERZDOKUMENTE:
Abfall für alle
Die erkaltete Herzensschrift hat im Internet ihre Heimat gefunden. Annähernd 19.000 Einträge verzeichnet eine Suchmaschine zu den Stichworten „Tagebuch“ und „Diary“ auf Anhieb. Nach der poststrukturalistischen Formel „Alles ist Text - und jeder ist Texter“ ergibt sich daraus eine Totalschrift, gegen die Walter Kempowskis „Echolot“ wie ein flüchtig skizzierter Gedankensplitter erscheint. Die Stärke des Aphorismus aber liegt in der pointierten, geistreichen Konzentration, die alles Überflüssige ausscheidet. Im Gegensatz dazu nannte der Schriftsteller Rainald Goetz sein virtuelles „tägliches Textgebet“, das vom 2. Februar 1998 bis zum 10. Januar 1999 in insgesamt 7³ (in sieben Kapiteln à sieben Wochen mit jeweils sieben Tagen = 343) Folgen im Internet unter der Adresse "www.rainaldgoetz.de" erschien, ganz bewußt: „Abfall für alle“. Diese apokryphe Schrift zählt zu den bedeutendsten literarischen Werken dieses Jahrzehnts, und durch sie wurde der „Chronist des Augenblicks“ (Christoph Buchwald über R.G.) der erste ernstzunehmende Dichter des digitalen Zeitalters.
Ein im Internet publizierter Text ist nicht dokumentenecht, denn er entsteht und verschwindet auf fremden Bildschirmen. Potentiell wendet er sich an alle, faktisch existiert er überhaupt nicht. Auch ein Ausdruck kann ihn nicht retten, da er von seinem Wesen her formal und inhaltlich manipulierbar ist. Schon deshalb wird das Internet nie das literarische Buch ersetzen, wohl aber ergänzen können. Zum einen, weil ein Rolltext keine Grenzen kennt. Er ist ufer- und rücksichtslos, wendet sich an eine transzendente Leserschaft, ist häufig geschwätzig und banal. Zum anderen simuliert das Internet Gegenwart, Geschwindigkeit, Gleichzeitigkeit; für Rainald Goetz ein entscheidendes Kriterium bei der Medienwahl: „Ich las die Tagebücher von Jünger, Krausser oder Rühmkorf, und dachte immer: wenn man nur wüßte, wie es JETZT steht, was er JETZT macht, JETZT denkt.“
Fast ein Jahr hindurch hat Goetz den totalen Textentzug, den Raubbau am Privaten geprobt; die immediaten Leser wurden Zeugen seiner Wutausbrüche, seiner Computerprobleme, seiner politischen, poetischen und persönlichen PRAXIS (so auch der Titel der Frankfurter Poetik-Dozentur von Goetz). Er veröffentlichte Einkaufszettel, literarische Traktate, Tagesberichte, Korrespondenzen, Gedanken, Inventarien - eben all das, was am Schluß einer literarischen Tätigkeit vom Endprodukt abfällt. Insofern meint „Abfall“ das Nicht-Literarische, das Un-Gekünstelte, das zwar für das Werk Zweitrangige, für den Künstler, den Schöpfer, jedoch Maßgebliche. Sein Internettagebuch ist aber weit mehr als bloß ein Sozialarchiv, eine Materialsammlung oder ein exhibitionistisches, mitteilungsfreudiges Stückwerk, und trotzdem um einiges verstörender als etwa Georges Perecs „Versuch einer Bestandsaufnahme aller flüssigen und festen Nahrhungsmittel, die ich im Verlauf des Jahres 1974 hinuntergschlungen habe“. Denn im Zentrum der Lebensabschrift steht immer der Künstler, der Autor, das authentische Ich.
Seit Rainald Goetz Anfang der 80er Jahre die literarische Bühne mit großem Trara betreten hat, sind sich Freund und Feind darüber einig, daß sie es hier mit einem Schriftsteller zu tun haben, der über eine außergewöhnliche „Wort-Gewalt“ und „eruptive Leidenswut“ verfügt. Man verglich ihn mit Heiner Müller und Thomas Bernhard, doch gleichzeitig verkörperte Goetz den fast schon ausgestorbenen Typus des romantischen Dichters. Und erst heute wird klar, daß er eine radikale Ausgeburt der „Neuen Innerlichkeit“ ist, ein Autor, der die „blaue Blume“ in den Tiefen seiner Seele (vergeblich!) sucht und allein die „Verschriftung der eigenen Person“ betreibt. Dadurch ist er unberechenbar, naiv, brutal: Waffe und Zielscheibe zugleich. Nach eigenem Bekunden besteht Goetz zu 90 Prozent aus Haß und kann nicht trennen zwischen Literatur und Leben. In jeder Situation führt Goetz Protokoll, kein Freund oder Bekannter weiß, was er demnächst wieder über sie schreiben wird. Goetz: „Mein Lebensideal ist so völlig klar, und zwar wirklich ewig schon, und es ist megasimpel: alles für den Text, aus der richtigen Verbindung von Leben und Arbeit heraus. Wie ich sie zum Beispiel von den besten Nachtleben-Aktivisten her kenne.“
Ursprünglich sollte eine CD-ROM mit den gesammelten "Abfall für alle"-Einträgen erscheinen - ein absurder Versuch, die Gleichzeitigkeit und Flüchtigkeit des Moments zu bannen! Und auch wenn der Suhrkamp Verlag nun die Originaltexte komplett und nahezu ohne Eingriffe in Buchform vorlegt, in einem fetten, relativ preiswerten Wälzer mit dem Untertitel "Roman eines Jahres", darf man nicht den Fehler machen, das Internettagebuch auf seine Schriftlichkeit zu reduzieren und allein anhand von literarischen Kriterien zu bewerten.
Zweifelsfrei ist „Abfall für alle“ auch ein beispielloser Künstlerroman, ein Herzdokument über die Literatur im Leben, doch für alle vernetzten Teilhaber war es mehr: Leben in Literatur. Selbst Rainald Goetz hatte, wie er im letzten Eintrag gestand, seine Schwierigkeiten mit der Unterscheidung: „JEDE echte Reaktion hat mich immens verunsichert. Sie wurde sofort so groß und wichtig, zog ungebührlich Reflexion auf sich. Und ich dachte dann, falsch, ich darf an gar nichts denken, dann wird es schon richtig, wenn nur die Reflexe reagieren. Dauerndes Umschalten, ganz automatisch, an alles denken, an nichts. Den Ton, den man hat, erstaunt begrüßen; annehmen, verachten; bespielen, bekämpfen; genießen, benützen und wegschmeißen; feiern und gar nicht kennen; verstehen, verstoßen, ersehnen und wieder vergessen, und all das wieder von vorn irgendwie. Der Tag ist ein göttliches Maß. Er hat eine sehr schöne Länge. Er beginnt morgens so groß und endet nachts tief gebückt und beladen. Schlaf kommt, und Trost, Träume und Nacht. Und morgen wird die Sonne wieder scheinen.“
Die jüngste Erzählungen, Interviews und Theaterstücke von Goetz haben bloß eine einzige Aufgabe: die Verschriftung von Musik, die Übersetzung des Sprachlosen in Literatur. Ein aberwitziges Unterfangen, denn Musik und Literatur sind Ausdruck des gleichen Themas: künstlerische Existenz! In „Abfall für alle“ hat Rainald Goetz seine fast ein Jahr hindurch beispiellos zelebriert.