NICHT DIE SPROTTE
IM MAUL DES RIESEN!
Neue Lyrik jüngerer Autoren.
In den letzten Jahren, will man den großen deutschsprachigen Verlagen glauben
schenken, sind die wirklichen Talente an neuer Dichtung weitestgehend ausgeblieben. Wie anders ließe es sich erklären, daß pro Jahr höchstens zwei bis drei
LyrikerInnen der Sprung in den Literaturbetrieb gelingt; die schlechten Verkaufszahlen für Gedichte als bekannt vorausgesetzt bzw. als Dauerargument vorgeschoben; während im Bereich des Erzählerischen Dutzende von mehr oder weniger
unausgegorenen Debütanten auf den Markt geschwemmt wurden, die kaum mehr
Leser finden (können), als eigentlich gut ist.
Selbst den wenigen jüngeren Autoren, die in den letzten paar Jahren in den
Schoß der Suhrkamps DuMonts usw. und Bertelsmann-Kleinablegern aufgenommen wurden, steht eine einigermaßen unsichere Zukunft bevor.
Was an neuer Lyrik der 70er Generation (noch) wahrgenommen wird, ist schnell
erkannt und genannt und soll an dieser Stelle nicht repetiert werden.
Es schmeichelt dieser handvoll AutorInnen wenig, daß sie im besten Fall mit guten
und/oder schlechten Kritiken bedacht werden, da Ihnen der Wettbewerb fehlt und
für den Leser der Literaturseiten der Einblick, wozwischen man auswählen könnte.
Die eigentliche Lyrikproduktion muß demnach in kleineren/kleinsten Verlagen stattfinden, die mitunter nicht einmal mehr einige Buchläden erreichen und von anderen
"Vertriebsstrategien" leben, d.h. wenn überhaupt, mit Glück und Geschick überleben.
Die LYRIKEDITION 2000 hat es sich auf die Fahne geschrieben, neben wiederaufgelegten, vormals vergriffenen Gedichtbänden auch zwei junge Lyriker pro Jahr
mit ihrem Debüt vorzustellen, leider mit dem begründeten Mißerfolg des Books on
Demand, d.h. Engagement,- und Risikominimierung statt Marketing und Präsenz.
Nichtsdestotrotz gehören die Gedichtbände ES GIBT HIER KEINE KÜSTENSTRASSEN von Björn Kuhligk (Jg. 75) sowie CRAUSSTROPHOBIE des Siegener
Dichters Crauss (Jg. 72) - beide 2001 erschienen - zu den bemerkenswertesten
Erstlingen der letzten beiden Jahre.
So stellt Björn Kuhligks o.g. erster Gedichtband eine substantiell ergiebige
Sammlung seiner Texte seit Mitte der 90er Jahre da, die zu einem guten Teil
eine Wiederbelebung des politischen Gedichts markieren. Kuhligk, geprägt
z. B. vom (urbanen Berliner) Expressionismus eines Alfred Lichtenstein, stellt
seine Verse thematisch bewußt in den öffentlichen Raum: auf Straßen, Bahnhöfe
und Abrißviertel, in Kneipen und Absturzläden:
"auf der Bornholmer Brücke/
zwischen Rinnstein und Imbiss/steht ein Mädchen und nimmt/ … dem Himmel
die Unschuld/(und wenn sie gelitten haben, kommt/das Urlaubsgeld, war es
dann gut)" (BORNHOLMER BRÜCKE. DEZEMBER)
Björn Kuhligks Gedichte handeln oft von einem Nichtmehrzurechtfinden des Einzelnen, dem Ausgang in die Leere: Geschichte, in die Tat(en) der Verzweiflung:
" … wir tranken, lachten und waren glücklich/unsere Geschichte kam immer im
Liegen/zwischen Information und Inferno/so bestellten wir Felder/wer abends weinte,
rief die Zeitansage an" (MEIN BERLINER REQUIEM)
Doch auch in die Tat der (un)möglichen Liebe, die Raum und Zeit, Geschichte und Gegenwart, aufzuheben
vermag:
" … ob ich dich treffen kann/auf der anderen Seite des Schlafes/immer
schleichst du dich davon//und ich allein/mit der Ungewißheit/zu träumen nach dir//
blaue Verkehrsschilder/leuchten ein Bild/auf meine Stirn//(die Warteschleife, weißt
du)//auf deinen Wangen/ruht sich der Beischlaf aus" (PARIS IST EINE FAHNE)
Vielleicht läßt sich Kuhligks Insistieren auf Zukunftslosigkeit, die er mittlerweile
als Möglichkeitsform sieht, mit der Poetik des folgenden Gedichtes erklären:
"Dem Faden der Küste nach/wie Friedrichs Mönch am Meer//den Mund voll
Sekt/die Hände bleiben leer//die Vögel tragen aus/was nirgends Ankunft fände//
in meinen Texten gibt es/keine Wahrheit …//der Boden, auf dem ich geh/hinterläßt sich dem Wasser" (HIDDENSEE IM GEWITTER 2)
Der unter dem gelinde gesagt affektierten Titel CRAUSSTROPHOBIE (Texte &
ReMixes) erschienene Band des Dichters Crauss nimmt sich auf den ersten
Blick seltsam aus, wenn man der Ankündigung glaubt, es handele sich hier persé
um Experimentalliteratur. Im Gegenteil sind gut die Hälfte Gedichte, die einem
starken traditionellen Bezug folgen, sei es lithurgischen Anklängen und balladesken
Tönen:
".. hör, wie hinter dieser stadt der wind die welt/zum meer macht.//du bist
ein bandit und ich bin einer. schmal/die gesten, ungelenk dein mund …//wir gehn
wie zwei, die lang kein land sahn/auseinander, und der knoten löst sich/in den
striemen, die der zufall uns ins herz/schlägt …" (YOU WILL NOT BE ABLE TO
STAY HOME, BROTHER)
Beinah Villon´sche Liedhaftigkeit zeigen einige der
Gedichte, deren Ton der gute Crauss immer wieder zu brechen vermag, in dem
er sie mit Absurdem, krudem Witz und manchmal einem Hauch Kitsch versieht.
Seine schönsten, eingängigsten Gedichte (wie: JETZT HABEN DIESE ABENDE
oder DRAUSSEN WARTET DIE NACHT) sind zudem seine unaufwendigsten:
"im gespräch und/unterwegs vergess ich, dass die zeit jetzt dunkler wird/und
dass demnächst die jungen in der jebensstraße dichter/stehen, während kräne/
sich beschwerlich in die erste helle drehen, bis bald der/tauentzien gefegt wird."
(HERBST IN DER STADT)
Überdies ist die starke Affinität der Gedichte zu
(vielfältigster) Musik nicht zu übersehen:
" … ein innehalten dann das sample
eines seemanns der im wind/hierher/ein rendezvous ausmacht mit uns? mit uns
& strandend laut/ein saxophon das saxophon/der stadt" (DAS SAXOPHON DER
STADT)
Crauss als Einmannband zwischen Walzer,- und Polkazeit? Ja auch,
aber nicht nur. Die überwiegend im hinteren Teil des Bandes enthaltenen Remixe
(Bearbeitungen von eigenen und fremden Texten) haben vornehmlich eine Funktion
als Lese- und (bei Crauss als fulminante) Vortragstexte. Insgesamt ergibt sich jedoch dadurch ein unhomogener Eindruck des Bandes.
Im Spätherbst 2002 ist zudem mit Adrian Kasnitz´ REICHSTAG BEI REGEN
ein weiterer Band in der LYRIKEDITION 2000 erschienen, dem eine größere Beachtung angemessen wäre. Kasnitz, ´74 geboren und in Köln lebend, schreibt vom
Alltäglichen her. Viele seiner Gedichte sind Skizzen und Porträts, die eigene und
fremde Biographie als den (eigentlichen) Glutkern literarischen Versuchens begreifen. Aus Nähe und gleichzeitig (notwendig)er Distanz gelingen Adrian Kasnitz
in seinen besten Gedichten Texte, die als "Wahrheit der eigenen Schritte" bezeichnet werden können:
"die fische/im fluß dunajec/sagen mir nichts//ich
habe gegessen/es war nicht teuer//ich habe immer/den schatten gesucht/
das habe ich nun davon//ob man polnisch spricht/oder lieber schweigt//alles
wird früher oder später/mit dem fluß fortgerissen//dann treibt ein angebissener/
apfel im gelblichen wasser//die fische sehe ich nicht" (ELEGIE AM FRÜHEN
NACHMITTAG)
Wie in wenigen Versen das Geheimnis unserer Existenz
transparent wird, zeigt eben dieses Gedicht auf (unaufwendig) eindrucksvolle
Weise. Mittels eigentümlichen Humors und nach dem Ende der Ironie, worauf
wiederum Humor und eigentümliche Ironie folgen, die ich Adrian Kasnitz (auch
weiterhin) wünsche wider die
Ehrenfelder Larmoyanz: "du legst dein gesicht/
in eine verregnete backstein/fassade/sie rührt sich nicht//das klingelzeichen
hörbar/die tür gibt nicht nach/als öffnete sie sich nur jubel/jahre/heim//kehren
im nässefilm/den abzuschütteln hieße …/am heizkörper wiegst den den kopf/
über grimms wörterbuch band v./denkst an gefoppe bis getreibs".
Der ebenfalls in Köln ansässige René Hamman (Jg. 71) ist zum Jahresende
mit dem Gedichtzyklus KATALAN in der rührigen parasitenpresse vorstellig geworden. Der Zyklus umfasst allessamt Reisegedichte: als eine Art
lyrischen Diskurs über einen, wie am Titel ersichtlich, Aufenthalt im spanischen
Katalonien; und das in durchaus anschaulichen Versen:
"als ich dich dann sah:
das totale meer. oder das abstrakte eher: das tosen, das tösen, die dosen von
dir. im mantel der streunermafia …" (AUCHSTATION)
Hamann vertraut einer lyrischen Fotomontage und schneidet (gekonnt) aus einzelnen Aufnahmen ein "filmverwandtes" Gedicht mit eingeschobenen Reflektionsebenen und Begriffsstudios, die (unterschwellig) auf Brinkmann
"stadt: da lief ein zum
glück/mitgeschnittener film ab …"
und Blumfeld:
"ein weiteres mal das ende/der
resourcen der geschichte"
verweisen.
Bisweilen vielleicht ein wenig zu (rhetorisch) parlierend, finden sich doch eine Reihe
gelungener Zeilen wie die beim "durchkauen der stadt" in ABSTAND 1 -
" … die lichter der apotheken … weisen/pärchen mit schwebenden lasten auf/den weg & ein andrang saugt sie/in die umstehenden häuser staub &/stundenlange leere in den
körpern/ … die sprachen/der empirie jenseits der referenz/geisterbahnen & feuchte
tücher"
- die Hamanns Zyklus zu mehr als einem respektablen Einstand machen.
Im gleichen Format sind ab sofort Gedichte des Berlin-Jenenser Lyrikers Ron
Winkler (Jg. 73) zu besichtigen, die eher dem chirurgischen Endzeitvokabular
eines Durs Grünbein verwandt sind. Bereits im ersten Gedicht BERICHT VON
DER EIGENEN GATTUNG heißt es:
"im Raster der Pilosophen warst du/meist
verloren, ein Nichts, das sich/greifen lässt. Knochengraben und Heerschar …"
Winklers Versuch, Abstrakta mit eindringlichen Bildern zu verbinden, zeigt sich
u.a. im poetologischen Ansatz, Scheitern als Schreiben zu begreifen, das auf
Veränderung aus ist:
" … was nicht aufhört, später im Warten auf/ … der einen nicht
kennt,/der ungehemmt seine Steine berichtet,/deine Adern bricht, die Augen// …
schon in der ersten Zeile/schreibst du die zweiten, die Wunden/auf einem zeitlich
begrenzten Text//und es verliert sich das Trauma im Körper:/die Feder das
Messer, das Fleisch". (DIE FEDER DAS MESSER, DAS FLEISCH)
Einen Ausweg, den eigenen Textstrategien zu entgehen, beschreitet das Gedicht
BRÜSTUNG DES SOMMERS, das sich ausnehmend leicht, vom Kopfdruck befreit, in sinnlichere Gefilde begibt:
" … versammelt unter den Inseln aus Sonnen-/
licht zwischen Wolkenriffen, die ihr Grau sendeten/von geschwellten Brüsten,
schweren Gewölben.// … um zu sehen,/zum Beispiel, des Flusses Ungeduld,
gerade flügge/gewordene Wellen auf der Suche nach einem Strand.//"
- und
endend:
" … vergiss die Uhr in der Tasche, es ist Sonntag, auf/der Brüstung zum
Kanal sitzen wie Ornamente Tauben,/kleine stahlgraue Päpste, die sich ausruhn."
Im Titel des Bandes VIELLEICHT INS DENKMAL GESETZT steckt der (berechtigte) Zweifel, ob sich Geschichte mittels des Gedichts erfassen und (be)werten läßt.
Mitunter macht das (betont) Rationale einiger Texte nicht unbedingt ihre Stärke aus.
Als einer der produktivsten Lyriker unter den jüngeren Autoren muß Gerald Fiebig,
1973 geboren, genannt werden. Bereits gut ein Jahr nach dem im YEDERMANN
Verlag (München) erschienenen Gedichtband ERINNERUNGEN AN DIE 90ER
JAHRE legt Fiebig im Innsbrucker Skarabäus Verlag mit NORMALZEITeinen weiteren Titel nach, der eine Verfeinerung seiner bisherigen Schreibweise darstellt. Waren Gerald Fiebigs Gedichte mitunter von einer bildlichen und gedanklichen Überladenheit und damit einer gewissen Sperrigkeit, überwiegen in dem neuen
Band einfachere, zugänglichere Strukturen:
"es wird herbst: jeden tag geht man
früher nach hause./aus der virtuellen in die horizontale realität. die meisten/kolleg
(innen/oder außen) sind gekündigt, urlaubsreif oder tot - oder beides./wer jetzt
nicht frei nimmt, wird es auch nicht mehr.// … auf den täglichen wegen zwischen
den leeren büros/kaust du dir am tag acht fingernägel ab. feierabends auf dem
weg/zur bahn/erscheinen sie dir am himmel als neonleuchtkörper." (FRANKFURTER RING/AUFFAHRT A9)
Wie kaum ein anderer seiner dichtenden Kolleg(inn)en versteht Fiebig das Gedicht als eine Möglichkeit, (Un)wirklichkeiten zum
Sprechen zu bringen, die über sich selbst und die Verlassenheit des Autors hinausweisen:
"wenn sich der morgen erbricht, ziehe ich meine haut/von deiner
betthälfte weg. auf dem weg in die arbeit/sehe ich, wie der grob gerasterte himmel/ausbelichtet wird.// … jeder tag ist ein langsames nervengift./die schrift auf
jeder packung behauptet,/rauchen & schwangerschaften schlössen sich aus./
es gibt keinen bildschirmschoner für die leere zeit/in meinem überbelegten gedächtnis, wenn der computer/die bilder abspeichert, die ich eingescannt habe."
(HERSTELLERSEITIG)
Gerald Fiebigs Gedichte zeigen eine Bewegung an, weg
von den Zentren, hin zu einer möglichen Geschichte von Menschen (nicht von
Staaten), die jedoch die (makabre) Ironie miteinschließt, man könnte den Bahnsteig
verlassen haben, ehe es Gleise gibt und Züge:
"die erde zerfällt in sieben kontinente/& drei ozeane oder waren es fünf/& die frau auf
dem bahnsteig zerfällt//in sandalen & beine/& zehennägel & lack//& ein fitnessmagazin & ein dazuge/höriges beiheft noch bevor man ihr das/gesicht aus der tasche ziehen kann//weht der einfahrtwind die zug/luft riecht nach italien erinnert".
(LES DEMOILLES D´)
Alle die hier vorgestellten Autoren, bis auf Björn Kuhligk, der mittlerweile bei einem
größeren Verlag einen weiteren Gedichtband (AM ENDE KOMMEN TOURISTEN,
Berlin 2002) veröffentlichen konnte, sind gewissermaßen einer Generation im
Wartestand zugehörig, die erst noch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden muß. Andere vielversprechende jüngere DichterInnen wie Daniela
Seel, Monika Rinck, Daniel Falb oder Steffen Popp, um nur einige zu nennen, müßten mit ihren Gedichten längst mehr als nur in Zeitschriften veröffentlicht sein.
Es liegt an den Bedingungen des Marktes, die nur von klugen Verlegern und den
entsprechenden Medien ad absurdum geführt werden könnten; daß in Deutschland
Gedichte wieder zum Alltag gehören: einer Tradition folgend, die es auch weiterhin
zu behaupten gilt.