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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen


 

September 2001
Anne Hahn
für satt.org


Annett Gröschner:
Moskauer Eis
Roman
Gustav Kiepenheuer Verlag
Leipzig 2000

Annett Gröschner: Moskauer Eis. Link zu amazon.de

288 Seiten, geb
EUR 18,90

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sattLinK:
Rezensionen:
Moskauer Eis
Hier beginnt die Zukunft …

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Das Porträt einer Phänomenologin des Alltäglichen
- Die Autorin Annett Gröschner -

Eine junge Frau erhält vor einem mobilen Fahrkartenschalter in der Haupthalle des Magdeburger Hauptbahnhofs einen Heiratsantrag. Klaus rutscht auf Knien heran, einen riesigen Rosenstrauß ausstreckend. Barbara will den Zug nach Berlin nehmen, braucht nur "einmal Berlin, einfache Fahrt" zu sagen. Die Welt würde ihr zu Füßen liegen.. Sie entscheidet anders. "Barbara ließ sich von Klaus den Koffer abnehmen, legte sich den Rosenstrauß wie einen Säugling über den linken Arm und verließ den Bahnhof." Am nächsten Tag werden die Sektorengrenzen in Berlin geschlossen und Kampfgruppen ziehen Stacheldraht entlang der Grenze zu den Westsektoren. Barbara und Klaus, der Kältetechnikingenieur, heiraten und leben in Magdeburg. In der Silvesternacht 1963/64 kommt die Heldin und Ich-Erzählerin eines Romans, Annja Kobe, zur Welt.

Und wie ihre gleichaltrige Schöpferin Annett Gröschner wächst Annja in Magdeburg auf einer Insel in der Elbe auf. In ihrem Roman "Moskauer Eis" beschreibt die Autorin das Landstück ihrer Kindheit. Es gab nur neun oder zehn Straßen auf dieser Insel und dahinter einen großen Park mitten im Strom Elbe, der ihre Sehnsucht prägte. An der Stadt selbst lässt Annett Gröschner aus vielen Gründen kaum ein gutes Haar. "Magdeburg hatte tatsächlich nicht viel Liebenswertes." Die Stadt war nach dem Krieg nur noch ein Trümmerhaufen und wurde dann recht und schlecht wieder aufgebaut. Lediglich den Fluss vermisst sie in Berlin, wohin die Autorin im Alter von 19 Jahren zog. Wenn sie nicht so sehr am Prenzlauer Berg hinge, "würde ich vielleicht auf die Stralauer Halbinsel ziehen, denn die erinnert mich an meine Kindheit. Ich fahre dort manchmal hin, um an der Spitze am Ufer zu sitzen und ins Wasser zu starren."

In Berlin machte sie das Übliche: mit einem Dietrich losziehen und Wohnungen suchen. Sie fand schließlich eine in der Schönhauser Allee. Ein Leben in zwei Welten begann. Von nachmittags bis morgens lebte Annett Gröschner im Prenzlauer Berg, und tagsüber studierte sie an der Uni. Viele ihrer Freunde waren Aussteiger, sie war die Angepasste, die studierte. "Mir fehlte der Adel der Subkultur."

1994 erschien der Gedichtband "Herzdame Knochensammler" Annett Gröschners mit Fotografien von Tina Bara. Heute schreibt sie keine Gedichte mehr, "im Moment habe ich keine Metaphern". Sie brach ihr Studium ab, schrieb, machte Reportagen. Sie war vertraut mit dem Leben in der Kleinstadt, konnte sagen "Erzählen Sie mal, ich bin ooch aus dem Osten."

Von 1992-95 konzipierte sie mit dem Gestalter Grischa Meyer das Projekt "Kriegspfad Berlin. Moskauer Zeit in Prenzlauer Berg". Ein Ergebnis der Arbeit ist die von der Autorin ausgewählte und kommentierte Schulaufsatzsammlung "Ich schlug meiner Mutter die brennenden Funken ab". Berliner Schulkinder berichten in Aufsätzen aus dem Jahre 1946 ihre Kriegserlebnisse im Frühjahr 1945.

In der Zeitschrift "Sklaven" veröffentlichte Annett Gröschner unter anderem ihre aus Interviews entstandenen Geschichten, die dann zusammen 1998 in dem Band "Jeder hat sein Stück Berlin gekriegt - Geschichten aus dem Prenzlauer Berg" erschienen. Das Buch zur Gleimstraße; "Grenzgänger. Wunderheiler. Pflastersteine" folgte darauf. Ein Autorenkollektiv unter der Leitung von Annett Gröschner hatte zwei Jahre lang erforscht, wie in der Gleimstraße auf beiden Seiten der Mauer gelebt wurde. In ihrer Betrachtung "Wie geht's, ihr Ostsäcke" veranschaulicht die Autorin sehr unterhaltsam, wie die DDR-Grenzsoldaten entlang der Berliner Mauer in Mitte ihren Abschnittsalltag protokollierten. "Durchgangszimmer Prenzlauer Berg: Eine Berliner Künstlersozialgeschichte in Selbstauskünften" nennt sich die jüngste Veröffentlichung der Gröschner zum Prenzlauer Berg. 27 Männer und Frauen berichten. Das Bewahren von Alltag, Stimmungen und Bildern ist die kostbare Fracht dieses Bandes.

"Ich habe mich zu Ostzeiten nie als DDR-Bürger gefühlt, nicht klein, nicht eingesperrt, sondern als Europäer." Annett Gröschner holt aus, "wenn das Jahr Anarchie nicht gewesen wäre, wäre die DDR abgehakt gewesen". Doch dann kam der Schnitt, der neue Besitzer, und das "Plattmachen" nahm seinen Lauf. In dem Moment sagte sich die Gröschner, also, "Prenzlauer Berg, das bin ich auch!" Sie entdeckte Orte, die sie vorher nicht gesehen hatte. Und als klar wurde, das gehört jetzt jemandem, war plötzlich wichtig, welche Geschichte dahinter steckte, bevor die Spuren verschwinden. Heute arbeitet Annett Gröschner kaum noch zum Prenzlauer Berg. Alles sei gesagt.

Stattdessen hat sie als Beraterin in der JVA Tegel an den Proben des AufBruchEnsembles zu "Gladow-Casting/Das 11. Gebot" teilgenommen. Im Januar 1999 war ein Sonderheft der "Theater der Zeit" zu Gladows Gang erschienen, zusammengestellt von Annett Gröschner und Grischa Meyer. Seither ist der jugendliche Räuber des Nachkriegsberlin wieder in mediales Interesse gerückt. In Tegel spielten Strafgefangene Gladow und seine Jungs nach, spielen sich selbst. Die Möglichkeit, auf engem Raum in offensichtlicher Gefangenschaft ein Spiel zu suggerieren, beeindruckten die Autorin: "Das liegt meiner eigentlichen Arbeit nahe, ich kümmere mich gern um die Dreckecken, die Abartigkeiten der Gesellschaft."