Wohin eilen, wohin nicht eilen?
Unterwegs auf der Frühjahrsbuchmesse
Leipzig leuchtete. Am Bundesverwaltungsgericht, vom Heimatdichter Erich Loest neulich noch als »Reichsgericht« besungen, dessen Kuppel einen entscheidenden Beitrag zur Stadtsilhouette liefert, muss nur noch der Bauzaun verschwinden. Die Bibliotheca Albertina nebenan erstrahlt im Widerschein der Sonne, und in der Innenstadt ist das hässliche Messeamt weggesprengt. In der Nähe der Universität wurde kürzlich die Galeria Kaufhof eröffnet, in der es 50 verschiedene Senfsorten gibt. Einzig das Deutsche Literaturinstitut geht mit einem Manko aus dem letzten Jahr hervor. Das neben ihm gelegene US-Konsulat ist weiträumig abgesperrt und das Risiko für das Institut, wegen Streuwirkungen zusammen mit dem Konsulat Opfer eines Anschlags zu werden, anscheinend so hoch, dass dort keine Lesungen stattfanden.
Das machte aber nichts, jede Leipziger Lokalität, die was auf sich hält, wurde zum Veranstaltungsort für Literatur. Doch bevor sich ab der Abenddämmerung das Publikum in die Kneipen und Clubs der Stadt verlagerte, spielte das Geschehen in den beiden Messehallen. Die vielen Lesenischen haben mittlerweile selbst eine zehnjährige Tradition, das »Berliner Zimmer« zum Beispiel, in dem Elke Naters aus ihrem neuen Roman »Mau Mau« las, ein Weinglas mit San Pellegrino neben sich. Seinen Ursprung hat das Buch in einer Erzählung, die in der Anthologie »Mesopotamia« veröffentlicht wurde, dem von Kiepenheuer & Witsch mittlerweile als »Avant-Pop-Reader« verkauften Initiationsband des neuen deutschen Pop.
In Leipzig herrscht ein angenehmes Überangebot. Wohin eilen, wohin nicht eilen? Die Leipziger Buchmesse ist ein Ereignis, kein Ort der Kontemplation. Stehenbleiben, Zuhören, Weitergehen, das ist der Besucherrhythmus. Sascha Anderson schilderte sein frühes Verhältnis zu Novalis (»ich war 16«). Der »Zeit«-Redakteur Christoph Dieckmann sprach über seine immer noch nicht versiegte Liebe zum Viertligaverein Carl-Zeiss-Jena und ohne Schnitt auch über seinen Auschwitz-Scharon-Artikel, der ihm im letzten Jahr den Vorwurf des Ost-Antisemitismus verschaffte.
Eine weitere Facette der Messe sind die »Round Tables«, die Diskussionsrunden. Man konnte zum Beispiel zuschauen, wie sich fünf Kulturmenschen über »Literatur im Fernsehen« stritten und nach Berührungspunkten zwischen beiden Medien suchten. Während Barbara Sichtermann vor ihrer aktiven Teilnahme an der Problemerörterung noch schnell die Lippen nachzog, erklärte der Verleger Michael Krüger misanthropisch gesinnt den Nachmittagstalk und Alfred Biolek in einem Atemzug zu Fernsehschrott und musste sich von Hubert Winkels et al. belehren lassen, dass seine Forderung nach mehr Kultur im Fernsehen realitätsfern sei.
Winkels »Büchermarkt«-Kollege Denis Scheck lachte sich scheckig, als der »aspekte«-Moderator Wolfgang Herles den neuen Roman von Philip Roth als »Lehrstunde in political correctness« deutete. Herrlich, hier werden die Feuilletonisten zu Menschen.
Die Lesungen von und Veranstaltungen um Günter Grass, Christa Wolf, Hermann Kant - geschenkt. Fernab dieser abgelebten Biographien wurden und werden immer noch Debütanten verschiedenster Art forciert. Zu beobachten in den Debütantenrunden in der Albertina, die langsam zur Tradition werden.
Nach Brussigs DDR-Spaßromanen gehen seine Nachfolger, André Kubiczek zum Beispiel, durchaus mit Abstraktionsgewinn ans Werk. Diese Stufe scheinen die russischen Altersgenossen noch nicht erreicht zu haben: Alexander Ikonnikow, dessen Bücher in Russland niemand verlegen will, steigt in Deutschland auf die Wladimir-Kaminer-Schiene ein und findet die Bücher seiner Mitdebütanten, »na ja, irgendwie sozialkritisch«.
Der (Fernseh-)journalist Norbert Kron ist gar kein richtiger Debütant, bei ihm bezieht sich das Debüt nur auf seinen ersten Roman. Bei seiner Lesung Freitag Nachmittag große Überraschung: Viel Publikum, aber alles Leseratten im Seniorenalter, die in die Autoren-Arena der Leipziger Volkszeitung einfielen. Woher das Interesse an einem Text, der die biologische Zeugungsunfähigkeit seines Protagonisten thematisiert? Nein, hier wartete der Günter-Grass-Fanclub und hatte sich schon über eine Stunde vor dem Erscheinen des Meisters die besten Plätze erhamstert. In diese Rentnerrunde hinein las Kron dann einen sexuell expliziten Auszug aus »Autopilot«.
Die Debütantenhysterie ist nun schon einige Jahre alt. Anke Stellings und Robby Dannenbergs neues Roman-Duett ist eine gute Gelegenheit, einmal zu prüfen, was eigentlich mit den Nachfolgebüchern wird. Als Intro für ihre »Book-Release-Party« flimmerte auf der Leinwand in der Schaubühne Lindenfels eine Homestory, »gedreht nach den Dogma-Regeln«, die eine Hommage ist an die überstrapazierte Interviewfrage: »Wie schreibt es sich denn zu zweit?« Und obwohl das neue Buch doppelt so lang ausgefallen ist wie das erste, haben die beiden ein realistisches Empfinden für die zumutbare Dauer einer Lesung, zwanzig Minuten, und das zu zweit. So muss es sein.
Vom Anfang und bis zum Ende der Messe geisterte ein Name durch alle Veranstaltungstage: Juli Zeh. Am Mittwoch bei der Fernsehaufzeichnung der Dauerwerbesendung »Willkommen im Club« in der Moritzbastei widerstand sie Gaby Hauptmanns Boulevardfragen, am Donnerstag nahm sie den Bücherpreis für das beste Debüt entgegen, dann am Freitag zeigte sie sich mit ihrem Romandebüt frisch und heiter bei Lesungen, und am Sonntag las sie aus ihrem unveröffentlichten Manuskript über eine Reise nach Bosnien im letzten Jahr, das im Mai erscheinen soll.
Juli Zehs Auftritte bezeichnen gleichzeitig die beiden Pole der Präsentation von Autoren und Büchern: einerseits die Produktwerbung im Fernsehen, andererseits die klassische Dichterlesung.
Und wenn auch die als Ersatz für das »Literarische Quartett« angetretene »Willkommen im Club«-Sendung keinen Ansprüchen gerecht wird, so ist mit dem Namen Bertelsmann doch eine gute Nachricht verbunden: »Leipzig liest«, so hört man, ist für die nächsten drei Jahre gesichert. Es gibt keine Entschuldigung: Leipzig ist Pflicht.