Mit dem
Weihnachtszug durch Berlin
Ein neues Buch von Annett Gröschner zur Berliner Verkehrsgesellschaft
„Die großen Magistralen sind vom Schnee geräumt. An den Rändern hat sich der Schnee in Matsch verwandelt. Auf den Fußwegen bewegen sich die Menschen wie Roboter durch den glitschigen Schnee. Es sind null Grad.“
Nein, es sind Minus neun Grad draußen und jeder der circa dreißig Fahrgäste im Weihnachtszug der BVG ist heilfroh, drinnen zu sein. Die Straßenbahn ist soeben am Hackeschen Markt gestartet. Zu einer ungewöhnlichen Lesung. Die Autorin Annett Gröschner hat an zwei Abenden zur Buchvorstellung ihrer Textsammlung „Hier beginnt die Zukunft, hier steigen wir aus“ eingeladen. In die Straßenbahn. Während der Adventszeit. Mit Weihnachtsschmuck, Salzbrezeln, Glühwein und einem Fahrer mit Weihnachtsmannmütze. Der erste Text, den die Autorin aus dem 216 Seiten dicken Buch im griffigen Format liest, ist die Weihnachtsgeschichte „An der nächsten Haltestelle ist Schluss“ der Nachtbuslinie 52. Wir rollen gerade die Oranienburger Straße hinab, am Tacheles entlang. Nebel wabert über einem Bauloch. Zwei Unverdrossene stehen mit Bierbüchsen vor dem Kiosk an der Haltestelle Ecke Friedrichstraße. Der Bus der Geschichte steuert auf die Torstraße zu.
„Sehr jeehrte Fahrgäste, ick muß Ihnen leider mitteilen, dass ick Sie nur bis zur nächsten Haltestelle befördern kann. Ein Schneeball hat mir einen Spiegel wegjerissen.“
Was in einer Nacht des ersten Weihnachtsfeiertages vor zwei Jahren passierte, könnte sich heute schon anders anhören. Vielleicht würde der Satz inzwischen so enden: „ …ein Passant hat mick eine Scheibe wegjeschossen.“ Aber die Geschichten von Annett Gröschner sind noch vor der Attentatserie auf Berliner Busse und Bahnen geschrieben worden.
Mehr als zwei Jahre lang fuhr die Autorin „professionell“ mit Bus und Bahn durch die Stadt. Der Fahrplan der BVG verzeichnet in seiner jüngsten Ausgabe dreißig Straßenbahnlinien, 238 Buslinien und sechs Fährlinien. Dazu kommen noch fünfundsechzig Nachtverbindungen. „Alle abzufahren würde bedeuten, jahrelang unterwegs zu sein.“ In ihrem Buch versammelt Annett Gröschner Fahrten mit vier Straßenbahnlinien, dreizehn Buslinien, einer Fähre und einem Nachtbus. Ein Kriterium ihrer Auswahl war, „ob die Linie unsichtbare soziale, kulturelle und auch politische Grenzen überschreitet.“
Bei diesen Fahrten durch soziale und kulturelle Segregationen beobachtet Annett Gröschner ganz genau. Sie beschreibt nicht nur das tatsächlich Gesehene, Gehörte, sondern auch das Dahinter, Davor und Dazwischen. Die Fülle von historischen Einsprengseln, Anekdoten und Gesprächswiedergaben der Fahrgäste macht dieses Buch so spannend wie liebenswert. Man möchte es immer bei sich tragen, nachschlagen, schmunzeln, lernen. Eine meiner Lieblingsgeschichten des Buches ist die Fahrt mit dem Bus Nummer 100, mit zwei zehnjährigen und einem sechsjährigen Kind. Annett Gröschner lässt die Kinder reden und schauen.
„Als die Reichstagskuppel gebaut wurde, hat Friedrich insistiert. Uns Kinder fragen die nie, wenn sie so was bauen. Schreib mal in der Zeitung, dass wir diese Kuppel blöd finden. Sie ist viel zu groß. Wie ein echter Berliner, der erstmal alles schlecht findet, bevor er seinen Frieden schließt, hat er sich inzwischen damit abgefunden, dass der Reichstag nun einen Hut aufhat … Hinter dem Reichstag tut sich eine weitläufige Wüstenei auf, von einem Neubauriegel begrenzt. Wohnt dort der Bundeskünstler? fragt Adrian …“
Schon beim ersten Abdruck einiger der Fahrtbeschreibungen in Berliner Tageszeitungen erfreuten sich die Reportagen wachsender Beliebtheit. Inzwischen sind die „Berliner Seiten“ der FAZ eingestellt, das Palasthotel am Berliner Dom ist einem ganz ähnlich wirkendem Glaspalazzo gewichen, das Kanzleramt an eine anderes Ufer der Spree verzogen … Die Zeit dreht sich schnell in Berlin. Schon zwei Jahre reichen, um die beschriebenen Strecken mancherorts zur Erinnerungstour werden zu lassen. Anderes hat Fortbestand. Als wir die Chausseestraße entlang rattern, liest Annett Gröschner gerade aus „die längste Straßenbahnlinie Berlins“. Über die Linie Nummer 6. In deren Gleis kommen wir am Dorotheenstädtischen Friedhof vorbei.
„Egal, ob der Besucher mit Brecht, Becher oder Heiner Müller Zwiesprache hält, die Straßenbahn ist immer dabei und erschüttert die Gräber wie ein leichtes Erdbeben. Auch die Vorleser im Brecht-Haus nebenan müssen sie notgedrungen in ihre Texte einbauen. Wenn sie vorbeidonnert, heben sich die Stimmen der Dichter, empfindlichere Gemüter machen eine Pause, bis die Bahn an den Schaufenstern vorbei ist. An diesem späten Nachmittag werden die Stühle für eine Abendveranstaltung ausgerichtet.“
An diesem frühen Abend im Dezember sammelt sich gerade Publikum zu einer Lesung, ein Kopf dreht sich zum ratternden Weihnachtszug herum.
Im Vorwort der Textsammlung charakterisiert Annett Gröschner die typischen Fahrgäste. „Das Gros der Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel sind, neben den Berufspendlern, Jugendliche vor dem Erwerb des Führerscheins, ältere Frauen und Mütter mit Kindern. Sie trifft man in jeder Linie und zu jeder Tageszeit, und die Offenheit, mit der sie private Dinge in der Öffentlichkeit ausplaudern, lässt darauf schließen, dass Bus oder Straßenbahn nicht mehr und nicht weniger als Verlängerungen des Wohnzimmers sind.“ Die ungeübten, weil unfreiwilligen Fahrgäste öffentlicher Verkehrsmittel, erkennt die Autorin sofort. „Sie wissen nicht, wie man bei unfreundlichen Fahrern unbeschadet einen Fahrschein erwirbt oder wie herum ein Ticket in den Entwerter gesteckt werden muss.“
Unsere Weihnachtszug umrundet inzwischen wieder den Hackeschen Markt, um dann zum Prenzlauer Berg hinaufzufahren. Wir hören den Text „Vom Flughafen zum Friedhof“, die Buslinie 184. An der Ecke Prenzlauer Allee/Danziger Straße steht auf der Mittelinsel seit zwei Wochen ein ausgebrannter PKW, der mit weißer Farbe bemalt wurde. Auf beiden Türseiten ist eine schwarze UNAufschrift zu erkennen. Am S-Bahnhof Prenzlauer Allee verstellen Baucontainer eine Fahrspur. Am Kino der Brotfabrik an der „Spitze“, wo Weißenssee, Prenzlauer Berg und Pankow aneinander stoßen, lockt die Werbung „Kühe, vom Nebel geschwängert.“ Was mag das für ein Film sein? Rätselhaft und tiefgründig erscheint einem die Welt außerhalb der Straßenbahn, unterwegs mit Annett Gröschner.
Am „Weihnachtsbaumparadies“ vorbei rattern wir durch Weißensee. An der Thomas-Mann-Straße schaut ein Engel mit einem Fernglas auf die Straße. Neben einem Supermarkt. Wir hören die Geschichte der Straßenbahnlinie Nummer zwanzig.
„Die 20 ist die Straßenbahnlinie meiner Träume. Frühmorgens, wenn sie nach Betriebsbeginn ab fünf Uhr alle zehn Minuten an meinem Bett vorbeirollt, hat sie es schon oft geschafft, eingebaut zu werden in irgendeinen Alptraum. Sie fährt auf dem Mittelstreifen der Danziger Straße. Das Gleisbett ist von den Fahrbahnen durch kleine Zäune getrennt, die verhindern sollen, dass eine Straßenseite von der anderen Notiz nimmt. In der Reihe sind inzwischen viele Lücken, denn in der Nacht haben die Autofahrer die Angewohnheit, von der Spur abzukommen und die Zäune zu unansehnlichen Drahtverhauen zusammenzufahren, die aus Mangel an Geld nicht ersetzt werden. Sie sorgen dafür, dass die Kommunikation mit der anderen Seite nicht erlahmt.“
Wir fahren inzwischen die Greifswalder Straße hinunter in Richtung Alexanderplatz, Annett Gröschner berichtet von ihrem Nachbarn, der im Laufe seines Lebens zweimal mit der 20 oder ihren Gleisen in Berührung kam. Er „war im vorletzten Winter fünf Wochen krankgeschrieben, weil er angetrunken über die Schienen gestolpert war und sich den Arm gebrochen hatte. Es war nicht das erste Mal.“
Wir passieren die Kreuzung Greifswalder Straße/Danziger Straße und sehen den beschriebenen Mittelstreifen mit den Drahtverhauen.
„Den schlimmsten Alptraum habe ich behalten, denn er spielte sich in der Wirklichkeit ab. Es war ein Sonnabend letzten Herbst, als ich zur Straßenbahn rennen wollte, quer über die Straße und den Mittelstreifen zur hinteren Tür der Niederflurbahn, die an der Kreuzung immer sehr lange auf die grüne Ampel warten muss. Ich sah noch, dass es die Bahn war, die für Eisern Union wirbt. Im selben Moment knallte es. Dumpf, als wenn ein Sack aus großer Höhe fällt. Ein Schrei, und dann war es für eine Sekunde still. In allen Lüften hallt es wie Geschrei/Dachdecker stürzen ab und gehen entzwei. Jacob van Hoddis Gedicht war Wirklichkeit geworden, auch wenn der Abgestürzte genaugenommen kein Dachdecker, sondern ein Gerüstbauer war. Der Mann lag in einer Blutlache auf dem Pflaster.
Er lebte noch, und seine Augen, die zwischen den Hinzugestürzten hin- und herwanderten, hatten einen unbeschreiblichen Ausdruck. Am nächsten Morgen lag ein Kranz an der Stelle, wo gestern noch der Blutfleck war. Jemand hatte noch einen brennende Kerze danebengestellt, die aber vom ersten herumstreunenden Hund umgeworfen wurde. Auf dem Weg ins Krankenhaus war der Gerüstbauer gestorben.
Vielleicht hatte er nur einen kurzen unaufmerksamen Moment der Straßenbahn hinterhergesehen.“
Der Weihnachtszug fährt viel zu schnell wieder am Hackeschen Markt ein. Die Lesung war ein Erlebnis der unvergesslichen Art. Das alle Genre brechende Buch Annett Gröschners ist ein unterhaltsames Berlin-Lehrbuch für Kiezverhaftete und Fremde. Wie schon in früheren Sachbüchern hat die Autorin akribisch recherchiert, führt mit fundiertem Wissen und trockenen Humor durch eine lebendige, unbekannte Stadt, die es mit ihren Augen zu entdecken gilt. Auf ihren Reisen begleitete sie der Fotograf Arwed Messmer mit einer russischen Panoramakamera namens „Horizont“, deren eindrückliche s/w-Abzüge eine Geschichte für sich bilden. Mit einem letzten Glühwein wärmen sich die Gäste des Weihnachtszuges, bevor sie in die kalte Dezembernacht entlassen werden. Nach einer doppelten Reise durch die Stadt.